OGH 10ObS159/03k

OGH10ObS159/03k17.6.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Paul Kunsky (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Georg Eberl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G***** M*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr. Hans Pernkopf, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Jänner 2003, GZ 10 Rs 371/02f-27, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 27. August 2002, GZ 22 Cgs 158/01p-24, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 15. 1. 1956 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 3. 2001) überwiegend als Bedienerin beschäftigt.

Die Klägerin ist nach den getroffenen Feststellungen seit der Antragstellung weiterhin für leichte und halbzeitig mittelschwere Arbeiten in normaler Arbeitszeit im Sitzen, Gehen oder Stehen mit durchschnittlichem, drittelzeitig besonderem Leistungs- und Zeitdruck geeignet. Sie ist für Arbeiten mit einfachem psychischen Anforderungsprofil umschulbar und unterweisbar. Eine Mengenleistungstätigkeit ist zumutbar, die Einordenbarkeit ist mit Ausnahme des Produktionsbereiches einer Fabrik gegeben. Die Fingerfertigkeit ist für Feinst-, Fein-, Gröber- und Grobmanipulationen ausreichend. Nicht möglich sind Arbeiten mit ständigem tiefen Bücken.

Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kommen für die Klägerin weiterhin Tätigkeiten wie beispielsweise als Portierin in größeren Gewerbe- und Industriebetrieben, Museumsaufseherin oder Hilfskraft im Wäschehandel in Frage.

Mit Bescheid vom 20. 4. 2001 wurde der Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Invaliditätspension mangels Invalidität abgelehnt.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 3. 2001. Die Klägerin brachte im Verfahren insbesondere vor, aus dem Verlauf ihres Krankheitsbildes innerhalb der letzten Jahre ergebe sich, dass jährlich mit mehr als sieben Wochen Krankenstandsdauer und Krankenhausaufenthalten zu rechnen sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es die weitere Feststellung traf, dass bei Einhaltung des Gesamtkalküls vermehrte Krankenstände nicht prognostiziert werden können. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, dass die Klägerin nicht invalid sei im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG, weil sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch eine Reihe von Verweisungsberufen ausüben könne.

Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin dagegen erhobenen Berufung keine Folge. Es sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei, weil eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht vorliege.

Gegen dieses Urteil brachte die Klägerin einen Antrag gemäß § 508 Abs 1 ZPO, verbunden mit einer ordentlichen Revision, sowie eine gleichlautende außerordentliche Revision mit einer darin enthaltenen Zulassungsbeschwerde ein.

Das Berufungsgericht änderte in der Folge seinen Unzulässigkeitsausspruch dahin ab, dass die ordentliche Revision doch für zulässig erklärt werde, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Feststellung "vermehrte Krankenstände sind nicht prognostizierbar" dem Obersten Gerichtshof als ungenügend erscheine und darin tatsächlich ein Feststellungsmangel erblickt werde.

In ihrem Rechtsmittel, welches auf die Revisionsgründe der Aktenwidrigkeit, der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützt ist, begehrt die Klägerin die Abänderung der bekämpften Entscheidung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat von der ihr ausdrücklich eingeräumten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung zu erstatten, keinen Gebrauch gemacht.

Rechtliche Beurteilung

Der an das Berufungsgericht gerichtete Antrag der Klägerin auf Abänderung des Unzulässigkeitsausspruches dahin, dass die ordentliche Revision doch für zulässig erklärt werde, war verfehlt, weil in Streitigkeiten in Arbeits- und Sozialrechtssachen (§ 502 Abs 5 Z 4 ZPO in der hier bereits anzuwendenden Fassung der ZVN 2002, BGBl I Nr 76/2002) gemäß § 505 Abs 4 ZPO eine außerordentliche Revision erhoben werden kann, wenn das Berufungsgericht im Berufungsurteil nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO ausgesprochen hat, dass die ordentliche Revision nicht nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig ist. Einer Abänderung des Ausspruches für die Zulässigkeit der Revision durch das Berufungsgericht bedarf es in diesem Fall nicht (vgl 6 Ob 73/02g und 9 Ob 321/99t zu einer bestandrechtlichen Streitigkeit nach § 49 Abs 2 Z 5 JN sowie 5 Ob 39/99t zu einer familienrechtlichen Streitigkeit nach § 49 Abs 2 Z 2b JN). Die Regelung des § 502 Abs 5 Z 4 ZPO bezweckt nämlich, Entscheidungen im arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren im Hinblick auf die soziale Bedeutung der in diesem Verfahren zu regelnden Streitigkeiten den bestandrechtlichen Streitigkeiten nach § 49 Abs 2 Z 5 JN über eine Kündigung, Räumung oder das Bestehen des Vertrags über unbewegliche Sachen (§ 502 Abs 5 Z 2 ZPO) sowie den im § 49 Abs 2 Z 1, 2a, 2b und 2c JN bezeichneten familienrechtlichen Streitigkeiten (§ 502 Abs 5 Z 1 ZPO) in Ansehung der Revisionszulässigkeit gleichzustellen (vgl RV 962 BlgNR XXI. GP 45).

Die Zulässigkeit der Revision ist daher vom Obersten Gerichtshof ohne Bindung an den angeführten Beschluss des Berufungsgerichtes ausschließlich nach § 502 Abs 1 ZPO zu beurteilen (vgl 6 Ob 73/02g; 3 Ob 337/99a; 9 Ob 321/99t ua).

Die außerordentliche Revision der Klägerin ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen ist, und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Eingangs ist festzuhalten, dass die Bezeichnung der beklagten Partei amtswegig von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war, weil mit 1. 1. 2003 alle Rechte und Verbindlichkeiten der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter auf die neu errichtete Pensionsversicherungsanstalt als Gesamtrechtsnachfolger übergingen (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Nov BGBl I Nr 1/2002).

Strittig ist im Revisionsverfahren nur der von den Vorinstanzen verneinte Ausschluss vom allgemeinen Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit der Frage künftiger Krankenstände.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist ein Ausschluss vom Arbeitsmarkt nur dann anzunehmen, wenn die maßgebliche Gesamtdauer der voraussichtlichen Krankenstände mit hoher Wahrscheinlichkeit sieben Wochen jährlich oder mehr beträgt (SSV-NF 10/14; 7/76 uva; RIS-Justiz RS0084898 [T 1]; RS0084429 [T 3]; RS0113471). Die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß bei Verrichtung dem Leistungskalkül entsprechender Arbeiten künftig Krankenstände mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, ist eine Tatsachenfrage, die von den Gerichten erster und zweiter Instanz aufgrund von Gutachten ärztlicher Sachverständiger zu klären ist. Wenn auch eine absolut sichere Aussage zur Frage künftiger Krankenstände medizinisch oft nicht möglich ist, muss dennoch ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit gefordert werden. Es trifft daher den Versicherten die (objektive) Beweislast dafür, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit mit jährlichen Krankenständen von sieben Wochen oder mehr zu rechnen ist (RIS-Justiz RS0086045; RS0086050). Nur dann sind die Voraussetzungen für die begehrte Leistung erfüllt (SSV-NF 6/70 ua).

Ob dies bei der Klägerin der Fall ist, kann jedoch nicht verlässlich beurteilt werden, weil zur Frage der voraussichtlichen Krankenstandsdauer keine ausreichende Feststellungsgrundlage vorliegt. Die vom Erstgericht hiezu getroffene und vom Berufungsgericht übernommene Feststellung, dass "bei Einhaltung des Gesamtkalküls vermehrte Krankenstände nicht prognostizierbar sind", ist unklar. Eine solche Feststellung reicht nicht aus, einen Ausschluss der Klägerin vom allgemeinen Arbeitsmarkt zu verneinen, weil die Dauer "vermehrter Krankenstände" hieraus auch nicht annähernd (im Sinne der oben wiedergegebenen Judikatur des Senates) eingestuft und abgeschätzt werden kann (10 ObS 421/98d). Dies trifft insbesondere im vorliegenden Fall zu, da die Klägerin, wie in den Rechtsmittelausführungen näher dargelegt wird, bereits in der Vergangenheit und auch laufend längere Krankenstandszeiten aufweist. In welchem Umfang die Klägerin in der Vergangenheit Krankenstände konsumierte, ist allerdings für die Entscheidung nicht von ausschlaggebender Bedeutung, weil diese, selbst wenn sie berechtigt waren, immer nur im Zusammenhang mit der konkret verrichteten Tätigkeit zu sehen sind. Wesentlich ist ausschließlich die Krankenstandsprognose, ausgehend von den Anforderungen in den Verweisungsberufen (SSV-NF 7/75 uva). In der Vergangenheit liegende Krankenstände können daher allenfalls ein Beweiswürdigungsindiz für die Prognose abgeben, brauchen aber nicht näher festgestellt werden (SSV-NF 14/31 mwN). Feststellungsmängel liegen daher in diesem Zusammenhang nicht vor. Es kommt auch nicht darauf an, ob ein Versicherter einen Krankenstand in Anspruch nimmt (genommen hat), sondern ob ein solcher Krankenstand aus medizinischer Sicht notwendig ist (SSV-NF 14/31 mwN). Im Hinblick darauf, dass die Invaliditätspension ab dem Stichtag 1. 3. 2001 begehrt wird, wird insbesondere auch festzustellen sein, in welcher Dauer bei der Klägerin bei Ausübung einer ihrer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit entsprechenden Tätigkeit seit dem Stichtag und in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankenstände zu erwarten waren und sind (10 ObS 314/91).

Da die Feststellungsgrundlage zu verbreitern ist und für die abschließende Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt blieben, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur Verhandlung und neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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