OGH 10ObS2/24b

OGH10ObS2/24b14.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. L*, vertreten durch Dr. Ernst Brunner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva‑Maria Bachmann‑Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 23. November 2023, GZ 8 Rs 96/23 f‑25, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00002.24B.0514.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto für den Zeitraum von 18. Juli 2021 bis 3. Oktober 2022 für ihre am 22. Mai 2021 geborene Tochter H*.

[2] Die Klägerin und H* halten sich überwiegend in Spanien auf, wo H* geboren wurde und auch beide an derselben Adresse in J*, Ibiza, gemeldet sind.

[3] Vor der Geburt von H* war die Klägerin in der Zeit von 1. Jänner 2020 bis 31. Dezember 2020 in Österreich als Erwachsenenvertreterin selbständig tätig, bezog daraus Einkünfte von 6.535,89 EUR und war gemäß § 2 Abs 1 Z 4 GSVG in der Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung pflichtversichert. Von 19. Dezember 2020 bis 17. Juli 2021 bezog sie zunächst Kranken- und anschließend Wochengeld.

[4] Mit Bescheid vom 4. November 2022 widerrief die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen die Zuerkennung des (pauschalen) Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum von 18. Juli 2021 bis 3. Oktober 2022 und verpflichtete die Klägerin zum Rückersatz der unberechtigt empfangenen Leistung von 4.896,54 EUR.

[5] Die Vorinstanzen gaben der dagegen erhobenen Klage statt.

[6] In ihrer außerordentlichen Revision spricht die Beklagte keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO an.

Rechtliche Beurteilung

[7] 1. Die Beklagte geht wie die Vorinstanzen davon aus, dass sich die Leistungszuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 hier nur aus ihrem Art 11 Abs 3 lit a, also aus einer „selbständigen Erwerbstätigkeit“ der Klägerin ergeben könnte. Da Art 1 lit b VO (EG) 883/2004 insofern auf das jeweilige Recht der Mitgliedstaaten verweist, ist für die kollisionsrechtliche Anknüpfung die nationale Definition des Begriffs der „selbständigen Erwerbstätigkeit“ sowie der dieser „gleichgestellten Situation“ in § 24 Abs 2 KBGG maßgeblich (10 ObS 36/21y Rz 24 und 28; RS0130043 [T9]). Demnach ist unter einer „Erwerbstätigkeit“ die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen (kranken- und pensionsversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit zu verstehen. Nach der Rechtsprechung kommt es dabei nicht auf eine Erwerbsabsicht oder einen Lohnsteuerabzug an, sondern darauf, ob eine „Erwerbstätigkeit“ ausgeübt wurde, aufgrund derer Sozialversicherungsbeiträge geleistet werden mussten (RS0128183; 10 ObS 71/23y Rz 17 ua).

[8] 1.1. Darauf aufbauend zieht die Beklagte zwar nicht in Zweifel, dass es einer lückenlosen Aneinanderreihung von Zeiten (einer Beschäftigung oder gleichgestellter Zeiten) iSd § 24 Abs 2 KBGG bedarf, um die Leistungszuständigkeit Österreichs zu begründen (ausführlich 10 ObS 64/23v Rz 16 ff mwN). Sie ist allerdings der Auffassung, dass die zeitlich relevante Tätigkeit der Klägerin als Erwachsenenvertreterin im Jahr 2020 keine Tätigkeit als neue Selbständige iSd § 2 Abs 1 Z 4 GSVG und damit auch keine Erwerbstätigkeit nach § 24 Abs 2 KBGG (in der hier anzuwendenden Fassung BGBl I 2013/117 [§ 50 Abs 14 KBGG]) darstelle. Auf ihre in der Revision dafür ins Treffen geführten Argumente ist aber nicht einzugehen, weil sie gegen das Neuerungsverbot verstoßen:

[9] 1.2. Nachdem die Beklagte ihre Ansicht in erster Instanz allein darauf gestützt hatte, dass die daraus erzielten Einkünfte die maßgebliche Versicherungsgrenze (§ 4 Abs 1 Z 5 iVm § 25 Abs 4 GSVG) nicht überschritten und daher keine Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung (sondern nur in der Krankenversicherung) ausgelöst hätten, vertrat sie in der Berufung den (neuen) Standpunkt, bei einer Tätigkeit als Erwachsenenvertreter handle es sich von vornherein nicht um eine Tätigkeit als neue Selbständige gemäß § 2 Abs 1 Z 4 GSVG. In der Revision hält sie – mit Blick auf § 2 Abs 1 Z 4 Satz 1 GSVG iVm § 22 Z 2 erster Fall EStG 1988 zu Recht (vgl nur Doralt in Doralt/ Kirchmayr/Mayr/Zorn, EStG21 § 22 Rz 122 ua) – selbst diese Ansicht nicht weiter aufrecht, sondern meint nunmehr, die Erwachsenenvertretung im Jahr 2020 habe lediglich einen Angehörigen betroffen, sodass (mangels Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsleben) bloß sonstige Einkünfte iSd § 29 EStG 1988 vorlägen, die nicht von § 2 Abs 1 Z 4 GSVG erfasst und somit auch keine Erwerbstätigkeit als neue Selbständige darstellen würden.

[10] 1.3. Auf diesen in erster Instanz nicht vorgebrachten tatsächlichen Umstand für die Verneinung einer (selbständigen) Erwerbstätigkeit iSd § 2 Abs 1 Z 4 GSVG bzw § 24 Abs 2 KBGG kann sich die für das Vorliegen des Rückforderungstatbestands behauptungs‑ und beweispflichtige Beklagte (vgl RS0086067 [T4]; 10 ObS 96/22y Rz 18) in der Revision nicht mehr berufen. Eine rein abstrakte Rechtsfrage zu entscheiden, ist indes nicht Aufgabe des Obersten Gerichtshofs (RS0111271).

[11] 1.4. Dass die Zeiten des Krankengeldbezugs gemäß Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 als Ausübung einer (hier:) selbständigen Erwerbstätigkeit (vgl 10 ObS 103/18x [ErwGr 3.5.]) gelten und jene des Wochengeldbezugs gleichgestellte (mutterschutzähnliche) Zeiten iSd § 24 Abs 2 KBGG sind (vgl 10 ObS 36/21y Rz 32 mwN), bezweifelt die Beklagte nicht.

[12] 2. Wenn die Beklagte aus den Entscheidungen zu 10 ObS 133/22i und 10 ObS 12/23x überdies ableitet, die Koordinierungs‑ und Antikumulierungsvorschriften der Art 67 ff VO (EG) 883/2004 würden nur gelten, wenn im anderen Mitgliedstaat eine vergleichbare Leistung gewährt werde, ist das nicht verständlich.

[13] 2.1. Tatsächlich hat der Oberste Gerichtshof darin bloß Selbstverständliches betont: Die Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 kommen lediglich dann zur Anwendung, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Ansprüche auf vergleichbare Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind (10 ObS 133/22i Rz 11; 10 ObS 12/23x Rz 16) – denn die Bestimmung einer Rangfolge, um Doppelleistungen zu vermeiden, ist überhaupt erst dann möglich. Für die auch hier vorliegende gegenteilige Konstellation, wenn also keine vergleichbaren Leistungen gewährt werden, wurde betont, dass in diesem Fall die Anknüpfung nach den allgemeinen Bestimmungen der Art 11 ff VO (EG) 883/2004 und der Regelung über die Exportpflicht des Art 67 VO (EG) 883/2004 erfolgt (10 ObS 133/22i Rz 11; 10 ObS 12/23x Rz 16). Die von der Beklagten unterstellte Aussage, es sei nicht bloß die Anwendung der Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 , sondern auch die Anwendung der Exportpflicht nach Art 67 VO (EG) 883/2004 vom Zusammentreffen gleichartiger Leistungen abhängig, ist den beiden Entscheidungen nicht zu entnehmen.

[14] 2.2. Die Exportpflicht ist ihrerseits Ausfluss des Art 7 VO (EG) 883/2004 („Aufhebung der Wohnortklauseln“), aus dem der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung folgert, dass ein Anspruch auf Leistungen weder dem Grunde noch der Höhe nach von einem Wohnsitz im Inland abhängig gemacht werden darf (10 ObS 26/24g Rz 17; 10 ObS 2/22z Rz 22 ua). Die Voraussetzung des § 2 Abs 1 Z 4 KBGG, wonach der Elternteil und das Kind den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben müssen, wird im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 insoweit überlagert (10 ObS 123/23w Rz 16; 10 ObS 45/19v [ErwGr 1.2.]; 10 ObS 41/19f [ErwGr 2.2.] ua).

[15] 2.3. Wenn das Berufungsgericht daher aus dem Anwendungsvorrang der VO (EG) 883/2004 folgert, dass der Umstand, dass die Klägerin und H* den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen (nicht im Bundesgebiet sondern) in Spanien haben, dem Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld nicht entgegenstehe, entspricht das der Rechtsprechung.

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