OGH 10ObS42/24k

OGH10ObS42/24k13.8.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und FI Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. G*, vertreten durch Dr. Gerhard Lebitsch, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. März 2024, GZ 12 Rs 31/24 a‑87, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00042.24K.0813.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension zum Stichtag 1. April 2021. Im Revisionsverfahren ist nur zu klären, ob der Kläger zum (durch Vollendung des 60. Lebensjahres ausgelösten neuen) Stichtag 1. August 2023 (vgl RS0084533; RS0085973) die Voraussetzungen des § 273 Abs 3 iVm § 255 Abs 4 ASVG erfüllt.

[2] Der Kläger hat das Studium der Wirtschaftspädagogik abgeschlossen. In den letzten 15 Jahren vor dem 1. April 2021 war er zunächst bei verschiedenen im Bereich der Beratung, Planung und Organisation im (auch internationalen) Verkehrsbereich tätigen Unternehmen überwiegend als Geschäftsführer, ansonsten als kaufmännischer Angestellter mit (denselben) Leitungs- und Managementfunktionen beschäftigt. In der Zeit von Oktober 2013 bis 31. Dezember 2019 (Vertragsende) war er bei der A* AG, einem lokalen Bahnunternehmen, als geschäftsführender Vorstand tätig. Er hatte dabei die Aufsicht über 20 bis 22 Mitarbeiter, war für sämtliche Vorgänge im Unternehmen verantwortlich und für alle rechtlichen und kaufmännischen Agenden sowie die Personalführung und das Marketing zuständig. Bei Personalmangel half er fallweise auch als Heizer, Bremser oder Zugführer aus.

[3] Die Tätigkeiten des Klägers waren sowohl nach dem Kollektivvertrag für die Handelsangestellten (KVH) als auch nach der Dienst- und Besoldungsordnung für die Bediensteten der österreichischen Privatbahnen (DBO) der höchsten Stufe zuzuordnen (Beschäftigungsgruppe 6 bzw Dienstverwendung „Direktor“). Diese umfassen Angestellte mit umfassenden Kenntnissen und mehrjähriger praktischer Erfahrung, die eine leitende, das Unternehmen entscheidend beeinflussende Stellung einnehmen.

[4] Da der Kläger zumindest seit 1. Jänner 2020 ohne Beschäftigung ist (und zuvor ab Oktober 2019 in Krankenstand war), ist ein „Dequalifizierungseffekt“ eingetreten, sodass seine Tätigkeit als Vorstand, Geschäftsführer und leitender Angestellter zum Stichtag 1. April 2021 nur mehr in der Beschäftigungsgruppe 5 des KVH bzw als Dienstverwendung „Abteilungsleiter I“ der DBO einzustufen ist. Das geht darauf zurück, dass seine lange Absenz vom Arbeitsmarkt zu einem Ausschluss von Tätigkeiten in der ersten Führungsebene führt.

[5] Aufgrund seines Leistungskalküls ist der Kläger in der Lage, zum neuen Stichtag 1. August 2023 Tätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 5 nach dem KVH bzw Tätigkeiten als „Abteilungsleiter I“ der DBO zu verrichten. Dazu zählen Angestellte mit Dispositions- und/oder Anweisungstätigkeiten, die schwierige Arbeiten selbständig und verantwortlich ausführen, oder Angestellte, die Tätigkeiten, wofür Spezialkenntnisse und praktische Erfahrung erforderlich sind, selbständig und verantwortlich ausführen. Bei derartigen Tätigkeiten (zB Leiter des Personalwesens, Leiter der Marketingabteilung oder eines organisatorisch selbständigen Fuhrparks etc) handelt es sich um leitende Tätigkeiten in der zweiten Führungsebene im kaufmännischen Bereich, die vom Kläger auch bisher zumindest als Teiltätigkeiten ausgeübt wurden, in einem zu seinem bisherigen Umfeld sehr ähnlichen arbeitskulturellen Umfeld erbracht werden und für die keine neuen Kenntnisse und Fähigkeiten erlernt werden müssen.

[6] Die Vorinstanzen gaben der auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab 1. April 2021 gerichteten Klage für die Zeit bis 31. Dezember 2021 statt, wiesen das darüber hinausgehende Begehren hingegen ab.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision des Klägers ist nicht zulässig.

[8] 1. Die Frage, ob eine Verweisungstätigkeit eine „zumutbare Änderung“ der im Sinne des Tätigkeitsschutzes nach § 273 Abs 3 iVm § 255 Abs 4 ASVG maßgebenden „einen“ Tätigkeit darstellt, kann nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden und stellt daher grundsätzlich keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0100022 [T25, T34, T37]; RS0117063 [T7]). Eine solche zeigt auch der Kläger nicht auf.

[9] 2. Beim Tätigkeitsschutz des § 255 Abs 4 ASVG handelt es sich nicht um einen Arbeitsplatzschutz, sondern um eine (besondere) Form des Berufsschutzes (RS0087658 [T3, T4]; 10 ObS 135/22h Rz 13 ua). Dieser stellt nicht auf die Anforderungen an einen bestimmten Arbeitsplatz, sondern auf die „Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt ab (RS0087658 [T2]; RS0087659 [T9]). Es kommt daher nicht auf die konkrete Tätigkeit, sondern die ausgeübte „abstrakte Tätigkeit“ und ihren im dargestellten Sinn typischen Inhalt an (RS0100022 [T17, T23]; 10 ObS 90/23t Rz 16; 10 ObS 182/13g ErwGr 5.3. ua).

[10] 3. Der Begriff der zumutbaren Änderung ist nach der Rechtsprechung zwar eng zu interpretieren (RS0100022 [T3, T6]). Eine Verweisung iSd § 255 Abs 4 ASVG ist nach der ständigen Rechtsprechung jedoch dann zumutbar, wenn die Verweisungstätigkeit bereits bisher als eine Teiltätigkeit ausgeübt wurde, damit keine gravierende Lohneinbuße verbunden ist und das Arbeitsumfeld dem bisherigen ähnlich ist (RS0100022; RS0120866). Bei qualifizierten Angestellten ist maßgeblich, ob bei der ausgeübten Tätigkeit und der Verweisungstätigkeit die anzuwendenden Berufskenntnisse, das Maß an Verantwortung, Kontakte mit anderen (Kunden, Mitarbeiter etc), Führungsaufgaben sowie die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit in der Arbeitsverrichtung ähnlich sind (RS0100022 [T15, T16]; 10 ObS 20/14k ErwGr 3.1. ua), was im Sinne von „vergleichbar“ oder „funktionell gleichartig“ zu verstehen ist (10 ObS 52/05b ua). Gewisse Einbußen an sozialem Prestige und – auch bedingt durch die etwaige um eine Stufe niedrigere kollektivvertragliche Einstufung – an Entlohnung muss jedoch hingenommen werden (RS0100022 [T18, T19, T22]; 10 ObS 34/17y ErwGr 4.1. und 4.2. ua). Wenn die bisherige Tätigkeit selbständig und eigenverantwortlich ausgeführt wurde, wäre allerdings eine Änderung auf eine deutlich untergeordnete, nur nach Weisungen und Vorgaben zu verrichtende Tätigkeit nicht zumutbar (10 ObS 39/11z; 10 ObS 113/08b ua).

[11] 4. Wenn das Berufungsgericht auf Basis dieser Grundsätze eine Verweisbarkeit des Klägers auf eine leitende Tätigkeit der zweiten Führungsebene bejaht, hält sich das in dem von der Rechtsprechung vorgegebenen Rahmen.

[12] 4.1. Das Berufungsgericht hat zu Recht betont, dass der Kläger zuletzt als Alleinvorstand der A*AG tätig und dabei für alle rechtlichen und kaufmännischen Agenden, für die Personalführung und das Marketing zuständig war. Wenn das Berufungsgericht davon ausgeht, das es sich dabei um den primären Aufgabenbereich des Klägers und nicht bloß um Teiltätigkeiten gehandelt habe, denen nach der Gewichtung im Arbeitsablauf oder ihrem zeitlichen Umfang nur untergeordneter Bedeutung zukommt (vgl RS0100022 [T13]; 10 ObS 16/13w ua), entspricht das seinem Vorbringen. Warum es sich dabei nicht um die – abstrakt gesehen – typischen (Kern‑)Aufgaben der Unternehmensführung handeln sollte, klärt der Kläger nicht auf. Den von ihm vermissten detaillierten Feststellungen, welche exakte Gewichtung die einzelnen Agenden jeweils hatten, bedurfte es angesichts dessen nicht.

[13] Die Feststellungen lassen auch die Beurteilung zu, dass die möglichen Verweisungstätigkeiten im Vergleich zur bisherigen Tätigkeit des Klägers keine deutlich untergeordneten (Teil‑)Tätigkeiten der bisherigen Tätigkeit darstellen, sondern Aufgaben umfassen, die von ihm auch bisher maßgeblich zu verrichten waren (insb Personalwesen, Marketing). Die der zweiten Führungsebene zuzuordnenden Verweisungstätigkeiten sind zudem nicht nur nach Vorgaben zu verrichten, sondern durch Verantwortung und selbständiges Arbeiten gekennzeichnet. Dass mit diesen Einschränkungen an Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit einhergehen, muss der Kläger akzeptieren. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Stellung als Vorstand einer Lokalbahn mit 22 Mitarbeitern in der Öffentlichkeit ein wesentlich höheres Ansehen genießt, als die in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten (vgl RS0084890 [T10]).

[14] 4.2. Es trifft zu, dass auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG eine Verweisung auf Teiltätigkeiten, die den Berufsschutz nicht erhalten können, ausscheidet (RS0100022 [T29]). Bei seiner Argumentation übersieht der Kläger aber, dass im Verweisungsfeld von Angestellten alle Berufe liegen, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie gleichwertige – nicht gleiche – Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (RS0084867). Innerhalb dieses Bereichs scheiden lediglich Verweisungen aus, die einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würden (RS0084867 [T9]; 10 ObS 103/22b Rz 9 ua). Auch ein Geschäftsführer kann daher nicht nur auf eine andere Geschäftsführertätigkeit sondern (berufsschutzerhaltend) auch eine gleichwertige Tätigkeit im Rahmen seiner Berufsgruppe verwiesen werden (RS0084931). Dass es dabei auf den sozialen Wert zum Stichtag ankommt (10 ObS 137/14s ErwGr 2.2. [Geschäftsführer]; 10 ObS 8/22g Rz 10 [leitender technischer Angestellter] ua), hat der Kläger schon in der Berufung nicht bestritten.

[15] 4.3. Soweit der Kläger darauf verweist, dass seine bisherige Tätigkeit Kontakte zu Aufsichtsräten und Aktionären, Politikern sowie in- und ausländischen Behörden und Verkehrsbetrieben beinhaltet habe und sich durch eine Verweisung auf Tätigkeiten der zweiten Führungshierarchie sein arbeitskulturelles Umfeld insofern drastisch ändern würde (vgl RS0100022 [T9, T36]), widerspricht das den Feststellungen. Im Übrigen ist ein gewisser Verlust an sozialem Prestige hinzunehmen.

[16] 4.4. Nach der ständigen Rechtsprechung hat die Prüfung einer möglichen Lohneinbuße abstrakt zu erfolgen, sodass nicht vom individuellen früheren Verdienst, sondern vom Durchschnittsverdienst gleichartig Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt auszugehen ist (RS0100022 [T20]; 10 ObS 40/22p Rz 24 ua). Ob die Ansicht des Berufungsgerichts, diese Judikatur betreffe nur (deutlich) darüber, nicht aber – wie hier – deutlich darunter liegende konkrete Einkommen, weil andernfalls eine bloß fiktive Einbuße, mit der der Versicherte tatsächlich gar nicht konfrontiert sei, berücksichtigt werde, zutrifft, muss hier nicht entschieden werden, weil die Einstufung der bisherigen Tätigkeit des Klägers zum (neuen) Stichtag (sowohl nach dem KVH als auch der DBO) jener der Verweisungstätigkeiten entspricht. Warum trotzdem und ungeachtet der gebotenen abstrakten Betrachtung entsprechende „Gehaltstabellen“ festzustellen gewesen wären, erläutert der Kläger nicht.

[17] 5. Zusammenfassend hat das Berufungsgericht die Verweisbarkeit des Klägers auch nach § 273 Abs 3 iVm § 255 Abs 4 ASVG somit vertretbar bejaht. Die Revision erweist sich demgemäß als unzulässig.

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