OGH 1Ob36/23k

OGH1Ob36/23k25.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in den verbundenen Rechtssachen der klagenden Parteien 1. M* W*, 2. P* W*, 3. H* F*, 4. R* F*, und 5. C* F*, alle vertreten durch Dr. Herbert Hubinger, Rechtsanwalt in Kirchdorf an der Krems, gegen die beklagten Parteien 1. K* GmbH, *, vertreten durch Dr. Gerhard W. Huber LL.M., Rechtsanwalt in Linz, und 2. Republik Österreich (Bund), *, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 30.000 EUR sA (erstklagende Partei; AZ *), 27.000 EUR sA und Feststellung (Streitwert 8.000 EUR; zweitklagende Partei; AZ *) sowie 27.000 EUR und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR; zweitklagende Partei; AZ *), 37.000 EUR sA (drittklagende und viertklagende Partei; AZ *) und 15.000 EUR sA (fünftklagende Partei; AZ *), über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 17. November 2022, GZ 4 R 146/22a‑88, mit dem das End- und Teilzwischenurteil des Landesgerichts Wels vom 20. Juli 2022, GZ 3 Cg 6/19w‑81, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00036.23K.0425.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Amtshaftung inkl. StEG, Unterbringungs- und Heimaufenthaltsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagenden Parteien sind schuldig, der erstbeklagten Partei die mit 2.801,06 EUR (darin enthalten 466,84 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen anteilig zu ersetzen, und zwar:

* die erstklagende Partei 482,94 EUR

* die zweitklagende Partei 1.126,86 EUR

* die drittklagende sowie die viertklagende Partei 1.191,26 EUR.

Die klagenden Parteien sind schuldig, der zweitbeklagten Partei die mit 2.460,04 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen anteilig zu ersetzen, und zwar:

* die erstklagende Partei 380,42 EUR

* die zweitklagende Partei 760,84 EUR

* die drittklagende sowie die viertklagende Partei 938,37 EUR

* die fünftklagende Partei 380,42 EUR.

 

Begründung:

[1] Der Lebensgefährte der Erstklägerin, Vater der Zweitklägerin, Sohn des Drittklägers und der Viertklägerin sowie Bruder der Fünftklägerin kam durch Selbstmord ums Leben. Er befand sich zunächst wegen Depressionen und verschiedener Schmerzzustände von Anfang August 2017 bis 10. 9. 2017 in stationärer Behandlung an der psychiatrischen Abteilung der von der erstbeklagten GmbH betriebenen Krankenanstalt. Am 10. 9. 2017 wurde er auf eigenen Wunsch entlassen. Bereits am 12. 9. 2017 wurde er nach Überweisung seines Hausarztes neuerlich an der psychiatrischen Abteilung der Erstbeklagten vorstellig und stationär aufgenommen. Gegen Mittag des 15. 9. 2017 verließ er das Krankenhaus und verübte anschließend außerhalb des Krankenhausgeländes Suizid.

[2] Gegenstand des Revisionsverfahrens sind Schadenersatzansprüche der Erst‑ bis Viertkläger aufgrund des vom Verstorbenen mit der erstbeklagten Krankenanstalt abgeschlossenen Behandlungsvertrags. Gegenüber dem zweitbeklagten Bund machen die Erst‑ bis Fünftkläger als nahe Angehörige Amtshaftungsansprüche geltend, die sie auf die unterlassene zwangsweise Unterbringung des Verstorbenen stützen.

[3] Das Berufungsgericht wies – in teilweiser Abänderung des Ersturteils – die Klagebegehren ab. Es ließ die Revision zu, weil die Judikatur des Obersten Gerichtshofs zum erleichterten Kausalitätsbeweis bei Behandlungsfehlern uneinheitlich sei. Gegenüber dem zweitbeklagten Bund bestehe zwar eine andere Haftungsgrundlage, „diese erscheint allerdings in so engem Zusammenhang mit einer möglichen Haftung der Erstbeklagten, dass die ordentliche Revision auch in dem gegen [den zweitbeklagten Bund] geführten Verfahren für zulässig zu erklären war“.

Rechtliche Beurteilung

[4] Bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Revision ist der Oberste Gerichtshof an einen Ausspruch des Berufungsgerichts nicht gebunden (§ 508a Abs 1 ZPO). Die Zurückweisung der gegen das zweitinstanzliche Urteil erhobenen Revision der Kläger wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

1. Zur verneinten Haftung der erstbeklagten Krankenanstalt:

[5] 1.1. Bei möglicherweise mit ärztlichen Behandlungsfehlern zusammenhängenden Gesundheitsschäden von Patienten sind wegen der besonderen Schwierigkeiten eines exakten Beweises an den Kausalitätsbeweis geringere Anforderungen zu stellen (RS0038222 [T3]). Steht demnach ein ärztlicher Behandlungsfehler fest und ist es unzweifelhaft, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dadurch nicht bloß unwesentlich erhöht wurde (RS0038222 [T7, T9, T11]; RS0026768), kommt es für den Patienten zu einer Beweiserleichterung für das Vorliegen der Kausalität (RS0038222 [T7, T9, T11]). Dem (Arzt oder) Krankenanstaltenträger obliegt nämlich in diesen Fällen der Beweis, dass im konkreten Behandlungsfall das Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit nicht kausal für den Schaden des Patienten war (RS0026768 [T6, T7, T10]). Es kehrt sich in diesen Fällen also die Beweislast für das (Nicht‑)Vorliegen der Kausalität um (RS0026768 [T4]; RS0038222 [T7, T9, T11]; RS0106890 [T18]), was aber voraussetzt, dass eben der Patient neben dem Behandlungsfehler auch die nicht bloß unwesentliche Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch einen ärztlichen Fehler nachweist.

[6] 1.2. In der vereinzelt gebliebenen Entscheidung 6 Ob 137/20w (Punkt 6.2.) wurde – in Anlehnung an Fälle der Anlegerberaterhaftung – dem geschädigten Patienten der Nachweis abverlangt, dass der Schaden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die ärztliche Fehlbehandlung zurückzuführen ist. Dass diese Rechtsansicht der herrschenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs widerspricht und vom erkennenden Senat abgelehnt wird, wurde bereits zu 1 Ob 11/21f (Rz 15) ausgeführt.

1.3. Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung die herrschende Rechtsprechung zugrunde gelegt:

[7] Nach den getroffenen Feststellungen hätten die Ärzte der erstbeklagten Krankenanstalt dem Patienten Benzodiazepine als Fixmedikation zur Sedierung und Beruhigung verordnen müssen und nicht „nur“ als Bedarfsmedikation („zweite Wahl“). Nicht festgestellt werden konnte, ob die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende rechtzeitige durchgehende Verabreichung von Benzodiazepinen während des zweiten Aufenthalts das Suizidrisiko des Patienten konkret gesenkt, erheblich gesenkt oder den Selbstmord verhindert hätte. Es konnte auch nicht festgestellt werden, ob das Unterlassen dieser Behandlung (sein) Suizidrisiko nicht bloß unwesentlich erhöhte, obwohl im Allgemeinen die Gabe von Benzodiazepinen einer Selbstmordgefahr bei schweren Depressionen entgegenwirkt.

[8] Die Kläger konnten damit – wovon das Berufungsgericht ohne Fehlbeurteilung ausging – den Beweis, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts beim Verstorbenen durch den ärztlichen Fehler nicht bloß unwesentlich erhöht wurde, nicht erbringen. Eine konkrete Risikoerhöhung durch die unterlassene Verabreichung von Benzodiazepinen steht gerade nicht fest. Dass im Allgemeinen die Gabe von Benzodiazepinen einer Selbstmordgefahr bei schweren Depressionen entgegenwirkt, ist unerheblich und zeigt keine konkrete Gefahrerhöhung auf.

[9] Die Abweisung der Schadenersatzbegehren gegenüber der erstbeklagten Krankenanstalt durch das Berufungsgericht infolge fehlenden (erleichterten) Kausalitätsnachweises ist daher nicht korrekturbedürftig.

[10] 1.4. Ein ärztlicher Behandlungsfehler kann nicht als konkret gefährlich, also für den Schadenserfolg in höchstem Maße adäquat, gewertet werden, wenn das Fehlverhalten nicht zugleich zur nicht bloß unwesentlichen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts führt. Im Fall dieses Nachweises liegt es am potentiellen Ersatzpflichtigen, den Beweis des Nichtvorliegens der Kausalität der ihm zuzurechnenden Sorgfaltsverletzung zu erbringen, und zwar mit der Konsequenz, dass er bei Misslingen dieses Beweises zur Gänze haftet. Für eine Teilhaftungslösung bleibt dann kein Raum (insofern zutreffend 6 Ob 137/20w [Punkt 5.2.]).

[11] Die mangelnde Risikoerhöhung des Schadenseintritts durch den Behandlungsfehler der Erstbeklagten (siehe Punkt 1.3.) steht damit der vom Erstgericht angenommenen Teilhaftung wegen Ursachenzweifeln entgegen, weil die Teilhaftung ebenfalls die konkrete Gefährlichkeit des Behandlungsfehlers für den Schadenseintritt erfordert (vgl RS0022721 [T3, T4]). Eine solche liegt gerade nicht vor.

2. Zur fehlenden Haftung des zweitbeklagten Bundes:

[12] 2.1. Die Haftung des Zweitbeklagten begründen die Revisionswerber mit der Unterlassung hoheitlich zu setzender Maßnahmen. Dieser hafte wegen unterlassener fachärztlicher Abklärung und lückenhafter ärztlicher Dokumentation.

[13] 2.2. Eine Dokumentationspflichtverletzung begründet nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs die Vermutung, dass eine indizierte, aber nicht dokumentierte Maßnahme vom Arzt nicht getroffen wurde; der Nachweis eines objektiven Sorgfaltsverstoßes wird dadurch aber nicht begründet (8 Ob 134/01s mwN; zuletzt 3 Ob 195/22f [Rz 14]). Daher folgt aus der Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht nicht automatisch die Bejahung der (im Unterbleiben der indizierten Maßnahme bestehenden) Sorgfaltspflichtverletzung. Vielmehr liegt die Beweis-erleichterung für den Patienten (nur) darin, dass nunmehr der Arzt nachzuweisen hat, dass die (nicht dokumentierte) Maßnahme nicht indiziert war, die Maßnahme ungeachtet des Dokumentationsfehlers tatsächlich gesetzt wurde oder das anzunehmende Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit für den Schaden unwesentlich geblieben ist (3 Ob 195/22f [Rz 15]; vgl auch 4 Ob 28/20a).

[14] 2.3. Ein solcher Fall steht hier fest. Nach den getroffenen Feststellungen haben im gesamten Zeitraum 12. 9. bis 15. 9. 2017 beim Patienten keine Umstände vorgelegen, die für (die Organe) des Zweitbeklagten auf eine erkennbare ernstliche und erhebliche Selbstgefährdung hingedeutet hätten.

[15] Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 3 UbG nicht vorgelegen seien bzw eine Aufnahmeuntersuchung nach § 10 UbG nicht indiziert gewesen sei und damit kein amtshaftungsbegründendes Verhalten gegeben gewesen sei, entspricht der Judikatur.

[16] 3. Dies führt zur Zurückweisung der Revision. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).

[17] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 46 Abs 1 iVm § 50 ZPO. Da die Beklagten in ihren Revisionsbeantwortungen auf die mangelnde Zulässigkeit des Rechtsmittels der Kläger hingewiesen haben, dient ihr jeweiliger Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung (vgl RS0035962; RS0035979). Der von den Vorinstanzen ausgesprochene Kostenvorbehalt erfasst nur die vom Prozesserfolg in der Hauptsache abhängigen Kosten und steht der Kostenentscheidung im Zwischenstreit über die Zulässigkeit der Revision nicht entgegen (RS0129365 [T1, T2, T3]).

[18] Der Revisionsstreitwert betreffend die Erstbeklagte beträgt 87.000 EUR und betreffend den Zweitbeklagten 97.000 EUR. Auf Basis dieser Streitwerte sind den Beklagten die jeweiligen Kosten zuzusprechen. Die Kläger haften für die Kosten der Revisionsbeantwortungen als formelle Streitgenossen grundsätzlich nach dem Verhältnis ihrer Beteiligung am Rechtsstreit (RS0125635 [T1]).

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