OGH 10ObS86/15t

OGH10ObS86/15t17.11.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Werner Rodlauer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, vertreten durch Dr. Edwin Mächler, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert‑Stifter‑Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 18. Juni 2015, GZ 6 Rs 35/15m‑10, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 23. Februar 2015, GZ 9 Cgs 273/14p‑6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00086.15T.1117.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

Der 1951 geborene Kläger fuhr am 29. 4. 2014 von seinem Büro nach Hause zu seinem Wohnort, S*****. Als er das Gebäude betreten wollte, brach die Türschnalle ab, wodurch er die Haustüre nicht öffnen konnte. Nachdem es ihm nicht gelungen war, über das Erdgeschoß, dessen Fenster vergittert sind, in das Gebäude zu kommen, holte er eine Leiter, lehnte diese an das Gebäude und versuchte auf der Leiter stehend im ersten Stock ein altes Fenster aufzudrücken. Dabei rutschte die Leiter weg und der Kläger stürzte ca 5 m in die Tiefe. Er erlitt dadurch eine Schulterverrenkung, eine Fersenbeinprellung und eine Kopfprellung. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt 20 vH.

Mit Bescheid vom 25. 11. 2014 lehnte die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt die Anerkennung des Unfalls des Klägers als Arbeitsunfall ab und sprach aus, dass kein Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung bestehe.

In seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 29. 4. 2014 eine Versehrtenrente in gesetzlicher Höhe bzw allfällige gesetzliche weitere Leistungen zu gewähren. Der Weg von der Arbeitsstätte zum Wohnort stehe unter Versicherungsschutz nach der Unfallversicherung, daher liege ein Arbeitsunfall vor.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und brachte vor, der Versuch, sich über ein verschlossenes Fenster des ersten Stocks des Hauses Zutritt zu verschaffen, stelle keine typische Gefahr bei Betreten bzw Verlassen des Hauses dar. Es handle sich um eine rein eigenwirtschaftliche Tätigkeit des Klägers, für die kein Versicherungsschutz bestehe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und führte aus, Wegunfälle seien generell solche, die sich auf dem Weg von der Wohnstätte zur Arbeit und zurück ereigneten. Beginn und Ende des Versicherungsschutzes sei die Außenfront des Wohnhauses, in der Regel das ins Freie führende Haustor. Auf den häuslichen Bereich erstrecke sich der Unfallversicherungsschutz nicht. Wer, weil sich die Außentür nicht öffnen lasse, durch ein Fenster einzusteigen versuche und dabei verunglücke, stehe nicht mehr unter Versicherungsschutz. Der Unfall habe sich ausschließlich in der Risikosphäre des Klägers ohne Zusammenhang mit der Beschäftigung ereignet.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Der Kläger habe sich durch seine Vorgangsweise, mit einer Leiter zu einem Fenster in den ersten Stock hinaufzusteigen, von seinem üblichen Arbeitsweg entfernt und sich einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt, die nicht im Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung stehe. Mangels ursächlichem Zusammenhangs mit der versicherten Erwerbstätigkeit bestehe kein Versicherungsschutz.

Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu, weil es sich um keine Entscheidung von über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung handle.

In seiner außerordentlichen Revision beantragt der Kläger, das Urteil dahingehend abzuändern, dass der Klage stattgegeben wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

Der Kläger macht geltend, dass die Grenze des Versicherungsschutzes bei Wegunfällen die Außenfront des Wohnhauses sei. Die Entscheidungen der Vorinstanzen seien von dieser Rechtsprechung abgewichen. Nur ein grob unvernünftiges und völlig unnachvollziehbares, unsinniges Verhalten des Versicherten sei geeignet, den Entfall des Versicherungsschutzes zu bewirken. Er habe keine andere Möglichkeit gehabt, seinen Arbeitsweg zu beenden und daher versucht, über ein Fenster in das Haus zu gelangen. Das Erstgericht hätte außerdem zusätzlich feststellen müssen, dass er zuvor versucht habe, ebenerdig ins Haus zu kommen und dass er, da er mitten im Wald wohne, nicht gewusst habe, wen er in der Situation hätte kontaktieren können.

Dazu ist auszuführen:

1. Nach § 175 Abs 1 ASVG sind Arbeitsunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen. Arbeitsunfällen gleichgestellt sind Unfälle, die sich auf einem mit der Beschäftigung zusammenhängenden Weg zur oder von der Arbeits‑ und Ausbildungsstätte ereignen (§ 175 Abs 2 Z 1 ASVG).

Während das Gesetz den einen Endpunkt des geschützten Weges nennt (Arbeits‑ und Ausbildungsstätte), erwähnt es den anderen nicht ausdrücklich. Nach der Rechtsprechung ist dieser andere Endpunkt grundsätzlich die ständige Wohnung des Versicherten (vgl RIS‑Justiz RS0084884).

Zutreffend verweist der Kläger darauf, dass die Judikatur die Grenze zwischen dem unversicherten häuslichen Lebensbereich und dem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg im Interesse der Rechtssicherheit starr gezogen hat und an objektive Merkmale anknüpft, die im Allgemeinen leicht feststellbar sind. Der Versicherungsschutz beginnt bzw endet demnach an der Außenfront des Wohnhauses, also in der Regel an dem ins Freie führenden Haustor (Haustür) oder Garagentor (RIS‑Justiz RS0084826 [T1]; zuletzt 10 ObS 176/12y, SSV‑NF 27/5).

Der Versicherungsschutz erstreckt sich insbesondere deshalb nicht auf den häuslichen Bereich, weil dieser dem Versicherten besser als anderen Personen bekannt ist und damit für ihn eine Gefahrenquelle darstellt, für die er selbst verantwortlich ist. Der Gefahr im Inneren des Wohnhauses, in dem der Versicherte wohnt, kann er typischerweise besser begegnen (vgl 10 ObS 44/06b, SSV‑NF 20/22).

2. Grund des Schutzes bei Wegunfällen ist der Umstand, dass der Versicherte nicht vermeiden kann, sich den typischen Weggefahren auszusetzen, will er seiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Für die Bejahung des Versicherungsschutzes ist somit ein hinreichender sachlicher Zusammenhang zwischen der realisierten Unfallgefahr und dem Zurücklegen des Weges erforderlich (10 ObS 14/09w, SSV‑NF 23/19).

Wird ein Unfall durch eine selbst geschaffene Gefahr herbeigeführt, fehlt der kausale Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit dann, wenn der Unfall auf einem völlig unvernünftigen oder unsinnigen Verhalten des Versicherten beruht und eine solche besondere Gefährdung entstanden ist, dass die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist (RIS‑Justiz RS0084133). Dabei spricht auch grobe Fahrlässigkeit des Verunglückten nicht von vornherein gegen das Vorliegen eines Arbeitsunfalls (RIS‑Justiz RS0085110).

So wurde ein Unfall, der sich beim Überqueren einer breiten, stark befahrenen Straße bei Rotlicht ereignete, dem Unfallversicherungsschutz unterstellt (10 ObS 243/88, SSV‑NF 2/102), ebenso ein Unfall beim Versuch, bei geschlossenen Bahnschranken die Gleise zu überqueren (10 ObS 185/89, SSV‑NF 3/81).

3. Vom vorliegenden Fall unterscheidet sich der diesen Entscheidungen zugrunde liegende Sachverhalt dadurch, dass sich der Unfall zwar im Zusammenwirken mit der groben Fahrlässigkeit des jeweiligen Versicherten verwirklichte, dessen ungeachtet aber aus typischen Gefahren eines Arbeitswegs resultierte. Verkehrsunfälle stellen ebenso wie vom Versicherungsnehmer nicht beeinflussbare Witterungsverhältnisse grundsätzlich unvermeidbare Risiken und übliche Gefahrenquellen auf dem Weg von und zur Arbeit dar.

Dies gilt jedoch nicht für den Versuch, ein Haus über ein Fenster im ersten Stock durch eine provisorisch angelegte Leiter zu betreten. Abgesehen davon, dass es sich dabei im Wesentlichen nicht um die Fortsetzung des Arbeitsweges, sondern die Überwindung eines häuslichen Problems, dem nicht mehr möglichen Öffnen des Haustores und damit einem dem privaten Bereich zurechenbaren Verhalten handelt, kann auch nicht mehr von einer typischen Weggefahr gesprochen werden. Wer sich aber ohne jeden inneren Zusammenhang mit seiner geschützten Tätigkeit einer leicht erkennbaren Gefahr aussetzt und von dieser Gefahr ereilt wird, kann nicht mit Leistungen der Versicherungsgemeinschaft rechnen (10 ObS 48/03m; vgl Tomandl , Zurechnungsfragen in der gesetzlichen Unfallversicherung, ZAS 2007/26, 160 ff [167]).

Insoweit muss auch nicht geprüft werden, ob es sich bei der Vorgangsweise des Klägers um ein grundsätzlich unvernünftiges oder unsinniges Verhalten handelte.

Auch wenn der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls die Außentür seines Wohnhauses noch nicht überschritten hatte, liegt daher kein Arbeitsunfall vor. Der Revision kommt keine Berechtigung zu.

Die Kostenentscheidung gründet auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse des Klägers, die einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht dargelegt und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

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