OGH 1Ob45/16y

OGH1Ob45/16y21.6.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen L***** M***** S*****, geboren am ***** 2014, über die außerordentlichen Revisionsrekurse der Mutter S***** M***** S*****, vertreten durch Mag. Florian Kucera, Rechtsanwalt in Wien, und des Vaters M***** M***** S*****, vertreten durch Mag. Petra Trauntschnig, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 26. Jänner 2016, GZ 44 R 17/16z‑144, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 1. Dezember 2015, GZ 30 Ps 145/14p‑123, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0010OB00045.16Y.0621.000

 

Spruch:

Den außerordentlichen Revisionsrekursen wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

 

Begründung:

Der Minderjährige kam am 7. 9. 2014 nach einer schwierigen Geburt zur Welt, erholte sich aber innerhalb der ersten zwei bis drei Tage nach der Geburt gut.

Bei einer kinderärztlichen Untersuchung am 23. 10. 2014 wurde eine überdurchschnittliche Größe des Kopfes festgestellt (Makrozephalus), was sich bei der Folgeuntersuchung vom 25. 11. 2014 bestätigte. Bei dieser bemerkte der behandelnde Kinderarzt auch ein sogenanntes „Sonnenuntergangsphänomen“. Dieses beschreibt einen Vorgang, bei dem die Iris unter den unteren Lidrand rutscht, und einen Hinweis auf einen erhöhten Hirndruck sein kann. Der Kinderarzt empfahl, unverzüglich eine Schädelsonographie durchführen zu lassen, und händigte den Eltern eine Überweisung an das Wilhelminenspital aus. Anzeichen von Hämatomen oder Flecken nahm der Kinderarzt bei dieser Untersuchung nicht wahr.

Am 1. 12. 2014 begaben sich die Eltern mit dem Minderjährigen in das Wilhelminenspital, wobei die noch an diesem Tag durchgeführte Schädelsonographie Hinweise auf eine subdurale Blutung beidseitig und unterschiedlichen Alters sowie eine Subarachnoidalblutung beidseits ergab. Der augenärztliche Befund zeigte beidseits mehrere streifenförmige retinale Blutungen. Die MRT‑Untersuchung vom 5. 12. 2014 bestätigte den Verdacht der Schädelsonographie und zeigte bereits Flüssigkeitsansammlungen über beide Großhirnhemisphären. Darüber hinaus konnten beim Minderjährigen beidseits temporale Hämatome im Jochbeinbereich festgestellt werden. Hinweise auf Frakturen fehlten.

Die Einblutungen in der Hirnhaut sind zumindest auf einer Seite in zwei zeitlichen unterschiedlichen Abschnitten aufgetreten. Es ist möglich, dass eine Druckerhöhung im Kopf, aus welchen Gründen auch immer, eine solche subdurale Blutung auslösen kann. Aufgrund des schwierigen Geburtsvorgangs kann nicht ausgeschlossen werden, dass es im Zuge der Geburt zu einer ersten kleineren Blutung gekommen ist. Eine solche geburtstraumatische Blutung kann nach vier bis sechs Wochen zu einer Nachblutung führen, ohne dass von außen einwirkende Kräfte vorliegen. Die beidseitigen Subduralhämatome können zwar nicht direkt einem Geburtstrauma zugeordnet werden, sind aber möglicherweise Folge eines erstmalig aufgetretenen Hämatoms bei der Geburt. Der Anstieg des Kopfumfangs im Verlauf von sechs Wochen spricht für diese Möglichkeit. Es kann aber auch ein ‑ atypisches (weil Frakturen fehlen) ‑ Schütteltrauma nicht ausgeschlossen werden.

Die Hämatome im Jochbeinbereich sind Folge stumpfer Gewalt. In Frage kommen kräftige Schläge mit einem Finger, ein Sturz auf einen entsprechend geformten Gegenstand sowie heftiges Zwicken. Da das Kind ausschließlich von den Eltern betreut wurde, sind die Hämatome entweder auf eine Fremdeinwirkung durch einen Elternteil oder aber auf zwei Sturzgeschehen, die dann aber nahezu gleichförmig abgelaufen sein müssten, zurückzuführen.

Im Strafverfahren wurden die Elternteile von den gegen sie erhobenen Vorwürfen freigesprochen.

Nennenswerte Auffälligkeiten in der Persönlichkeit von Vater oder Mutter, die auf eine Neigung zur Gewalttätigkeit hindeuten würden oder die Erziehungsfähigkeit einschränken könnten, liegen nicht vor. Aus psychologischer Sicht liegt bei den Eltern keine Anlage vor, die eine Misshandlung oder Vernachlässigung sehr wahrscheinlich macht. Der Vater zeigt in Belastungssituationen zeitweise zwar Anzeichen einer Einengung im Denken, Unruhe und Verärgerung, aber nicht in einem Ausmaß, das einen Kontrollverlust nahelegen würde. Lediglich für einen Fall ist dokumentiert, dass der Vater den Minderjährigen während des Krankenhausaufenthalts „zwar liebevoll, aber auch nicht ganz leicht“ in die Wange kniff.

Da aufgrund des bei der Aufnahme in das Krankenhaus festgestellten Befundes Misshandlungen nicht ausgeschlossen werden konnten, entzog der Kinder‑ und Jugendhilfeträger am 3. 12. 2014 im Rahmen seiner Interimskompetenz der Mutter (und deren damaligem Ehemann ‑ die Mutter ist mittlerweile mit dem leiblichen Vater des Kindes verheiratet) die Pflege und Erziehung für ihren Sohn und beantragte, mit der Pflege und Erziehung betraut zu werden.

Nachdem die Mutter am 30. 12. 2014 beantragt hatte, die Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers für unzulässig zu erklären, wurde diese mit Beschluss vom 25. 2. 2015 vorläufig für zulässig erklärt. In der Folge beantragte der Kinder‑ und Jugendhilfeträger, ihn mit der gesamten Obsorge zu betrauen.

Das Erstgericht wies den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers, den Eltern die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung zu entziehen und damit den Kinder- und Jugendhilfeträger zu betrauen sowie dessen Antrag, den Eltern die gesamte Obsorge zu entziehen und damit den Kinder- und Jugendhilfeträger zu betrauen, ab (Punkt 1.). In Punkt 2. seiner Entscheidung hob es die vom Kinder- und Jugendhilfeträger gesetzte Maßnahme der Übernahme der alleinigen Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung auf. Es beauftragte den Kinder- und Jugendhilfeträger nach Maßgabe des Kindeswohls und nach vorangegangener, dem Kindeswohl entsprechender Ausdehnung der Kontakte mit der Rückführung des Kindes zu dessen Eltern innerhalb eines Zeitraums von zehn Wochen (Punkt 3.) und erteilte den Eltern umfangreiche und detailreiche Auflagen unter gleichzeitiger Einbindung des Kinder- und Jugendhilfeträgers (Punkt 5.), unter anderem zur Unterstützung der Eltern und des Kindes bei der Rückführung und zur Kontrolle der angeordneten Auflagen und Maßnahmen (Punkte 4.a-4.f).

In rechtlicher Hinsicht ging es davon aus, dass eine endgültige Übertragung der Obsorge nur angeordnet werden dürfe, wenn dies im Interesse des Kindes zur Abwehr einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls dringend und zwingend geboten erscheine, wobei dieser Eingriff das letzte Mittel darstellen müsse. Weder für die Subdural- und Retinalblutungen noch für die Hämatome fände sich eine eindeutige Verletzungsursache, weswegen diese auch nicht mit ausreichender Sicherheit ursächlich den Eltern zugeordnet werden könnten. Zwar habe der Verdacht der Fremdeinwirkung durch einen oder beide Elternteile oder durch beide gemeinsam nicht gänzlich ausgeräumt werden können; verbleibende Risiken könnten jedoch durch die angeordneten Auflagen als gelindere Mittel abgewendet werden.

Wegen des zwischenzeitig erfolgten Wechsels des Kindes von seiner ehemaligen Krisenpflegemutter sei der als das Kindeswohl beeinträchtigend anzusehende Bindungsabbruch bereits vollzogen. Auch könne durch die Rückführung die erschwerte Identitätsfindung vermieden werden.

Das Rekursgericht änderte diese Entscheidung über Rekurs des Kinder- und Jugendhilfeträgers ab. Es entzog den Eltern die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung und betraute in diesem Bereich den Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Obsorge. Darüber hinaus, nämlich im Umfang des Antrags, den Eltern die Obsorge über die Pflege und Erziehung hinaus zu entziehen, hob es die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache insoweit an das Erstgericht zurück.

In rechtlicher Hinsicht führte es aus, eine nachhaltige Verletzung des Gewaltverbots begründe eine Gefährdung des Kindeswohls, wobei jedenfalls bei besonders schwerer Misshandlung nicht erst die erwiesene Mitwirkung des Elternteils daran einen Grund für die Entziehung der Obsorge darstelle, sondern - zur Vermeidung einer extremen Gefährdung des Minderjährigen - schon ein qualifizierter, auch durch umfassende Beweisaufnahmen nicht auszuräumender Verdacht. Könne bis zur Beschlussfassung in erster Instanz eine verlässliche Prognose über die Eignung der Eltern ohne detaillierte Auseinandersetzung mit den Ursachen für die Verletzungen der Minderjährigen nicht erfolgen, gingen verbleibende Zweifel im Obsorgeverfahren zu Lasten der Obsorgeberechtigten. Bei Art und Ausmaß der vom Minderjährigen erlittenen Verletzungen ginge es nicht an, die Obsorge einem Elternteil zu überlassen, hinsichtlich dessen der Verdacht besteht, für diese Verletzungen (mit-)verantwortlich zu sein. Dem Schutz des Kindes sei Vorrang gegenüber einem Nichteingriff in die Obsorgerechte eines Elternteils einzuräumen.

Die Eltern des Minderjährigen hätten keine nachvollziehbare Erklärung für die Blutergüsse im Bereich des Jochbeins beidseits geben können, weswegen der qualifizierte Verdacht ihrer (Mit-)Beteiligung bzw zumindest eines Elternteils am Entstehen dieser Hämatome bestehe. Auch stehe ein Schütteltrauma als Ursache für die Einblutungen im Gehirn im Raum. Zweifel an der Verletzungsursache und Mitbeteiligung gingen im Obsorgeverfahren zu Lasten der Eltern. Es könne auch nicht seriös abgeschätzt werden, ob rationale Überlegungen in Verbindung mit erteilten Auflagen durch Kontrollverlust gekennzeichnete Impulsdurchbrüche in Hinkunft zu verhindern vermögen. Die Ansicht des Erstgerichts, einem allenfalls verbleibenden Restrisiko könnte durch die Erteilung von Auflagen im Sinne des § 107 AußStrG begegnet werden, könne daher nicht geteilt werden.

Dagegen richten sich die außerordentlichen Revisionsrekurse der Eltern, jener der Mutter mit dem Antrag, die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag. Das Rechtsmittel des Vaters formuliert zwar einen Aufhebungsantrag, inhaltlich strebt er jedoch ebenfalls die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses an.

Der Kinder- und Jugendhilfeträger hat von der ihm durch den Obersten Gerichtshof freigestellten Möglichkeit Gebrauch gemacht und eine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionsrekurse sind zulässig, weil dem Rekursgericht eine auch im Einzelfall zu korregierende Fehlbeurteilung unterlaufen ist; sie sind auch berechtigt.

1. Bereits das Rekursgericht hat zutreffend darauf verwiesen, dass gemäß Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO iVm Art 1 Abs 1 lit b und Art 15 Abs 1 KSÜ Österreich international zuständig und österreichisches Recht als lex fori maßgeblich ist, weil das Kind den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (2 Ob 153/12g = RIS‑Justiz RS0127234 [T1]).

2. Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS‑Justiz RS0048632). Die Entziehung der Obsorge nach § 181 ABGB darf als äußerste Notmaßnahme nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung notwendig ist (RIS-Justiz RS0085168; RS0048712; 4 Ob 48/14p = RS0047841 [T21]).

Eine Kindeswohlgefährdung ist schon dann gegeben, wenn die Eltern ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen. Sie muss daran weder ein Verschulden treffen (RIS-Justiz RS0048684), noch ist notwendig, dass sie die elterliche Gewalt geradezu missbrauchen (RIS-Justiz RS0048633). Maßgeblich für die Beurteilung ist der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung (RIS-Justiz RS0106313).

3.1 Dass die beim Minderjährigen festgestellten subduralen Blutungen und die Subarachnoidalblutung beidseits, wären sie Folge eines - hier, weil Frakturen fehlen, atypischen - Schütteltraumas, einen Grund für die Entziehung der Obsorge darstellen würden, wenn dieses von einem Elternteil selbst oder mit dessen Wissen vom anderen verursacht worden wäre, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Hier steht aber gar nicht fest, dass diese schwerwiegenden Verletzungen des Kindes Folge einer Misshandlung sind. Zumindest ebenso wahrscheinlich ist nach den Feststellungen ein schicksalshafter Verlauf nach einer schweren Geburt. Dafür spricht insbesondere der Anstieg des Kopfumfangs im Verlauf von sechs Wochen nach der Geburt. Damit unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt ganz wesentlich von dem zu AZ 6 Ob 18/09d entschiedenen Fall, auf den sich der Kinder‑ und Jugendhilfeträger in seiner Revisionsrekursbeantwortung beruft. Dort stand fest, dass die Verletzung des Minderjährigen eine Folge von Gewalteinwirkung war; Zweifel bestanden nur hinsichtlich der Verantwortlichkeit der Mutter (vgl dazu auch Beck, auch zu 6 Ob 18/09d, EF-Z 2009/118; dies, Kindschaftsrecht2 Rz 573.3). Daher wurde in dieser Entscheidung ausgesprochen, dass jedenfalls bei besonders schwerer Misshandlung nicht erst die erwiesene Mitwirkung des Elternteils daran einen Grund für die Entziehung der Obsorge darstellt, sondern - zur Vermeidung einer extremen Gefährdung des Minderjährigen - schon ein qualifizierter, auch durch umfassende Beweisaufnahmen nicht auszuräumender Verdacht. Diesen Grundsatz hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 6 Ob 48/10t (RIS‑Justiz RS0047973 [T3]) wiederholt, der ebenfalls zugrunde lag, dass an der Misshandlung selbst kein Zweifel bestand.

3.2 Im vorliegenden Fall konnte wegen der Verletzungsart zwar auch nach einem umfangreichen Beweisverfahren mit mehreren Sachverständigengutachten die Möglichkeit eines Schütteltraumas als Ursache für die Einblutungen im Gehirn, nicht ausgeräumt werden. Eine qualifizierte Verdachtslage, dass diese Verletzungen tatsächlich auf eine von den Eltern zu vertretende Gewalteinwirkung zurückgeführt werden können, besteht jedoch entgegen der Ansicht des Rekursgerichts nicht. Verletzungen, die typischerweise mit einem Schütteltrauma einhergehen, waren beim Minderjährigen nicht gegeben. Auch der von den Eltern bis wenige Tage vor dessen stationärer Aufnahme wiederholt konsultierte Kinderarzt konnte keine Zeichen für eine Gewalteinwirkung erkennen. Demgegenüber spricht der zeitliche Ablauf für einen schicksalshaften Verlauf, sodass nach Ansicht des erkennenden Senats kein Raum verbleibt, die in der Rechtsprechung bisher für Fälle, in denen Zweifel an einer Misshandlung nicht bestanden, vertretene Zweifelsregel auch auf den vorliegenden Fall mit der Wirkung anzuwenden, dass aufgrund der Einblutungen im Gehirn zu Lasten der Eltern eine qualifizierte Verdachtslage anzunehmen und mit dem Entzug der Obsorge vorzugehen wäre.

3.3 Ein Zusammenhang der Einblutungen im Gehirn mit den beim Minderjährigen festgestellten Hämatomen im Bereich des Jochbeins beidseitig liegt nach den Feststellungen nicht vor. Bei diesen Verletzungen ist dem Rekursgericht darin zuzustimmen, dass es wegen der festgestellten Betreuungssituation geradezu denkunmöglich ist, dass keiner der beiden Elternteile Kenntnis von der Ursache dieser beiden Verletzungen hatte, und beide Elternteile keine nachvollziehbare Erklärung für diese beiden Verletzungen zu geben vermochten. Damit verblieb insoweit der qualifizierte Verdacht der (Mit-)Beteiligung zumindest eines Elternteils weiter bestehen, der zu ihren Lasten geht. Zutreffend weisen die Revisionsrekurswerber aber darauf hin, dass der Entzug der Obsorge nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs in Betracht kommt (7 Ob 126/07s = RIS‑Justiz RS0047903 [T9] und die oben zu 2. zitierten Richtsätze) und nicht außer Verhältnis stehen darf, sieht doch § 182 ABGB vor, dass das Gericht die Obsorge durch eine Verfügung nach § 181 ABGB nur soweit beschränken darf, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes nötig ist (vgl auch 5 Ob 227/07d).

4.1 Ausgehend von diesen Grundsätzen rechtfertigen die Feststellungen des Erstgerichts die vom Rekursgericht vertretene Annahme einer nicht anders als durch eine Entziehung der Obsorge abwendbaren Gefährdung des Kindeswohls nicht:

4.2 Ganz allgemein gelten für Maßnahmen des Gerichts nach § 181 ABGB die Grundsätze der

Verhältnismäßigkeit (5 Ob 227/07d; 5 Ob 63/13w) und der Erforderlichkeit im Sinne des gelindesten Mittels (§ 182 ABGB).

Auch die vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzten Interimsmaßnahmen müssen diesen Grundsätzen entsprechen (8 Ob 13/15t). Der Grundsatz der Wahrung des durch Art 8 EMRK geschützten Rechts der Eltern auf

Obsorge für ihre Kinder ist für den Wirkungsbereich der öffentlichen Jugendwohlfahrt auch in § 2 Z 5 B-KJHG 2013 verankert.

4.3 Der Minderjährige wurde als Säugling im Alter von nicht ganz vier Monaten durch die vom Erstgericht bestätigte Maßnahme des Kinder- und Jugendhilfeträgers der

Obsorge seiner Eltern entzogen und ist seit nunmehr etwa 18 Monaten bei wechselnden Pflegeeltern untergebracht. Selbst wenn die Eltern mit der Betreuung eines Säuglings möglicherweise überfordert gewesen sein sollten, und die Hämatome Folge einer darauf zurückzuführenden Handlungsweise oder Unterlassung sein sollten, muss dies nicht notwendigerweise gleichermaßen für ein Kind im angehenden Kindergartenalter gelten (1 Ob 37/16x). Dementsprechend gilt es hier besonders zu berücksichtigen, dass den Eltern durch die dem Verfahren beigezogene Sachverständige attestiert wird, erziehungsfähig zu sein. Auch liegt bei ihnen aus Sachverständigensicht grundsätzlich kein hohes Misshandlungsrisiko vor. Schwerwiegende Erziehungs- und Betreuungsmängel oder eine erhöhte Gewaltbereitschaft sind demnach nicht zu erwarten. Auch der Umstand, dass die Eltern der Überweisung des Kinderarztes zur Vornahme der Sonographie nicht unverzüglich Folge leisteten, lässt keinen Schluss auf eine generell fehlende Erziehungsfähigkeit zu.

5. Die Abschätzung, ob einem (hier Klein-)Kind durch den Verbleib bei den Eltern unmittelbare und ernstliche Gefahr für seine körperliche und psychische Entwicklung droht, ist eine Zukunftsprognose mit den einer solchen zwangsläufig anhaftenden Unsicherheiten. Das auch im vorliegenden Fall gegebene Restrisiko vermag in Anbetracht der jedenfalls nicht als negativ einzustufenden Prognosen die vom Rekursgericht angeordnete Maßnahme nicht zu rechtfertigen. Der Entzug der Obsorge kommt eben nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs in Betracht. Fehlen daher ausreichende Zurechnungsmomente, um zu Lasten der Eltern eine schwere Misshandlung und daraus resultierend ein Schütteltrauma anzunehmen, und fehlt es an Anhaltspunkten für die Annahme schwerwiegender Erziehungs- und Betreuungsmängel, erweist sich der Entzug der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung wegen der den Eltern unzweifelhaft anzulastenden Hämatome als unverhältnismäßig. Verbleibenden Risiken ist tunlichst mit Auflagen oder Kontrollen im Sinn des § 107 Abs 3 AußStrG zu begegnen (vgl RIS‑Justiz RS0127236).

6. Das Erstgericht hat den Eltern in seiner Entscheidung umfangreiche Auflagen erteilt, mit denen sich diese nach der Aktenlage einverstanden erklärten und die sie auch nicht bekämpften. Auch nach dem Inhalt ihrer Revisionsrekurse sind sie bereit, die aus Sicht des Erstgerichts notwendigen Vorgaben und Auflagen auf sich zu nehmen. Nach Ansicht des Senats sind damit jene Maßnahmen angeordnet, die es erlauben, bestmöglich dem Risiko einer künftigen Kindeswohlgefährdung unter gleichzeitiger Achtung der den Eltern nach Art 8 EMRK garantierten Rechte entgegenzuwirken. Den Eltern fehlt es nach den Ausführungen des Erstgerichts auch nicht an der erforderlichen Problemeinsicht, sodass mit gutem Grund angenommen werden kann, dass ihnen auch die Konsequenzen eines Verstoßes gegen die Anordnungen des Erstgerichts klar sind.

7. Den Revisionsrekursen der Eltern ist damit Folge zugeben, die Entscheidung des Rekursgerichts abzuändern und der Beschluss des Erstgerichts zur Gänze wiederherzustellen.

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