OGH 10ObS176/12y

OGH10ObS176/12y29.1.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, 1080 Wien, Josefstädterstraße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. September 2012, GZ 9 Rs 169/11f‑27, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 24. Juni 2011, GZ 15 Cgs 108/10x‑22, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revision selbst zu tragen.

Entscheidungsgründe:

Der Kläger ist Mieter einer Wohnung im ersten Stock des Hauses H*****straße ***** in Wien. In diesem Stockwerk sind noch zwei weitere Wohnungen gelegen. Im Erdgeschoss des Hauses befinden sich zwei Wohnungen und zwei Geschäftslokale. Das Stiegenhaus ist allgemein zugänglich.

Am 14. 1. 2010 verließ der Kläger seine Wohnung. Nachdem er die Wohnungstür versperrt hatte, ging er die Stiegen hinunter. Im Halbstock stolperte er und stürzte nach hinten. Dabei zog er sich eine Prellung der Brustwirbelsäule sowie einen Bruch des zehnten Brustwirbelkörpers zu. Dieser verheilte in einer Fehlstellung. Der Kläger leidet aufgrund dieses Vorfalls auch an einer diskreten Bewegungseinschränkung der Brustwirbelsäule in der Sagittalebene und an subjektiven „adäquaten“ Restbeschwerden. Die sich daraus ergebende Minderung der Erwerbsfähigkeit ist ab dem „berentbaren Zeitraum“ für die Dauer eines Jahres mit 20 % gegeben, anschließend auf Dauer mit 10 %.

Die beklagte Partei sprach mit Bescheid vom 11. 6. 2010 aus, dass der Vorfall vom 14. 1. 2010 nicht als Dienstunfall (§ 90 B‑KUVG) anerkannt werde. Der Vorfall habe sich im Stiegenhaus des Wohnhauses des Klägers ereignet. Dieser Bereich sei der Privatsphäre zuzuordnen und zähle somit nicht zum geschützten Weg zwischen Wohnung und Dienststelle.

Das Erstgericht wies das Feststellungsbegehren des Klägers ab und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger für die Folgen des Dienstunfalls vom 14. 1. 2010 von diesem Tag an bis zum 14. 1. 2011 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 % der Vollrente zu gewähren. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen. Rechtlich beurteilte es den Sachverhalt dahin, dass der nach § 90 Abs 2 Z 1 B‑KUVG geschützte Weg bei einer Mietwohnung in einem Haus mit mehreren Mietwohnungen bereits mit Verlassen der Mietwohnung beginne, sei doch ein Mieter einer Wohnung, der auf die Ausgestaltung und den Zustand eines (eingeschränkt) allgemein zugänglichen Stiegenhauses keinen oder nur geringen Einfluss habe, auch dort den typischen Weggefahren ausgesetzt. Das Feststellungsbegehren des Klägers sei abzuweisen, weil ein Leistungsbegehren möglich sei und durch den Leistungsanspruch der Feststellungsanspruch erschöpft werde.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge, wohl aber jener der beklagten Partei und wies auch das Leistungsbegehren ab. Es vertrat mit ausführlicher Begründung die aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ableitbare Auffassung, dass der nach § 90 Abs 2 Z 1 B‑KUVG ebenso wie jener nach § 175 Abs 2 Z 1 ASVG geschützte Weg auch im Fall eines Mehrparteienhauses beginne und ende, wenn der Versicherte die Außentür des Wohnhauses durchschreitet. Die gegenteilige Ansicht überzeuge nicht, weil der private Bereich auch bei Mehrfamilienhäusern oder Miethäusern mit mehreren Wohnungen nicht nur die gemietete Wohnung, sondern auch die Stiegenaufgänge, Stiegenhäuser, Kellerräume und dergleichen umfasse, habe und nehme doch der Mieter als Ausfluss seines Mietvertrags auch auf die Gestaltung dieser Bereiche in Form von Ansprüchen auf die Reinigung, Erhaltung und Verbesserung Einfluss.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil (gesicherte) Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob ein Unfall im Stiegenhaus eines Mehrparteienhauses unter Unfallversicherungsschutz stehe, fehle.

Die von der beklagten Partei beantwortete Revision des Klägers, die eine Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts in seinem klagestattgebenden Teil anstrebt, ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Auslegung des § 90 Abs 2 Z 1 B‑KUVG ab. Nach dem ersten Halbsatz dieser Bestimmung sind Dienstunfälle auch Unfälle, die sich auf einem mit dem Dienstverhältnis (bzw der die Versicherung begründenden Funktion) zusammenhängenden Weg zur oder von der Dienststätte ereignen. Inhaltlich gleich geregelt ist der Wegunfall nach § 175 Abs 2 Z 1 erster Halbsatz ASVG. Nach dem zweiten Halbsatz der beiden Gesetzesbestimmungen wird die Versicherung des Weges „von oder nach dem ständigen Aufenthaltsort“ des Versicherten nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte wegen der Entfernung seines ständigen Aufenthaltsorts von der Dienststätte (Arbeits‑[Ausbildungs‑]Stätte) auf dieser oder in ihrer Nähe eine Unterkunft hat.

2. Der Grund für den Unfallversicherungsschutz auf Wegen gemäß § 90 Abs 2 Z 1 B‑KUVG bzw § 175 Abs 2 Z 1 ASVG liegt in dem Umstand, dass der Versicherte nicht vermeiden kann, sich den Weggefahren auszusetzen, will er seiner Erwerbstätigkeit nachgehen (10 ObS 155/03x, SSV‑NF 17/69).

3. Während das Gesetz den einen Endpunkt des geschützten Weges nennt (Dienststätte; Arbeits‑ oder Ausbildungsstätte), erwähnt es den anderen nicht ausdrücklich. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist der andere Endpunkt im Allgemeinen die ständige Wohnung des Versicherten, wobei der Begriff „Wohnung“ nach rein tatsächlichen Gesichtspunkten zu beurteilen ist (jener Ort, an dem der Versicherte wohnt, isst, schläft, Wäsche und Kleidung verwahrt, reinigt und instandhält: 10 ObS 24/88, SSV‑NF 2/23; 10 ObS 209/95, SSV‑NF 9/98 mwN; Tomandl in Tomandl , SV‑System 296).

4. Die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zieht die Grenze, an der der versicherte Weg zur Arbeit beginnt oder von der Arbeit endet, mit der Außenfront des Wohnhauses, also in der Regel an dem ins Freie führenden Haustor (Haustür) oder Garagentor (RIS‑Justiz RS0084826). Zuletzt hat der Oberste Gerichtshof ‑ entgegen der Ansicht des Revisionswerbers ‑ in der Entscheidung 10 ObS 72/09z, SSV‑NF 23/70, betont, dass eine die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigende Begrenzung des (nicht geschützten) häuslichen Bereichs durch Ausnahmen von diesem Grundsatz von der Rechtsprechung nicht mehr anerkannt werden. Zutreffend hat das Berufungsgericht aus dieser Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs den Schluss gezogen, dass auch im hier zu entscheidenden Fall eines Miethauses mit abgeschlossenen Einzelwohnungen die Außentür des Gebäudes die Grenze des (unversicherten) häuslichen Lebensbereichs des Versicherten ist.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat allerdings zu § 90 Abs 2 Z 1 B‑KUVG entschieden (2007/09/0385, VwSlg 17.588 A/2008), dass es „jedenfalls“ im dort gegenständlichen Fall eines Hauses mit mehreren Mietwohnungen nach dem Sinn des Wortes „Wohnung“ für den Beginn des Versicherungsschutzes auf das Verlassen des nach außen abgeschlossenen Bereichs einer Mietwohnung ankomme, was in der Regel durch deren Außentür erfolge, sodass der Versicherungsschutz bei dem Unfall im Stiegenhaus zu bejahen sei. Denn eine vom Stiegenhaus abgeschlossene Mietwohnung in einem Mehrparteienhaus könne nach dem Begriff der „Wohnung“, wie er in Wörterbüchern definiert werde, von vornherein nicht mit dem gesamten Wohnhaus gleichgesetzt werden. Der Beginn des Versicherungsschutzes könnte sich allerdings dann zur Außentür des „Wohnhauses“ verlagern, wenn sich in diesem „Wohnhaus“ keine mehreren eigenständigen, als „Wohnungen“ anzusehende Räumlichkeiten befänden und deshalb „Wohnung“ und „Wohnhaus“ ident wären. Der Sachverhalt zeichne sich insbesondere dadurch aus, dass der beschwerdeführende Versicherte nicht (Mit‑)Eigentümer des Hauses sei und als Bewohner einer Mietwohnung nicht jenen Einfluss auf die Ausgestaltung und den Zustand des allgemein zugänglichen Stiegenhauses, in dem seine Mietwohnung liege, ausüben könne wie ein (Mit‑)Eigentümer.

6. Diese Entscheidung gibt dem erkennenden Senat nicht Anlass, von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Abgrenzung des nicht versicherten Wohnbereichs für den Fall von Miethäusern mit mehreren abgeschlossenen Wohnungen abzugehen und den Vorteil einer allgemein verständlichen, einfachen, sich auf objektive Merkmale stützenden und keine Zweifel bietenden Abgrenzung gegenüber einer Abgrenzung unter weitgehender Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls aufzugeben (zum Schwanken der Rechtsprechung der Schiedsgerichte der Sozialversicherung und des Oberlandesgerichts Wien als seinerzeitigem Höchstgericht in Sozialrechtssachen vgl OLG Wien 31 R 4/82, SSV 22/10; zum vergleichbaren deutschen Rechtsbereich zB BSG 2 RU 124/54, BSGE 2/41, 239; Krasney in Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky , Gesetzliche Unfall-versicherung [SGB VII] ‑ Kommentar § 8 Rz 181 ff mwN). Der Versicherungsschutz erstreckt sich insbesondere deshalb nicht auf den häuslichen Bereich, weil dieser im Allgemeinen dem Versicherten besser als anderen Personen bekannt ist und damit für ihn eine Gefahrenquelle darstellt, für die er selbst verantwortlich ist. Weggefahren im Inneren des Wohnhauses, in dem der Versicherte wohnt, kann er typischer Weise besser begegnen (vgl 10 ObS 44/06b, SSV‑NF 20/22). Für die den Mietern (und anderen Nutzungsberechtigten) in einem Miethaus gemeinsam zur Verfügung stehenden Einrichtungen, wie hier das Stiegenhaus, trifft diese Erwägung noch zu (vgl BSG 2 RU 124/54, BSGE 2/41, 239). Schließlich ‑ ohne dass dies für die Lösung der Frage der Abgrenzung des Wohnbereichs ausschlaggebend wäre ‑ haben die Mieter ein Mitbenutzungs‑ und Verfügungsrecht über das Stiegenhaus. Einen Versicherungsschutz mit den Eigentumsrechten des Versicherten zu verknüpfen und auf den Grad des Einflusses auf die Gestaltung und den Zustand des Stiegenhauses abzustellen, scheint kein geeigneter Maßstab. Wäre anders zu entscheiden, wenn der Versicherte Eigentümer eines Miethauses mit mehreren selbständigen Wohnungen ist und in einer dieser Wohnungen wohnt? Es erscheint auch nicht zielführend, den Versicherungsschutz von der Zugänglichkeit des Stiegenhauses, also davon abhängig zu machen, ob die Haustür abgeschlossen ist oder nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 ASGG.

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