OGH 10ObS172/04y

OGH10ObS172/04y8.3.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Johannes Denk (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Elfriede R*****, vertreten durch Mag. German Storch und Mag. Rainer Storch, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Feststellung von Versicherungszeiten, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Juli 2004, GZ 12 Rs 38/04a-8, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 6. Februar 2004, GZ 8 Cgs 222/03k-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 15. 10. 1949 geborene Klägerin war von Jänner 2001 bis einschließlich Jänner 2002 arbeitslos. Den Anträgen der Klägerin vom 27. 12. 2000 und 1. 3. 2001 auf Gewährung von Notstandshilfe hat das AMS mit Bescheiden vom 9. 1. 2001 und 10. 4. 2001 jeweils mangels Notlage keine Folge gegeben, weil das anrechenbare Einkommen des Ehegatten der Klägerin die der Klägerin ansonsten zustehende Notstandshilfe übersteige (§ 33 AlVG, § 2 Notstandshilfeverordnung).

Mit Bescheid vom 5. 8. 2003 hat die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die von der Klägerin bis zum 1. 8. 2003 nach den österreichischen Rechtsvorschriften erworbenen Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung mit insgesamt 442 Versicherungsmonaten (386 Beitragsmonate der Pflichtversicherung, 44 Ersatzmonate, 12 Beitragsmonate der Weiterversicherung) festgestellt. In der dem Bescheid beigefügten Aufstellung der Versicherungszeiten ist beim Zeitraum 01. 2001 bis 01. 2002 angeführt: "keine Versicherungszeit".

Mit ihrer gegen den Bescheid erhobenen Klage begehrte die Klägerin die Feststellung auch dieser 13 Versicherungsmonate aus dem Zeitraum 01. 2001 bis 01. 2002 als Ersatzzeit.

Das Erstgericht wies das auf Feststellung der Zeit vom 1. 1. 2001 bis 31. 1. 2002 (13 Monate) als Ersatzzeit gerichtete Klagebegehren ab. Es schloss sich der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes (Erkenntnisse vom 14. 1. 2004, 2002/08/0038 und 2002/08/0202) an, dass die Anrechnung des Partnereinkommens und der damit verbundene Wegfall der Notstandshilfe als gemeinschaftsrechtlich zulässig anzusehen sei. Demnach verfolge die Notstandshilfe das sozialpolitische Ziel, Arbeitslosen (nur) im Falle der Notlage ein Mindesteinkommen zu sichern. Die Berücksichtigung von Partnereinkommen bei Ermittlung der Notlage diene diesem sozialpolitischen Ziel, das mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nichts zu tun habe. Daher verstoße die Regelung auch dann nicht gegen Art 4 Abs 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie 79/7/EWG (im Folgenden: RL), wenn dadurch wesentlich mehr Frauen als Männer keine Notstandshilfe erhalten sollten. Der VwGH habe zwar nicht im Speziellen die Ersatzzeitenbestimmung des § 227 Abs 1 Z 5 ASVG beurteilt, doch seien keine gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze erkennbar, die das sozialpolitische Ermessen des nationalen Gesetzgebers so weit einschränken würden, dass die Ersatzzeitenregelung gemeinschaftsrechtlich unzulässig wäre. Mangels Anspruch auf Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung liege daher für den Zeitraum von 1. 1. 2001 bis 31. 1. 2002 keine Ersatzzeit vor.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und führte in seiner rechtlichen Beurteilung aus:

Voraussetzung für die von der Klägerin angestrebte Anerkennung der Zeiten der Arbeitslosigkeit als Ersatzzeiten sei gemäß § 227 Abs 1 Z 5 ASVG der Bezug einer Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung. Bestehe daher infolge Anrechnung des Partnereinkommens kein Anspruch auf Notstandshilfe, führe dies auch zum Verlust von Ersatzzeiten. Für die Frage der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit dieser Regelung würden deshalb dieselben Überlegungen gelten wie für den Bereich der Notstandshilfe. Auch das Berufungsgericht schließe sich den Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofes zur gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des Verlustes der Notstandshilfe infolge Anrechnung des Partnereinkommens an. Nach Art 4 Abs 1 RL beinhalte der Grundsatz der Gleichbehandlung den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen, die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge, die Berechnung der Leistungen einschließlich der Zuschläge für Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen. Nach den Erkenntnissen des VwGH vom 14. 1. 1998, in denen die Rechtsprechung des EuGH zu Art 4 Abs 1 RL dargestellt und zusammengefasst worden sei, dienten die Regelungen über die Notlage als Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Notstandshilfe dem sozialpolitischen Ziel, Personen, die ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld erschöpft hätten, ohne wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert zu sein, nur im Falle einer Notlage ein Mindesteinkommen in Abhängigkeit von der Höhe des Arbeitslosengeldes zu sichern. Daher habe die Berücksichtigung von Einkünften des im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehepartners bei Ermittlung der Notlage mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes nichts zu tun. Die Regelung des Art 4 Abs 1 RL werde demnach auch dann nicht verletzt, wenn aufgrund der Berücksichtigung des Partnereinkommens innerhalb des Kreises der in Betracht kommenden Anspruchsberechtigten wesentlich mehr Frauen als Männer keine Notstandshilfe erhalten sollten. Schließlich seien alle in diesem Zusammenhang zu beurteilenden gemeinschaftsrechtlichen Fragen durch die Rechtsprechung des EuGH in einer Weise beantwortet, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibe. Der EuGH habe es bisher nicht nur als zulässig erachtet, Unterhaltspflichten von Beziehern einer Sozialleistung für die Höhe dieser Sozialleistung als maßgeblich festzulegen, sondern es auch zugelassen, das Erwerbseinkommen des Ehegatten zu berücksichtigen.

Zu der vom VwGH mangels Entscheidungserheblichkeit offen gelassenen Frage, inwieweit die Ersatzzeitenregelung des § 227 Abs 1 Z 5 ASVG dem Gemeinschaftsrecht entspreche, sei darauf zu verweisen, dass sich ein Mindestbeitrag des Notstandshilfeanspruchs unabhängig vom Partnereinkommen, mit der Folge, dass auch Ersatzzeiten gewährt werden müssten, auf keine gemeinschaftsrechtliche Grundlage stützen könne. Ob und welche Transferzahlungen ein Staat unabhängig von Einkommen und Vermögen als „Grundlohn" gewähre, liege zweifelsfrei in dessen sozialpolitischem Ermessen. Auch der Rechtsprechung des EuGH seien keine gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze zu entnehmen, aus denen abgeleitet werden könnte, dass einer arbeitslosen Person ein garantiertes Mindesteinkommen gewährt werden müsste. Ersatzzeiten seien bestimmte Zeiten, die - ohne dass für sie ein Beitrag entrichtet worden wäre - als leistungswirksam berücksichtigt werden. In der Regel seien es Zeiten, während derer der Versicherte aus verschiedenen vom Gesetzgeber anerkannten Gründen nicht in der Lage gewesen sei, Beiträge zu entrichten. Es stehe in der rechtspolitischen Freiheit des Gesetzgebers festzulegen, ab wann Zeiten als Ersatzzeiten gelten. Wegen der mit der beitragsfreien Anrechnung von Ersatzzeiten verbundenen besonderen finanziellen Belastung der Versichertengemeinschaft seien Beschränkungen dieser Begünstigung sachgerecht.

Nach Auffassung des Berufungsgerichtes werde die Grenze der Verhältnismäßigkeit nicht überschritten, wenn Arbeitslosen nach Auslaufen des Arbeitslosengeldanspruchs nur noch im Falle einer Notlage, die auch einen Anspruch auf Notstandshilfe bewirke, Ersatzzeiten gewährt werden, während Personen, die sich infolge des zum gemeinsamen Wirtschaften zur Verfügung stehenden Partnereinkommens nicht in einer Notlage befänden, diese Vergünstigung nicht gewährt werde. Wer sich nicht in einer Notlage befinde, sei nicht schlechthin vom Erwerb von Versicherungszeiten ausgeschlossen, sondern könne sich der freiwilligen Weiterversicherung, allerdings mit entsprechender Beitragsentrichtung, bedienen. Dieses System diene einem berechtigten Ziel der Sozialpolitik und setze hiefür auch geeignete und erforderliche Mittel ein, die mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nichts zu tun hätten. Die von der Berufungswerberin kritisierte Bestimmung des § 227 Abs 1 Z 5 ASVG stehe daher mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang. Ein Anlass, ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH einzuleiten, bestehe nicht.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

In ihrer Revision hebt die Klägerin hervor, dass es im vorliegenden Fall nicht nur (wie in den Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes) um den - zu einem Einkommensverlust führenden - Verlust der Notstandshilfe aufgrund des Vorhandenseins eines entsprechenden Familienkommens gehe, sondern auch um den Verlust von Ersatzzeiten, weshalb die Frage der Verhältnismäßigkeit verstärkt zu prüfen sei. Es sei bereits der gänzliche Wegfall der Notstandshilfe (einer Versicherungsleistung) infolge Anrechnung des Partnereinkommens mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, weil er aufgrund der fast ausschließlichen Betroffenheit von Frauen zu einer nicht durch objektive Gesichtspunkte gerechtfertigten mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bzw der Geschlechterrolle führe. Das klar und eindeutig formulierte Diskriminierungsverbot der RL sei daher unmittelbar in der Form anzuwenden, dass ein Anspruch der Klägerin auf Notstandshilfe zu bejahen sei. Die EuGH-Entscheidungen, die der Verwaltungsgerichtshof seinen Erkenntnissen vom 14. 1. 2004 zugrunde gelegt habe, beruhten alle darauf, dass gesetzliche Mindestleistungen existierten und nur Zuschläge zur Leistung aufgrund der Höhe des Familieneinkommens wegfielen. Gänzliche Verluste oder Nachteile in der gesetzlichen Pensionsversicherung (als Folge des Wegfalls einer anderen Versicherungsleistung) seien nicht Gegenstand der Verfahren vor dem EuGH gewesen. Die sozialpolitische Ungeeignetheit und Unverhältnismäßigkeit der österreichischen Regelung, die zum Verlust von Ersatzzeiten in der Pensionsversicherung sowie zahlreichen anderen sozialrechtlichen Nachteilen führe, zeige sich darin, dass sie die Dauer der Beitragszeiten nicht berücksichtige und dazu führe, dass die Pension der hauptsächlich davon betroffenen Frauen noch geringer werde.

Dazu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

1. Nach § 227 Abs 1 Z 5 ASVG gelten als Ersatzzeiten in dem Zweig der Pensionsversicherung, in dem die letzte vorangegangene Beitragszeit vorliegt, (neben anderen) diejenigen Zeiten, in denen der Versicherte nach dem 31. Dezember 1970 wegen Arbeitslosigkeit rechtmäßig eine Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung nach dem AlVG bezogen hat, weiters Zeiten des Ausschlusses vom Bezug der Notstandshilfe nach § 34 AlVG. Eine von § 227 Abs 1 Z 5 ASVG erfasste Geldleistung nach dem AlVG stellt neben dem Arbeitslosengeld (§§ 7 ff AlVG) und weiteren in § 6 AlVG aufgezählten Leistungen auch die Notstandshilfe (§§ 33 ff AlVG) dar (Teschner/Widlar, ASVG 59. Erg.-Lfg 1120). Ursprünglich wurde für den Erwerb von Ersatzzeiten (nur) auf den tatsächlichen Bezug einer Geldleistung abgestellt (Teschner/Widlar, ASVG 87. Erg.-Lfg 1122/1). Mit dem SRÄG 2000, BGBl I 2000/101, wurde in § 227 Abs 1 Z 5 ASVG der Ausdruck „rechtmäßig" eingefügt, um zu dokumentieren, dass zu Unrecht zuerkannte Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung nicht als ersatzzeitbegründend zu werten sind (AB 254 BlgNR 21. GP 7). Insoweit wurde dem Sozialversicherungsträger die Möglichkeit eingeräumt, die Rechtmäßigkeit des Bezugs einer Leistung für die Beurteilung eines Bezugszeitraums als Ersatzzeit in der Pensionsversicherung zu überprüfen; Grundvoraussetzung ist aber der tatsächliche Bezug einer Leistung (siehe unten 5.).

Bei Ersatzzeiten handelt es sich um Perioden, die ungeachtet des Umstands, dass für sie keine Beiträge entrichtet wurden, aus sozialpolitischen Gründen in der Pensionsversicherung als leistungswirksam berücksichtigt werden (RIS-Justiz RS0084574). In der Regel handelt es sich um Zeiten, während derer der Versicherte aus verschiedenen vom Gesetzgeber anerkannten Gründen nicht in der Lage war, Beiträge zu entrichten (zB Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft, Schul- und Studienzeiten nach Vollendung des 15. Lebensjahres, Krankengeldbezug, Arbeitslosigkeit, Kindererziehungszeiten u.ä.). Die Anerkennung von Ersatzzeiten durch den Gesetzgeber erfolgt in einer sehr kasuistischen Weise. Dies hängt auch damit zusammen, dass wegen der besonderen finanziellen Belastung, die die Versichertengemeinschaft durch solche beitragsfrei erworbene Ersatzzeiten trifft, die Anrechnung solcher Zeiten in einzelnen Fällen wiederum beschränkt wird. So zählen bestimmte Ersatzzeiten (zB Schul- und Studienzeiten) nur im Fall einer nachträglichen Beitragsentrichtung ("Nachkauf") für die Erfüllung der Wartezeit und die Bemessung der Leistungen. Bei anderen Ersatzzeiten werden die durch die Anrechnung in der Pensionsversicherung verursachten Aufwendungen durch die Überweisung von Pauschalbeträgen bzw Beiträgen aus anderen öffentlichen Kassen an den Versicherungsträger bzw an den Ausgleichsfonds der Pensionsversicherungsträger abgegolten (Teschner in Tomandl, SV-System, 16. ErgLfg 384 f, Punkt 2.4.3.1.3.2.). So leistet die Arbeitslosenversicherung Pauschalbeiträge für die Anerkennung von Zeiten der Arbeitslosigkeit als Ersatzzeiten (§ 447g Abs 3 ASVG).

Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrmals ausgesprochen, dass er gegen die Bestimmung des § 227 Abs 1 Z 5 ASVG unter dem Gesichtspunkt, ab welchem Zeitpunkt bestimmte Zeiten als Ersatzzeiten gelten, keine verfassungsrechtlichen Bedenken hegt (10 ObS 89/92 = SSV-NF 6/54; 10 ObS 3/95 = SVSlg 40.426; RIS-Justiz RS0083750). Diese Festlegung stehe in der rechtspolitischen Freiheit des Gesetzgebers. Wegen der mit der beitragsfreien Anrechnung von Ersatzzeiten verbundenen besonderen finanziellen Belastung der Versichertengemeinschaft sei eine Einschränkung dieser Begünstigung an sich nicht zu beanstanden.

2. Im Fall Gaygusuz gegen Österreich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die auf die fehlende österreichische Staatsbürgerschaft gegründete Verweigerung eines Pensionsvorschusses in Form der Notstandshilfe an einen türkischen Staatsangehörigen Art 14 EMRK iVm Art 1 1. ZP EMRK verletze. Das Recht auf diese Sozialleistung sei an die Zahlung von Arbeitslosenversicherungsbeiträgen geknüpft und es fehle an einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung ausschließlich aufgrund der Staatsangehörigkeit (EGMR 16. 9. 1996, Nr 39/1995/545/631, ÖJZ 1996, 955). Infolge dieser Entscheidung hat auch der österreichische Verfassungsgerichtshof seine frühere Rechtsprechung, dass der Anspruch auf Notstandshilfe nicht als vermögenswertes Recht iSd Art 1 1. ZP EMRK geschützt sei, geändert. In der Begründung des Erkenntnisses vom 11. 3. 1998, G 363-365/97-12 ua, mit dem Bestimmungen im Notstandshilferecht des AlVG wegen der unterschiedlichen Behandlung von inländischen und ausländischen Versicherten als EMRK-widrig aufgehoben wurden, hat der VfGH hervorgehoben, dass die Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung weitgehend beitragsfinanziert sind.

3. Der Anspruch auf Notstandshilfe setzt neben der Erschöpfung des Arbeitslosengeldes und der Antragstellung (§ 33 AlVG) voraus, dass sich der Arbeitslose, der der Vermittlung zur Verfügung steht, in einer Notlage befindet, die dadurch gekennzeichnet ist, dass ihm die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse unmöglich ist. § 36 Abs 2 AlVG enthält eine Verordnungsermächtigung zur näheren Determinierung des Begriffs „Notlage", wobei die Möglichkeit der Berücksichtigung von Partnereinkommen eingeräumt wird (insbesondere § 36 Abs 3 AlVG). Die Notstandshilfeverordnung sieht in ihrem § 2 Abs 1 vor, dass eine Notlage dann vorliegt, wenn das Einkommen des Arbeitslosen und das seines Ehepartners bzw Lebensgefährten zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse nicht ausreicht. Nach § 6 der Notstandshilfeverordnung ist der die Freigrenze von 430 EUR (bis 31. 12. 2001 5.495 ATS) übersteigende Teil des Einkommens des Partners auf die Notstandshilfe anzurechnen.

4. Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem am 14. 1. 2004 (2003/08/0002, infas 2004, S 26) entschiedenen Fall, in dem das gemäß § 6 der Notstandshilfeverordnung anzurechnende Einkommen des Lebensgefährten der Antragstellerin das Ausmaß der Notstandhilfe überstieg, keinen Zweifel an der Vereinbarkeit der Anrechnung des Partnereinkommens mit dem Gemeinschaftsrecht gehegt. Die Auswirkungen auf die Beschränkung der Gewährung von Ersatzzeiten hat er als nicht entscheidungserheblich angesehen. Diese Frage wäre „vielmehr in erster Linie von den ordentlichen Gerichten in Leistungsstreitverfahren über Leistungen aus der Pensionsversicherung sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht zu beantworten".

5. Soweit ein Bezug von Notstandshilfe zur Einräumung von Ersatzzeiten in der Pensionsversicherung nach § 227 Abs 1 Z 5 ASVG führen soll, stellt das Gesetz durch die Einschränkung auf den „rechtmäßigen" Bezug einen engen Konnex zu einem vorhandenen Anspruch auf Notstandshilfe her.

Nach dem Wortlaut führt nur ein tatsächlicher und rechtmäßiger Bezug von Notstandshilfe in einem bestimmten Zeitraum dazu, dass diese Zeiten (später) in der Pensionsversicherung als Ersatzzeiten angerechnet werden. Im Zusammenhalt mit den Bestimmungen des AlVG sind demnach alle diejenigen Personen vom Erwerb von Ersatzzeiten nach § 227 Abs 1 Z 5 ASVG ausgeschlossen, die keinen Antrag auf Notstandshilfe (§ 33 Abs 1 AlVG) gestellt haben, selbst wenn sie anspruchsberechtigt gewesen wären, weiters Personen, die die Antragsfrist (§ 33 Abs 4 AlVG) versäumt haben, und Personen, deren Anspruch von der zuständigen Stelle des Arbeitsmarktservice bescheidmäßig abgelehnt wurde, etwa auch im Hinblick auf ein Partnereinkommen, das die Notlage beseitigt.

Mit dem SRÄG 2000, BGBl I 2000/101, wurde in das AlVG folgender § 34 Abs 1 mit der Überschrift „Sicherung der Ersatzzeiten in der Pensionsversicherung" eingefügt: „Wer wegen der Berücksichtigung des Einkommens des Ehepartners (des Lebensgefährten bzw. der Lebensgefährtin) mangels Notlage keinen Anspruch auf Notstandshilfe hat und als Arbeitsloser im Jahr 2000 dem Jahrgang 1940, im Jahr 2001 dem Jahrgang 1940 oder 1941 und im Jahr 2002 dem Jahrgang 1940, 1941 oder 1942 angehört und als Arbeitslose im Jahr 2000 dem Jahrgang 1945, im Jahr 2001 dem Jahrgang 1945 oder 1946 und im Jahr 2002 dem Jahrgang 1945, 1946 oder 1947 angehört, erwirbt für die Dauer der Erfüllung der übrigen Voraussetzungen für die Notstandshilfe eine Ersatzzeit und eine Anspruchsvoraussetzung für die vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit in der Pensionsversicherung aus dem Titel einer Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung." In den Gesetzesmaterialien (RV 181 BlgNR 21. GP) wird die neue Bestimmung folgendermaßen begründet: "Die neue Regelung soll jenen älteren Arbeitslosen, die wegen eines die Freigrenzen übersteigenden Einkommens des Ehepartners oder Lebensgefährten keinen Anspruch auf Notstandshilfe haben und von der Anhebung der Altersgrenzen für die vorzeitige Alterspension unmittelbar betroffen sind, den Erwerb von Ersatzzeiten in der Pensionsversicherung ermöglichen. Auf Grund der unterschiedlichen Einkommensverteilung betrifft dies vor allem Frauen." In diesem Sinn hat der Gesetzgeber die sozialpolitische Problematik erkannt, dass die Anrechnung des Partnereinkommens im Arbeitslosenversicherungsrecht den Verlust von Ersatzzeiten im Pensionsversicherungsrecht zur Folge haben kann; er hat sie aber nur für eine ganz bestimmte Gruppe von Versicherten dadurch aufgelöst, dass er die ausnahmsweise Begründung von Ersatzzeiten ermöglicht hat.

6. Die Klägerin fällt allerdings aufgrund ihres Geburtsdatums nicht in die von § 34 AlVG privilegierte Gruppe. Der von ihr begehrten Anerkennung von Ersatzzeiten gemäß § 227 Abs 1 Z 5 ASVG für den Zeitraum 01.2001 bis 01.2002 (13 Monate) steht nach dem nationalen Recht der Umstand entgegen, dass sie im genannten Zeitraum keinen rechtmäßigen Bezug einer Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung aufweist, da ihr Anspruch auf Notstandshilfe für den genannten Zeitraum im Hinblick auf das Partnereinkommen (rechtskräftig) verneint worden ist.

Wie bereits unter 5. ausgeführt wurde, stellt die Ersatzzeitenregelung des § 227 Abs 1 Z 5 ASVG einen Konnex zu einem tatsächlichen (und seit dem SRÄG 2000 ausdrücklich auch rechtmäßigen) Bezug von Notstandshilfe her. Ob für einen bestimmten Zeitraum ein Anspruch auf eine Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung besteht oder bestanden hat, ist nach dem innerstaatlichen Recht nicht von einem Gericht, sondern von der zuständigen Organisationseinheit des Arbeitsmarktservice, eines Dienstleistungsunternehmens des öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit (§ 1 Abs 1 AMSG) zu entscheiden. Im Hinblick auf die von Art 94 B-VG verfügte Gewaltentrennung sind Gerichte an rechtskräftige verwaltungsbehördliche Entscheidungen gebunden (10 ObS 15/99z = SSV-NF 13/43; RIS-Justiz RS0036880; eingehend zur Problematik Schragel in Fasching/Konecny2 II/2 § 190 ZPO Rz 14). Dieser Grundsatz gilt uneingeschränkt jedenfalls dann, wenn eine in das gerichtliche Verfahren eingebundene Person - wie hier die Klägerin - bereits Partei des präjudiziellen Verwaltungsverfahrens war und dort rechtliches Gehör hatte (2 Ob 182/97x = RZ 1998/20).

Eine Bindung an rechtskräftige Entscheidungen anderer Behörden ist bei der Feststellung von Ersatzzeiten nicht außergewöhnlich, etwa bei der Bindung an rechtskräftige strafgerichtliche Schuldsprüche im Rahmen der Ersatzzeitenanrechnung nach § 228 Abs 1 Z 4 ASVG (eingehend dazu Marschall, Historische Haftzeiten als Eratzzeiten [1980] 62 ff). Da aus Sicht des Zeitpunkts der Feststellung, ob strittige Zeiten als Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung anrechenbar sind oder nicht, diese Zeiten üblicherweise schon länger zurückliegen, ist eine Anknüpfung an formalisierte Tatbestände, zB den Bezug von Krankengeld oder Kinderbetreuungsgeld (so in § 227a Abs 5 Z 1 ASVG), auch aus den Gesichtspunkten der Praktikabilität und Beweisbarkeit nahe liegend. Damit wird vor allem auch verhindert, dass ein Versicherter die Anrechnung von Ersatzzeiten mit der Begründung verlangen kann, er hätte in dem betreffenden Zeitraum Anspruch auf eine bestimmte Leistung gehabt, habe diese aber tatsächlich nicht erhalten (etwa weil er keinen oder einen verspäteten Leistungsantrag gestellt hat oder weil die Rechtsprechung zu den Leistungsvoraussetzungen seinerzeit noch einen anderen Standpunkt als später eingenommen hat, sodass eine Antragstellung aussichtslos gewesen wäre).

7. Wie bereits der Verwaltungsgerichtshof in seinem unter 4. erwähnten Erkenntnis am 14. 1. 2004 (2002/08/0002, infas 2004, S 26) angedeutet hat, wäre in Betracht zu ziehen, dass zwar die vom österreichischen Gesetzgeber vorgesehene Anrechnung des Partnereinkommens auf die Notstandshilfe mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, nicht (mehr) aber die Auswirkungen auf die Pensionshöhe, zumal diese im Bescheid des AMS auch nicht explizit angesprochen wurden. Doch ist dieser Weg einer Trennung zwischen „primären" und „sekundären" Auswirkungen einer Norm und der darauf gestützten individuellen Rechtsakte nicht gangbar, weil damit ein unüberwindbarer Konflikt mit den unter 6. angeführten Grundsätzen der Gewaltentrennung und der Bindungswirkung ausgelöst würde.

8. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs richtet sich - mangels gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften - die Vollziehung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der "Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten" nach dem nationalen Recht (Stix-Hackl, Aspekte der Verfahrensautonomie von Mitgliedstaaten, AnwBl 1999, 413; Schilling, EuZW 1999, 407). Das nationale Recht darf allerdings nicht ungünstiger ausgestaltet werden als für Verfahren, die rein innerstaatliche Sachverhalte betreffen (Diskriminierungsverbot), und es darf die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht werden (Effektivitätsgebot). Daher sind auch die Rechtswirkungen individueller Vollzugsakte einschließlich ihrer Anfechtbarkeit und Bestandskraft nach dem nationalen Recht zu beurteilen (Schilling, EuZW 1999, 407; Hatje, Die Rechtskraft und ihre Durchbrechungsmöglichkeiten im Lichte des Gemeinschaftsrechts, in Holoubek/Lang (Hrsg), Das EuGH-Verfahren in Steuersachen [2000] 133 [135]; Thienel, Verwaltungsverfahrensrecht3 [2004] 292). In Bezug auf die Rechtskraft von Bescheiden räumt auch der EuGH nach Ablauf von Rechtsmittelfristen der Rechtssicherheit Vorrang vor der Rechtsrichtigkeit ein. So hat der EuGH zuletzt in seinem Urteil vom 13. 1. 2004 in der Rs C- 453/00 , Kühne & Heitz NV gegen Productschap voor Pluimvee en Eieren unter Tz 24 erneut darauf hingewiesen, dass die Rechtssicherheit zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört und die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, zur Rechtssicherheit beiträgt. Daher verlangt das Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Behörde grundsätzlich verpflichtet wäre, eine bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen. Eine Verpflichtung zur Überprüfung und allfälligen Aufhebung einer rechtskräftigen Entscheidung, um dem Gemeinschaftsrecht zum Durchbruch zu verhelfen (etwa um einer mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung einer einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen), besteht nach dem Gerichtshof - auf der Grundlage des in Art 10 EG verankerten Grundsatzes der Zusammenarbeit - aber dann (und nur dann), wenn die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, die Entscheidung zurückzunehmen, seinerzeit von dem letztinstanzlich entscheidenden Gericht zu Unrecht kein Vorabentscheidungsersuchen gestellt wurde und der Betroffene sich an die Behörde gewandt hat, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der Entscheidung des Gerichtshofes erlangt hat, mit der eine einschlägige Bestimmung ausgelegt wurde (EuZW 2004, 215; siehe dazu etwa Urlesberger, Zur Rechtskraft im Gemeinschaftsrecht, ZfRV 2004, 99, und Thienel, Verwaltungsverfahrensrecht3 293).

Nach dem nationalen österreichischen Recht kommt für eine Beseitigung einer rechtskräftigen Entscheidung im Zusammenhang mit Ansprüchen aus der Arbeitslosenversicherung § 69 AVG in Betracht (VwGH 3. 10. 2002, 2002/08/0047). So wie im vergleichbaren Fall des § 101 ASVG ist die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 69 AVG im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltentrennung allerdings den Gerichten zwingend entzogen (EvBl 1962/32 = RIS-Justiz RS0049687; zu § 101 ASVG siehe 10 ObS 116/01h = SSV-NF 15/68; RIS-Justiz RS0084076, RS0084088).

Die Klägerin kann damit die rechtskräftigen Entscheidungen des AMS über den fehlenden Anspruch auf Notstandshilfe nicht vor dem Sozialgericht überprüfen lassen. In Betracht käme nur ein Ausschluss einer Bindung des Sozialgerichts an die beiden Bescheide vom 27. 12. 2000 und 1. 3. 2001, genauer ein Verbot der Heranziehung dieser früheren Bescheide bei der Feststellung der Ersatzzeiten (Frank, Altes und Neues zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor staatlichem Recht, ZöR 2000, 1 [55] spricht davon, dass ein früherer Bescheid wegen der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit seines Inhalts nicht effektuiert werden darf).

9. Zur Frage der Gemeinschaftskonformität einer im nationalen Recht vorgesehenen Bindungswirkung einer früheren Entscheidung in Bezug auf eine spätere Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof beispielsweise im Urteil vom 1. 6. 1999, Rs C-126/97, Eco Swiss China Time Ltd/Benetton International NV (Slg 1999, I-3055 = EuR 1999, 642 = EuZW 1999, 565, N. Spiegel), ausgeführt, dass das Gemeinschaftsrecht nicht verlangt, dass ein Gericht von der Anwendung nationaler Vorschriften absieht, die eine Bindung an eine Vorentscheidung vorsehen. In diesem Fall ging es um die Bindung an einen „Zwischenschiedsspruch", der den Charakter eines endgültigen Schiedsspruchs hatte und gegen den nicht rechtzeitig innerhalb der dafür vorgesehen Frist von drei Monaten Aufhebungsklage erhoben wurde. Ein solcher Schiedsspruch kann durch einen späteren Schiedsspruch auch dann nicht mehr in Frage gestellt werden, wenn das erforderlich wäre, um im Rahmen eines gegen den späteren Schiedsspruch gerichteten Aufhebungsverfahrens die Nichtigkeit eines Vertrages (wegen Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht) zu überprüfen. Der EuGH stellte unter Tz 46 dar, dass die in nationalen Verfahrensvorschriften vorgesehenen Beschränkungen der Außerachtlassung rechtskräftiger Vorentscheidungen „durch grundlegende Prinzipien des nationalen Rechtssystems, wie das der Rechtssicherheit und das daraus abgeleitete Prinzip der Beachtung der Beachtung der Rechtskraft, gerechtfertigt sind".

Der Oberste Gerichtshof übersieht nicht, dass der EuGH am 29. 4. 1999 (also kurz vor der Entscheidung Eco Swiss/Benetton) in dem in der Rs C-224/97, Erich Ciola gegen Land Vorarlberg (Slg 1999, I-2517 = EuZW 1999, 405, Schilling = AnwBl 1999, 412, Stix-Hackl) ergangenen Urteil ausgesprochen hat, dass ein gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßendes Verbot, das vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union nicht durch eine generell-abstrakte Rechtsvorschrift, sondern durch eine individuell-konkrete, bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung eingeführt wurde, bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe, die nach dem Zeitpunkt des Beitritts wegen der Nichtbeachtung dieses Verbots verhängt wurde, unangewendet bleiben muss, weil ansonsten der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts unterlaufen werden könnte.

In diesem Fall kollidieren zwei in der Rechtsprechung des EuGH anerkannte Grundsätze: einerseits der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht, andererseits die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, die die Anwendung nationalen Verfahrensrechts auch auf gemeinschaftsrechtlich geregelte Sachverhalte vorsieht. Der zweite Grundsatz genießt an sich in der EuGH-Judikatur als speziellerer Satz Vorrang (Schilling, EuZW 1999, 407 mwN).

Die in einer Dreierkammer des EuGH ergangene Entscheidung in der Rs Ciola überraschte mit ihrer Aussage zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch vor rechtskräftigen individuellen Verwaltungsakten insofern, als der Gerichtshof bereits zuvor die Maßgeblichkeit des nationalen Verfahrensrechts und insbesondere der darin geregelten Fristen betont und konsequent den doppelten Maßstab aus Diskriminierungsverbot und Effektivitätsgebot (siehe 8.) angewandt hatte. Auf diese Grundsätze ist der EuGH (in dem kurz danach ergangenen, schon erwähnten Eco Swiss/Benetton -Urteil) allerdings umgehend und ohne Auseinandersetzung mit der Ciola -Entscheidung wieder eingeschwenkt (eingehend Gundel, Bootsliegeplatz-Privilegien für Einheimische: Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit und Durchbrechung der nationalen Rechtskraft-Regeln? EuR 1999, 781 [787]).

Die Besonderheit des Falles Ciola (Thienel, Verwaltungsverfahrensrecht3 292, spricht beispielweise von einer „sehr spezifischen Situation") lag darin, dass die vom Unabhängigen Verwaltungssenat als präjudiziell angesehene Vorentscheidung der Bezirkshauptmannschaft Bregenz im Jahr 1990 ergangen war, also zu einem Zeitpunkt, in dem die Grundfreiheiten in Österreich noch nicht geltendes Recht darstellten. Rein formal betrachtet wäre der Rechtsschutz eröffnet gewesen, aber im Hinblick auf die Nichtgeltung der Dienstleistungsfreiheit nicht materiell nutzbar. Zum Zeitpunkt des Beitritts Österreichs mit 1. 1. 1995 war die als präjudiziell angesehene Verwaltungsentscheidung der Bezirkshauptmannschaft Bregenz bereits unanfechtbar geworden. Es liegt auf der Hand, dass ein Ergebnis, das die Durchsetzung der Garantien des Gemeinschaftsrechts auch nach dem Beitritt auf Dauer vereiteln würde, dem Gebot der Mindesteffektivität widerspricht. Demgegenüber geht die Begründung des EuGH zu weit (Pelzl, Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber individuellen Verwaltungsakten, ELR 1999, 199 f; Schilling, EuZW 1999, 407 f; Fraberger, Wirkung von EuGH-Urteilen und Rechtskraftdurchbrechung im Abgabenverfahren, in Holoubek/Lang (Hrsg), Das EuGH-Verfahren in Steuersachen [2000] 151 [169 f]; krit auch Stix-Hackl, AnwBl 1999, 412 [414] und Bußjäger, Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber individuellen Verwaltungsakten, ecolex 2000, 74 [76]; ebenfalls einschränkend B. Spiegel, Auswirkungen des EG-Rechts auf das unterschiedliche Pensionsalter für Frauen und Männer, DRdA 2004, 3, 116 [118]). Sie wurde auch - wie erwähnt - in der Entscheidung Eco Swiss/Benetton nicht mehr aufrechterhalten (Gundel, EuR 1999, 787 ff).

Der maßgebliche Unterschied zum vorliegenden Fall ist nicht nur darin zu sehen, dass sich die Gemeinschaftsrechtskonformität der Bescheide des AMS nicht geändert hat, sondern vor allem darin, dass der Klägerin auch schon in Bezug auf eine Durchsetzung des Anspruchs auf Notstandshilfe die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zugute gekommen wären. Hat sie nicht auf deren Anwendung gedrungen (auch im Hinblick auf die möglichen Auswirkungen auf die Anrechnung von Ersatzzeiten), muss - soweit nicht im Verwaltungsverfahren § 69 AVG angewandt werden kann - der Grundsatz der Rechtssicherheit vor einer Berufung auf Gemeinschaftsrechtswidrigkeit in einem späteren Verfahren vorgehen. Der mit dem Verlust des Notstandshilfeanspruchs infolge Partnereinkommens verbundene Verlust von entsprechenden Ersatzzeiten ist - über den Umweg des § 227 Abs 1 Z 5 ASVG - schon eine Folge der Anrechnungsvorschrift des § 36 AlVG, deren Anwendung durch das AMS nicht mehr im gerichtlichen Verfahren (über den Anspruch auf Anrechnung von Ersatzzeiten) dahin überprüft werden kann, ob die Versagung des Notstandshilfsanspruchs rechtmäßig erfolgt war oder nicht. Eine allfällige Gemeinschaftsrechtswidrigkeit müsste daher auch unter dem Gesichtspunkt des Verlustes von Ersatzzeiten im Verfahren über den Anspruch auf Notstandshilfe geltend gemacht werden; im gerichtlichen Verfahren kann diese Frage nicht mehr aufgerollt werden (ebenso 1 Ob 236/03t = ÖJZ-LSK 2004/55).

Der Revision der Klägerin ist daher ein Erfolg zu versagen. Ein Anlass zur Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens besteht im Hinblick auf die jüngere Judikatur des EuGH zum Vorrang der Rechtssicherheit kein Anlass.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte