OGH 1Ob136/13a

OGH1Ob136/13a29.8.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder 1. P***** H*****, geboren am 5. Dezember 2012, 2. C***** H*****, geboren am 17. November 2007, und 3. V***** H*****, geboren am 31. August 2011, alle vertreten durch Mag. Marina Breitenecker, Dr. Christine Kolbitsch und Dr. Heinrich Vana, Rechtsanwälte in Wien, über den Revisionsrekurs des Vaters R***** H*****, Niederlande, vertreten durch Dr. Helene Klaar Dr. Norbert Marschall Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. März 2013, GZ 45 R 67/13f‑34, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 27. Dezember 2012, GZ 4 Pu 141/12t‑24, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0010OB00136.13A.0829.000

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Begründung

Die antragstellenden (ehelichen) Kinder lebten bis Dezember 2011 gemeinsam mit ihren Eltern in den Niederlanden. Aufgrund einer im September 2011 getroffenen Vereinbarung zwischen den Eltern, nach der die Mutter Mitte Dezember 2011 zur Übernahme einer Arztordination mit allen Kindern nach Wien umziehen könne ‑ wobei diese Regelung „ausschließlich“ für das Jahr 2012 gelten sollte ‑, begab sich diese mit den Kindern nach Wien, wo sie seither wohnen.

Mit ihrem am 10. 7. 2012 beim Erstgericht eingelangten Antrag begehrten die Kinder, den Vater zu Unterhaltszahlungen in bestimmter Höhe zu verpflichten. Der Vater habe seit der Trennung der Eltern im Dezember 2011 trotz Aufforderung keinerlei Unterhalt geleistet.

Der Vater bestritt die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts mit der Begründung, die Familie hätte weiterhin ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden und nicht in Wien. Die gesamte Familie habe seit März 2009 mit der klaren Absicht in Den Haag gelebt, dort den Lebensmittelpunkt einzunehmen und beizubehalten. Die Mutter hätte nach der getroffenen Vereinbarung bis spätestens Ende 2012 mit den drei Kindern wieder nach Den Haag zurückkommen müssen. Sie habe die Gespräche allerdings im Dezember 2012 völlig abgebrochen. In der Weigerung, mit den Kindern zurückzukehren, liege eine Kindesentführung im Sinn des HKÜ. Die Kinder hätten demnach in Wien nicht ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne der EuUVO, sondern lediglich einen vorübergehenden, mit Ende 2012 befristeten Aufenthalt. Ihr Lebensmittelpunkt sei in den Niederlanden geblieben. Die Mutter sei mit den Kindern lediglich befristet mit Ende des Jahres 2012 nach Wien gezogen, sodass kein auf Dauer angelegter Aufenthalt in Wien bestanden habe. In Den Haag seien auch die wohnungstechnischen, schulischen und familiären Umstände so aufrecht erhalten worden, dass die Kinder problemlos in dieses Umfeld zurückkehren könnten.

Das Erstgericht verwarf die Unzuständigkeitseinrede des Vaters. Auch für Art 3 EuUVO sei der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ nach der Rechtsprechung des EuGH dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Zu berücksichtigen seien insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen in dem betreffenden Staat. Es sei Sache des nationalen Gerichts, anhand der genannten Kriterien in einer Gesamtbetrachtung den gewöhnlichen Aufenthaltsort festzustellen (Rs C‑523/07). Die von der österreichischen Lehre und Rechtsprechung entwickelte Faustregel, nach der der gewöhnliche Aufenthalt von einer gewissen Dauer und Beständigkeit abhängig sei, wobei von einer Frist von ca sechs Monaten ausgegangen werden könne, könne als grobe Richtschnur herangezogen werden. Da die Kinder bereits über ein Jahr in Österreich aufhältig seien und somit eine gewisse Integration in das soziale und familiäre Umfeld stattgefunden haben müsse, seien die Kriterien des gewöhnlichen Aufenthalts erfüllt. Es könne auch nicht beurteilt werden, ob die Mutter wieder in die Niederlande zurückkehre oder ihren Lebensmittelpunkt mit den Kindern weiterhin in Österreich beibehalte.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs letztlich für zulässig. Nach Art 3 EuUVO könne der Antragsteller nach seiner Wahl den Unterhaltsanspruch auch vor dem zuständigen Gericht jenes Ortes, an dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, geltend machen. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts, für den primär faktische Umstände maßgeblich seien, werde in der EuUVO nicht definiert, weshalb es auf das allgemeine europarechtliche Verständnis dieses Begriffs ankomme. Nach der Rechtsprechung des EuGH sei der gewöhnliche Aufenthalt anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, es sei darunter jener Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes sei. Ein wichtiges Kriterium seien die körperliche Anwesenheit sowie die Dauer und Beständigkeit des Aufenthalts, wobei die tatsächliche und die beabsichtigte Dauer relevant seien. Dass sich nach einer Dauer von sechs Monaten ein gewöhnlicher Aufenthalt etabliert habe, könne als grobe Richtschnur herangezogen werden. Die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts sei von dessen Erlaubtheit oder Rechtmäßigkeit völlig unabhängig. Da sich der gewöhnliche Aufenthalt ausschließlich nach tatsächlichen Umständen bestimme, könne er trotz widerrechtlicher Verbringung oder widerrechtlichen Zurückhaltens eines Kindes im Sinne des Art 2 Z 11 EuEheKindVO begründet werden. Im Rahmen der EuEheKindVO, die gemäß Art 1 Abs 3 lit e ausdrücklich für Unterhaltspflichten nicht gelte, regle Art 10 die Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung. Das Unterhaltsfestsetzungsverfahren sei zu einem Zeitpunkt eingeleitet worden, zu dem sich die Minderjährigen mit Einverständnis beider Eltern schon etwa sieben Monate in Österreich aufgehalten hätten, sodass jedenfalls von einem widerrechtlichen Zurückhalten der Kinder zu diesem Zeitpunkt nicht gesprochen werden könne. Insgesamt sei die erstgerichtliche Beurteilung, dass angesichts der Dauer von mehr als einem Jahr ein gewöhnlicher Aufenthalt in Wien begründet worden sei, nicht zu beanstanden. Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil höchstgerichtliche Judikatur zur maßgeblichen Rechtsfrage, ob eine von vornherein bloß befristete Zustimmung eines Elternteils zu einem Verbleib der Kinder in einem anderen Staat die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts auch im Sinne des Art 3 lit b EuUVO verhindern könne, nicht vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen erhobene Revisionsrekurs des Vaters erweist sich ‑ entgegen der den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Auffassung des Rekursgerichts ‑ als nicht zulässig, weil keine im Sinne des § 63 Abs 1 AußStrG erhebliche Rechtsfrage zu beurteilen ist, kommt es doch ‑ wie auch der EuGH ausgesprochen hat (Rs C‑523/07) ‑ stets auf eine (Gesamt‑)Beurteilung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls an (s auch RIS‑Justiz RS0117100).

Gemäß Art 3 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr 4/2009 des Rates vom 18. 12. 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (EuUVO) ist nach Wahl des Antragstellers für Entscheidungen in Unterhaltssachen unter anderem das Gericht jenes Ortes zuständig, an dem die berechtigte Partei ihren „gewöhnlichen Aufenthalt“ hat. Wie die Vorinstanzen bereits zutreffend dargelegt haben, ist der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts verordnungsautonom auszulegen (2 Ob 217/12v ua). Zu einer vergleichbaren Bestimmung in der Verordnung (EG) Nr 2201/2003 (EuEheKindVO) hat der EuGH (Rs C‑523/07) den Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ dahin ausgelegt, dass darunter jener Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hiefür seien insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Betont wurde, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen.

Besondere Bedeutung kommen unter den vom EuGH angeführten Kriterien der Dauer und Regelmäßigkeit des Aufenthalts (vgl auch RIS‑Justiz RS0074198) sowie den familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu.

Entgegen der Auffassung des Revisionsrekurswerbers steht der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts auch nicht per se der Umstand entgegen, dass sich das Kind ‑ in der Regel mit dem anderen Elternteil ‑ gegen den Willen des Unterhaltspflichtigen in einem anderen Staat befindet bzw im Sinne der Bestimmungen des HKÜ widerrechtlich in diesen Staat verbracht worden ist. Dazu hat der erkennende Senat jüngst (1 Ob 91/13h) im Zusammenhang mit der Bestimmung des Art 5 Nr 2 EuGVVO Stellung genommen, der die Zuständigkeit in Unterhaltssachen ebenfalls an den „gewöhnlichen Aufenthalt“ des unterhaltsberechtigten Kindes anknüpfte. Betont wurde, dass die Frage der „Rechtmäßigkeit“ des Aufenthalts zwar unter bestimmten Umständen im Einzelfall für die Beurteilung, ob ein „gewöhnlicher Aufenthalt“ begründet wurde, von Bedeutung sein kann (RIS‑Justiz RS0074327 [T2]), dass die einschlägigen Zuständigkeitsvorschriften aber eine generell‑abstrakte Verknüpfung für Unterhaltsverfahren nicht enthalten. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass etwa in Art 10 der Verordnung (EG) Nr 2201/2003 des Rates vom 27. 11. 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr 1347/2000 (EuEheKindVO) für die Zuständigkeit für von dieser Verordnung erfasste Verfahren weitere Tatbestandselemente statuiert werden, die einer Zuständigkeit des Gerichts des „Entführungsstaats“ auch dann entgegenstehen, wenn dort ein gewöhnlicher Aufenthalt dann begründet wurde (ähnlich auch Art 7 KSÜ). Daraus ist ersichtlich, dass der europäische Verordnungsgeber davon ausgeht, dass grundsätzlich ein gewöhnlicher Aufenthalt auch begründet werden kann, wenn das Kind gegen den Willen des anderen Elternteils an seinen nunmehrigen Aufenthaltsort gebracht worden ist. Im Rahmen von Verfahren über den Unterhalt wird nun ausschließlich auf den gewöhnlichen Aufenthalt abgestellt.

Die Einzelfallbeurteilung der Vorinstanzen, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung ‑ bzw der Entscheidung des Erstgerichts (siehe dazu nur 1 Ob 91/13h) ‑ ein gewöhnlicher Aufenthalt der Kinder in Wien begründet worden war, stellt jedenfalls keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung dar, weshalb insoweit die Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht gegeben sind (vgl nur 2 Ob 80/03h). Dabei ist einerseits zu berücksichtigen, dass sich die Kinder bereits seit mehr als einem Jahr gemeinsam mit der Mutter in Wien aufgehalten haben, ersichtlich hier auch sozial integriert waren (Schulbesuch ...) und dieser Aufenthalt offenbar nach den Vorstellungen der Mutter auch noch weiter andauern soll. Darüber hinaus übersieht der Revisionsrekurswerber, dass er selbst dem Aufenthalt in Wien für das gesamte Jahr 2012 zugestimmt hat. Damit war ausreichend klargestellt, dass jedenfalls in diesem Jahr die Kinder in Wien aufhältig sein werden und auch dort zu versorgen sind, was den Zufluss ausreichender finanzieller Mittel in Form von Unterhaltszahlungen erfordert. Hat nun der europäische Verordnungsgeber in Art 3 Buchstabe b der EuUVO den unterhaltsberechtigten Kindern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Unterhaltsforderungen beim Gericht ihres gewöhnlichen Aufenthalts zu erheben, so stand dahinter zweifellos der Gedanke, dass dieser Weg der für sie einfachste und zweckmäßigste ist, um zu dem gebührenden Unterhalt zu gelangen. Es wäre widersinnig, die genannte Bestimmung dahin auszulegen, dass ein Unterhaltsberechtigter, der damit einverstanden war, dass seine Kinder für zumindest ein Jahr ihren (gewöhnlichen) Aufenthalt ‑ gemeinsam mit der Mutter ‑ in ein anderes Land verlegen, nun einem dort gestellten Unterhaltsbegehren entgegenhalten könnte, der (von vornherein auf zumindest ein Jahr ausgelegte) Aufenthalt sei nicht ausreichend intensiv um den Tatbestand des „gewöhnlichen Aufenthalts“ zu erfüllen, weshalb die Kinder genötigt seien, ihre Ansprüche im Aufenthaltsstaat des Unterhaltspflichtigen geltend zu machen. Warum es gerechtfertigt sein sollte, der hier anzuwendenden Zuständigkeitsnorm im Auslegungsweg einen derartigen Inhalt beizumessen, vermag der Revisionsrekurswerber in keiner Weise zu begründen. Die Beurteilung, die Kinder hätten ihren „gewöhnlichen Aufenthalt“ nach Wien verlegt und ihren bisherigen Aufenthalt in Den Haag aufgegeben, kann somit keineswegs als bedenkliche Fehlbeurteilung angesehen werden, die die Zulässigkeit eines Rechtsmittels an den Obersten Gerichtshof begründen würde.

Die vom Revisionsrekurswerber weiters aufgeworfene Frage, ob ein „widerrechtliches Zurückhalten des Kindes“ nach Ablauf einer zeitlich befristeten Zustimmung zum Aufenthalt in einem anderen Land den gewöhnlichen Aufenthalt ausschließen könne, stellt sich hier nicht, gesteht der Revisionsrekurswerber doch selbst zu, dass er dem Aufenthalt der Kinder (mit der Mutter) in Wien bis Ende 2012 zugestimmt hat, und es lag der für die Beurteilung maßgebliche Zeitpunkt der Entscheidung der ersten Instanz noch innerhalb dieses Zeitraums.

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