OGH 10ObS43/16w

OGH10ObS43/16w10.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin und Dr. Johanna Biereder (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch hba Held Berdnik Astner & Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84‑86, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 10. März 2016, GZ 6 Rs 10/16m‑17, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00043.16W.0510.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1.1 Bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nach § 133 Abs 1 GSVG ist das Verweisungsfeld mit dem gesamten Arbeitsmarkt ident (RIS‑Justiz RS0086401). Nur die gänzliche Unfähigkeit, einem regelmäßigen (selbständigen oder unselbständigen) Erwerb nachzugehen, kann zur Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitspension führen. Maßgeblich ist daher allein, ob es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Berufe gibt, die der Versicherte aufgrund seiner noch vorhandenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zumutbar ausüben kann (10 ObS 117/13y, SSV‑NF 27/67; RIS‑Justiz RS0086458).

1.2 Der ***** 1952 geborene Kläger stellt auch in seiner Revision die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, dass er die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der in den Absätzen 2, 2a und 2b sowie 3 des § 133 GSVG geregelten Varianten der Erwerbsunfähigkeit nicht erfüllt, nicht in Frage. Da der Kläger nach den Feststellungen der Vorinstanzen auch bei Berücksichtigung seiner gesundheitsbedingten Einschränkungen jedenfalls noch Tätigkeiten in dem vom Erstgericht beispielhaft genannten Verweisungsberuf des Telefonisten erfüllen kann, steht die Beurteilung der Vorinstanzen, dass beim Kläger eine gänzliche Erwerbsunfähigkeit nicht vorliege, im Einklang mit der zitierten ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Eine Korrekturbedürftigkeit der Rechtsansicht der Vorinstanzen zeigt der Kläger in seiner Revision nicht auf.

2.1 Das Berufungsgericht hat darauf hingewiesen, dass die Feststellung, wonach auf einen „Fußanmarschweg“ zur Arbeitsstätte nicht Bedacht genommen werden muss, eine Grundlage im zusammenfassenden Gutachten des internistischen Sachverständigen hat, sodass die bereits in der Berufung vom Kläger behauptete Aktenwidrigkeit nicht vorliegt. Eine in zweiter Instanz mit nicht aktenwidriger Begründung verneinte Aktenwidrigkeit kann aber in dritter Instanz nicht mehr geltend gemacht werden (2 Ob 123/12w; 8 ObA 73/06b; 9 ObA 130/11z mwN).

2.2 Darüber hinaus ist das Berufungsgericht ohnedies ‑ wie vom Revisionswerber geltend gemacht ‑ davon ausgegangen, dass ihm (nur) ein „Anmarschweg“ (richtig: das Zurücklegen einer Wegstrecke zu Fuß) bis 500 m möglich ist. Nach der Rechtsprechung ist ein Versicherter solange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ‑ wie auch hier ‑ ohne wesentliche Einschränkungen ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher sowie nachher ohne unzumutbare Pausen eine Wegstrecke von jeweils 500 m zurücklegen kann (RIS‑Justiz RS0085049). Die auf dieser Rechtsprechung beruhende Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass selbst der Umstand, dass dem Kläger das Zurücklegen eines Fußwegs von mehr als 500 m nicht zumutbar ist, nicht die von ihm behauptete Erwerbsunfähigkeit zur Folge hätte, ist nicht korrekturbedürftig.

Es kommt entgegen der vom Kläger auch in der Revision vertretenen Rechtsansicht grundsätzlich nicht auf die Umstände an seinem konkreten Wohnort an, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt, weil der Versicherte sonst durch die Wahl seines Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pension beeinflussen könnte. Ein abgelegener Wohnort des Versicherten hat daher als persönliches Moment bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (RIS‑Justiz RS0085017, RS0084871). Der Kläger ist nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen in der Lage, zum Erreichen der Arbeitsstätte ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, ihm ist ein Ortswechsel ebenso wie Wochenpendeln möglich. Er ist daher, worauf das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat, in der Lage, durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herzustellen, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind (10 ObS 145/14t; RIS‑Justiz RS0085017 [T7]).

2.3 (Angebliche) Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die in der Berufung nicht geltend gemacht wurden, können nach ständiger Rechtsprechung auch im Verfahren in Sozialrechtssachen nicht mehr mit Erfolg in der Revision gerügt werden (RIS‑Justiz RS0043111 [T14]). Eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens, die darin liegen solle, dass auf einen im Anstaltsakt einliegenden Befund vom 1. 10. 2014 nicht eingegangen worden sei, hat der Kläger im Berufungsverfahren nicht geltend gemacht. Der Vorwurf, dass sich aufgrund dieses Anstaltsbefundes eine Unrichtigkeit und in sich bestehende Widersprüchlichkeit des gerichtlichen orthopädischen Sachverständigengutachtens ergeben würde, betrifft die vom Obersten Gerichtshof nicht zu überprüfende Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen (10 ObS 33/03f, RIS‑Justiz RS0043163).

2.4 Nach ständiger Rechtsprechung ist in keinem Fall der Verweisung zu berücksichtigen, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Arbeitsplatz finden wird (RIS‑Justiz RS0084833; RS0084863; RS0084720). Dieser Grundsatz gilt auch für die Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit nach § 133 Abs 1 GSVG (10 ObS 314/99w, SSV‑NF 14/2 mwN; 10 ObS 199/01i zu § 124 Abs 1 BSVG). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Erwerbsunfähigkeit wesentlich strenger ist als jener der Invalidität oder Berufsunfähigkeit, weil sich der Versicherte auf jede wie immer geartete Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt verweisen lassen muss (RIS‑Justiz RS0085118). Maßgeblich ist daher auch in diesem Zusammenhang nur, ob es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Berufe gibt, die der Versicherte aufgrund seiner noch vorhandenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zumutbar ausüben kann. Der Oberste Gerichtshof hat mehrfach ausgesprochen, dass gegen die Bestimmung des § 133 Abs 1 GSVG keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen (RIS‑Justiz RS0053358).

Der Berücksichtigung der konkreten Arbeitsmarktsituation in diesem Zusammenhang steht die gesetzliche Festlegung der Kompetenzbereiche der Pensionsversicherung einerseits und der Arbeitslosenversicherung andererseits entgegen. Die fehlende Nachfrage nach Arbeit fällt nur in den Risikobereich der Arbeitslosenversicherung (10 ObS 93/92, SSV‑NF 6/56; RIS‑Justiz RS0085056; RS0084347; RS0084720 [T8]). Der Gesetzgeber hat die Minderung der Arbeitsfähigkeit abstrakt durch Vergleich mit jener von körperlich und geistig gesunden Versicherten und durch Festlegung eines in den einzelnen Pensionsgesetzen differenzierten Kreises der Verweisungstätigkeiten, an denen die Restarbeitsfähigkeit gemessen wird, geregelt. Der Oberste Gerichtshof hat dazu bereits einmal das Vorliegen einer behaupteten Verfassungswidrigkeit verneint und ausgesprochen, dass eine Berücksichtigung gesunkener Nachfrage nach Arbeit in der Pensionsversicherung nicht durch Änderung der auf den bestehenden Gesetzen basierenden Rechtsprechung, sondern nur vom Gesetzgeber durch Einschränkung des Verweisungsfeldes erfolgen könnte (10 ObS 85/02a). Für die vom Revisionswerber unter Hinweis auf Art 7 B‑VG bzw Art 2 StGG begehrte Änderung der Rechtsprechung besteht daher keine Grundlage.

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