European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00138.23A.0813.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Grundrechte, Sozialrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die Vorinstanzen verneinten den Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Alterspension ab 1. 9. 2022, weil der Kläger das 65. Lebensjahr (§ 4 Abs 1 APG, § 253 Abs 1 ASVG) noch nicht vollendet hatte.
[2] Das Berufungsgericht erkannte in dem zum Stichtag noch geltenden unterschiedlichen Regelpensionsalter von Männern und Frauen keinen Verstoß gegen das Verfassungs- oder das Unionsrecht. Es ließ die Revision nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
[3] Die außerordentliche Revision des Klägers ist nicht zulässig.
[4] 1. Das Regelpensionsalter ist Gegenstand des Bundesverfassungsgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten (BVG Altersgrenzen, BGBl 1992/832). Gemäß dessen § 1 sind gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten in der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig. Die §§ 2 und 3 statuieren ein bundesverfassungsgesetzliches Gebot an den Gesetzgeber, für weibliche Versicherte die Altersgrenze jährlich mit 1. Jänner um sechs Monate zu erhöhen, und zwar für die vorzeitige Alterspension beginnend mit 1. 1. 2019 bis 2028 (§ 2) und für die Alterspension beginnend mit 1. 1. 2024 bis 2033 (§ 3). Die Altersgrenze für die Alterspension für weibliche Versicherte steigt somit seit 1. 1. 2024 in Sechsmonatsschritten bis zum Jahr 2033 auf das vollendete 65. Lebensjahr an, sodass das Regelpensionsalter für Frauen und Männer (erst) im Jahr 2033 gleich sein wird.
[5] Diese schrittweise Erreichung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern hinsichtlich des Regelpensionsalters spiegelt sich in § 16 Abs 6 APG wieder (vgl § 253 Abs 1 ASVG, § 130 Abs 1 GSVG, § 121 Abs 1 BSVG) wieder (10 ObS 26/20a [Rz 19]).
[6] 2.1. Mit Beschluss vom 13. 6. 2023, AZ G 184–186/2023, lehnte der Verfassungsgerichtshof den gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B‑VG gestellten Parteiantrag des Klägers auf Normenkontrolle, mit dem der Kläger die Aufhebung des BVG Altersgrenzen, der Wortfolge „nach Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter)“ in § 4 Abs 1 APG idF BGBl I 2023/36, der Wortfolge „nach Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter), die Versicherte“ in § 253 Abs 1 ASVG idF BGBl I 2023/36, des § 16 Abs 6 APG idF BGBl I 2023/36, des § 4 Abs 2 bis 4 und 7 leg cit, der Wortfolgen „(§§ 4 Abs 1 und 16 Abs 6)“, „im Fall der Korridorpension (§ 4 Abs 2) um 0,425 %, sonst“ und „Handelt es sich jedoch um eine Schwerarbeitspension (§ 4 Abs 3), so beträgt die Verminderung 0,15 % für jeden Monat des früheren Pensionsantrittes“ in § 5 Abs 2 leg cit, der Wortfolge „(§§ 4 Abs 1 und 16 Abs 6)“ in § 5 Abs 4 leg cit und des § 9 leg cit, in eventu des BVG Altersgrenzen, der Wortfolge „nach Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter)“ in § 4 Abs 1 APG idF BGBl I 2023/36, der Wortfolge „nach Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter), die Versicherte“ in § 253 Abs 1 ASVG, idF BGBl I 2023/36 und des § 16 Abs 6 APG idF BGBl I 2023/36 beantragt hatte, mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg ab.
[7] Er führte aus, das Antragsvorbringen lasse aufgrund der – auch im Hinblick auf die mögliche Verfassungswidrigkeit von Verfassungsrecht sowie im Hinblick darauf, dass die Rechte der Grundrechte-Charta (GRC) kein Prüfungsmaßstab für Verfassungsrecht seien – unbedenklichen Verfassungsrechtslage in Form des BVG Altersgrenzen die behauptete Verfassungswidrigkeit als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass der Antrag keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.
[8] 2.2. Der Kläger erklärt in seiner außerordentlichen Revision, seine bereits an den Verfassungsgerichtshof herangetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken „vollinhaltlich aufrecht“ zu erhalten. Angesichts des Umstands, dass diese Bedenken den Verfassungsgerichtshof nicht zur inhaltlichen Behandlung des Antrags des Klägers bewogen haben, sieht sich der Oberste Gerichtshof nicht zu einer neuerlichen Anrufung des Verfassungsgerichtshofs veranlasst:
[9] 2.3. Soweit der Kläger in der außerordentlichen Revision mehrfach eine Verfassungswidrigkeit des ihn betreffenden unterschiedlichen Pensionsalters für Männer und Frauen daraus ableiten will, dass der Gesetzgeber in dem als Reaktion auf die Entscheidung G 223/88 des Verfassungsgerichtshofs eingeführten BVG Altersgrenzen nicht eine raschere Anhebung des Pensionsalters weiblicher Versicherter vorsah, worin verfassungswidriges Verfassungsrecht liege, lässt er außer Acht, dass der Verfassungsgerichtshof dieses Argument bereits abgelehnt hat, indem er die Verfassungslage als unbedenklich bezeichnete (G 184–186/2023).
[10] 2.4. Auch soweit der Kläger in der außerordentlichen Revision – über seinen Gesetzesprüfungsantrag hinausgehend – Verstöße gegen Art 1 des 1. ZPEMRK sowie Art 8 EMRK, jeweils iVm Art 14 EMRK behauptet und die Verfassungswidrigkeit des zu langsamen Heranführens des Pensionsalters weiblicher an jenes männlicher Versicherter aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ableiten will, hegt der Oberste Gerichtshof keine verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf das zum Stichtag für den Kläger geltende Regelpensionsalter.
[11] Der EGMR hat in der Beschwerdesache Stec ua/Vereinigtes Königreich klargestellt, dass Ungleichbehandlungen mit dem Ziel, „faktische Ungleichheit“ auszugleichen, auch nach Art 14 EMRK erlaubt sind, sofern die Maßnahmen verhältnismäßig sind (EGMR 12. 4. 2006, Bsw 65.731/01, 65.900/01 [Rn 51]; vgl 10 ObS 26/20a [Rz 40]). Er hat darüber hinaus die Angleichung im Erwerbsleben von Männern und Frauen als schrittweisen Prozess beurteilt und den den Vertragsstaaten im Bereich der Sozialpolitik zukommenden weiten Beurteilungsspielraum hervorgehoben (EGMR 12. 4. 2006, Bsw 65.731/01, 65.900/01, Stec ua/Vereinigtes Königreich [Rn 52, 57, 63]; ebenso EGMR 22. 8. 2006, Bsw 3874/03, Pearson/Vereinigtes Königreich [Rn 24]). Der Oberste Gerichtshof hat sich mit dieser Rechtsprechung bereits auseinandergesetzt und konnte ihr keine Verpflichtung des österreichischen Gesetzgebers zu einer zeitlich früheren Angleichung des Pensionsantrittsalters entnehmen (10 ObS 26/20a [Rz 40 f]).
[12] 2.5. Die außerordentliche Revision leitet aus den Entscheidungen des EGMR in den Beschwerdesachen Zeman/Österreich (EGMR 29. 6. 2006, Bsw 23960/02) und Pajak ua/Polen (EGMR 24. 10. 2023, Bsw 25226/18) ab, der österreichische Verfassungsgesetzgeber habe den ihm für die Ausgestaltung der Angleichung zukommenden Gestaltungsspielraum überschritten.
[13] In beiden zitierten Entscheidungen des EGMR war allerdings – anders als im vorliegenden Fall – nicht die Anhebung des Pensionsalters weiblicher Versicherter auf das für männliche Versicherte geltende Pensionsantrittsalter in einem schrittweisen Prozess zu beurteilen. Gegenstand der Beschwerdesache Zeman/Österreich war vielmehr eine Regelung, die zum Zeitpunkt des unmittelbar vor dem Abschluss stehenden Prozesses der Angleichung von Witwen- und Witwerpensionen eine neue Differenzierung im Wege des Übergangsrechts einführte.
[14] Der Beschwerdesache Pajak ua/Polen lag die Neueinführung einer Regelung zugrunde, mit der das zuvor gleiche Pensionsalter männlicher und weiblicher Richter auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer abgesenkt wurde, wobei nur den Frauen auferlegt wurde, im Fall der Beantragung einer Weiterverwendung über das abgesenkte Pensionsalter hinaus ein medizinisches Zeugnis über ihre Befähigung dazu vorzulegen (vgl insb Rn 259 f).
[15] Dass der EGMR in den beiden genannten Entscheidungen, auf die sich die außerordentliche Revision stützt, eine Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK (Bsw Pajak ua/Polen [Rn 265]) bzw von Art 14 iVm Art 1 1. ZPEMRK (Bsw Zeman/Österreich [Rn 41]) erkannte, vermag angesichts des Umstands, dass es jeweils um die Neueinführung von zwischen den Geschlechtern differenzierenden Regeln und nicht, wie im vorliegenden Fall, um den schrittweisen Abbau der Ungleichbehandlung ging, keine Zweifel an der Verfassungskonformität des im vorliegenden Fall geltenden Pensionsalters des Klägers im Hinblick auf das zu diesem Zeitpunkt noch nicht angehobene Pensionsalter weiblicher Versicherter zu begründen.
[16] 2.6. Der Oberste Gerichtshof sieht sich daher nicht zu einem Gesetzesprüfungsantrag veranlasst. Da er die verfassungsrechtlichen Bedenken des Revisionswerbers nicht teilt, liegt in deren Darstellung keine die Zulässigkeit der Revision begründende Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO (vgl RS0116943).
[17] 3.1. Die außerordentliche Revision will eine Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aus unionsrechtlichen Bedenken gegen die nach ihrer Ansicht zu langsam vonstattengehende Anhebung des Pensionsalters weiblicher Versicherter auf die für männliche Versicherte geltenden Altersgrenzen ableiten. Sie lässt dabei außer Acht, dass der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, dass das BVG Altersgrenzen dem Unionsrecht nicht widerspricht (10 ObS 44/14i DRdA 2015/52, 538 [Rebhahn] = ZAS 2015/35, 222 [Kapuy], dazu Kohlbacher, Diskriminierung durch Pensionsantrittsalter – wie lange noch? ZESAR 2015, 210; 10 ObS 26/20a ZAS 2021/27, 153 [Sagan] = DRdA 2021/30, 308 [Mair]; 10 ObS 161/20d; vgl RS0129869).
[18] 3.2. Die Entscheidung 10 ObS 44/14i betonte in diesem Zusammenhang, dass die Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. 12. 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit die Mitgliedstaaten lediglich zu einer schrittweisen Verwirklichung der Geschlechtergleichbehandlung auf dem Gebiet des Sozialrechts verpflichtet und ihnen bei der Festsetzung des Anfallsalters für die Alterspension freistellt, zwischen Männern und Frauen unterscheidende Regelungen noch für einen bestimmten Zeitraum, allerdings nicht unbefristet, aufrecht zu erhalten (10 ObS 44/14i [ErwGr 2.3.; 3.2.3.]).
[19] Der Oberste Gerichtshof maß den in der Entscheidung 10 ObS 44/14i präjudiziellen § 130 Abs 1 GSVG (vgl § 253 Abs 1 ASVG; § 121 Abs 1 BSVG) darüber hinaus an den von der Grundrechtecharta (GRC) normierten Verpflichtungen und kam zum Ergebnis, dass § 130 GSVG nicht gegen die in Art 20, 21 Abs 1 und Art 23 Abs 1 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung, die Österreich bei der Umsetzung der Richtlinie 79/7/EWG gemäß Art 51 Abs 1 GRC zu beachten hat, verstößt (10 ObS 44/14i [ErwGr 6.1.]). Er verneinte auch eine auf Art 21, 23 GRC gegründete Verpflichtung zu einer früheren Angleichung des Pensionsantrittsalters (10 ObS 26/20a [Rz 41]).
[20] Dazu verwies der Oberste Gerichtshof auf die Rechtsprechung des EuGH, nach der der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten ermächtigen wollte, die den Frauen zuerkannten, Vorteile im Zusammenhang mit dem Ruhestand vorübergehend aufrecht zu erhalten, um es den Staaten zu ermöglichen, die Rentensysteme in dieser Frage schrittweise zu ändern, ohne das komplexe finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme zu stören (C-423/04 , Richards [Rz 35]; C‑9/91 , The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte Equal Opportunities Commission [Rz 15]; vgl dazu 10 ObS 44/14i [ErwGr 3.2.1.]; 10 ObS 26/20a [Rz 38]).
[21] Ausgehend von dieser Rechtsprechung hegte er keine Bedenken gegen die Unionsrechtskonformität der im BVG Altersgrenzen normierten Übergangsfristen dahin, dass die gewählte Zeitspanne zu lang sei (10 ObS 26/20a [Rz 30 ff]; so bereits 10 ObS 44/14i [insb ErwGr 6.5.]). Dass die Ausnahme von der Gleichbehandlung nicht unbefristet aufrecht zu erhalten ist (vgl dazu im Hinblick auf die RL 2004/113/EG des Rates vom 13. 12. 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen das Urteil C-236/09 des EuGH [Association belge des Comsommateurs Test-Achats ASBL]), wurde dabei vom Obersten Gerichtshof beachtet (10 ObS 44/14i [ErwGr 2.3.]).
[22] 3.3. Der Oberste Gerichtshof sah sich zuletzt – nach ausführlicher Überprüfung im Hinblick auf kritische Literaturstimmen – (Rebhahn, Pensionsversicherung: Geschlechtsspezifisches Antrittsalter für die Alterspension, DRdA 2015, 538; Kohlbacher, Diskriminierung durch ungleiches Pensionsantrittsalter – wie lange noch? ZESAR 2015, 210; Kapuy, Unionsrechtswidrigkeit des unterschiedlichen Pensionsantrittsalters von Männern und Frauen? ZAS 2015, 222) – nicht veranlasst, zur Frage, ob die österreichischen Regelungen zur Angleichung des unterschiedlichen Regelpensionsalters von Männern und Frauen mit dem EU‑Recht vereinbar sind, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen (10 ObS 26/20a [Rz 25 bis 47]; vgl den Zurückweisungsbeschluss 10 ObS 161/20d).
[23] Die daran geübte Kritik von Sagan, nach der Entscheidung 10 ObS 26/20a bestünden alle bereits zuvor geäußerten unionsrechtlichen Einwände fort (Glosse zu 10 ObS 26/20a, ZAS 2021/27, 153 [159]), zeigt inhaltlich keine neuen, vom Obersten Gerichtshof noch nicht beachteten Aspekte auf.
[24] 3.4. Ausgehend von den vom EuGH bereits dargelegten Grundsätzen, zu denen insbesondere die Kompetenz der Mitgliedstaaten gehört, die nationalen Rentensysteme schrittweise unter Berücksichtigung deren jeweiligen Gleichgewichts zu ändern (vgl C-423/04 , Richards [Rz 35]; C-9/91 , The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte Equal Opportunities Commission [Rz 15]), wirft die konkrete Ausgestaltung der Anhebung der Altersgrenze für die Alterspension weiblicher Versicherter auf die Altersgrenze männlicher Versicherter durch das BVG Altersgrenzen und der darauf aufbauenden Bestimmungen des APG sowie des § 253 Abs 1 ASVG (vgl § 130 Abs 1 GSVG, § 121 Abs 1 BSVG) keine nach Art 267 AEUV an den EuGH heranzutragende (vgl RS0082949 [T4]) Frage der Auslegung des Unionsrechts auf.
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