OGH 10ObS26/20a

OGH10ObS26/20a13.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wolmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Herbst Kinsky Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Höhe der Korridorpension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Jänner 2020, GZ 11 Rs 38/19 s‑17, mit dem der Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialrechtsgericht vom 23. November 2018, GZ 36 Cgs 65/18z‑6, nicht Folge gegeben wurde, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129819

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben

Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Mit Bescheid vom 19. 6. 2018 anerkannte die beklagte Partei den Anspruch des im Mai 1955 geborenen Klägers auf Korridorpension ab 1. 6. 2018 in Höhe von 3.084,54 EUR brutto monatlich. Im Hinblick darauf, dass der Kläger das Regelpensionsalter von 65 Jahren erst am 1. 6. 2020 erreicht, war gemäß § 5 Abs 2 APG ein Abschlag von 5,1 % pro Jahr (somit insgesamt 10,2 %) vorgenommen worden. Ohne diese Abschläge wäre die monatliche Bruttopension um 350,36 EUR höher.

[2] Der Kläger begehrt für den Monat Juni 2018 eine Differenzzahlung von 350,36 EUR sowie die Feststellung, dass sein Anspruch aus der Pensionsversicherung im gesetzlichen Ausmaß ohne Abschläge bestehe.

[3] Nehme ein Mann vor Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters die Korridorpension in Anspruch, müsse er erhebliche Abschläge hinnehmen. Frauen, die über ihr gesetzliches Pensionsalter von 60 Jahren hinaus weiterarbeiten und mit 63 Jahre die Alterspension beanspruchen, bekämen hingegen Zuschläge. Mangels einer sachlichen Rechtfertigung für eine derartige Ungleichbehandlung sei § 5 Abs 2 APG wegen Verletzung des Gleichheitssatzes verfassungswidrig. In der unterschiedlichen Berechnungsmethode für Pensionshöhen liege eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, die auch das BVG über die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl I 1992/832 („BVG‑Altersgrenzen“), nicht rechtfertigen könne.

[4] Die beklagte Partei bestritt und beantragte die Abweisung der Klage. Die Korridorpension sei der Höhe nach gesetzeskonform berechnet worden. Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Klägers seien unberechtigt.

[5] Das Erstgericht stellte fest, dass der Anspruch des Klägers auf Korridorpension ab 1. 6. 2018 in Höhe 3.084,54 EUR monatlich besteht. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger für Juni 2018 eine Differenzzahlung in Höhe von 350,36 EUR zu leisten, sowie das Feststellungsbegehren, dass der Anspruch auf Korridorpension ohne Abschläge bestehe, wurden abgewiesen. Die vom Kläger kritisierten Ab- und Zuschläge seien Auswirkungen des nach wie vor bestehenden, verfassungsrechtlich abgesicherten unterschiedlichen Regelpensionsalters. Auch das Unionsrecht verpflichte auf dem Gebiet des Sozialrechts lediglich zu einer schrittweisen Verwirklichung der Geschlechtergleichbehandlung. Bei der Festsetzung des Anfallsalters für die Alterspension dürfen die Mitgliedstaaten unterschiedliche Regelungen vorübergehend aufrecht erhalten, um durch eine nur schrittweise Änderung das komplexe finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme nicht zu erschüttern.

[6] Gleichzeitig mit seiner gegen diese Entscheidung gerichteten Berufung erhob der Kläger beim Verfassungsgerichtshof einen auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d BVG gestützten Antrag (samt Eventualanträgen), § 5 Abs 2 und 3 APG, BGBl I 2004/142 idF BGBl I 2012/35 sowie § 5 Abs 4 APG, BGBl I 2004/142 idF BGBl I 2015/2 zur Gänze wegen des Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz als verfassungswidrig aufzuheben.

[7] Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluss vom 4. 12. 2019, G 107/2019, die Behandlung dieses Antrags ab.

[8] Als Begründung führte der Verfassungsgerichtshof aus, dass sich der Gesetzgeber für ein System von Ab- und Zuschlägen in Abhängigkeit vom tatsächlichen Pensionsantritt im Vergleich zum – noch unterschiedlichen – Pensionsalter entschieden habe, wodurch es (derzeit) zu einer unterschiedlichen Behandlung von Frauen und Männern komme. Da diese Unterschiede jedoch auf Regelungen zurückzuführen seien, die sich in verfassungsrechtlich zulässiger Weise auf das BVG Altersgrenzen stützen können bzw auf diese verweisen, liege keine Verfassungswidrigkeit vor.

[9] Das Berufungsgericht gab (nach Fortsetzung des gemäß § 62a Abs 6 VfGG unterbrochenen Verfahrens) der Berufung des Klägers nicht Folge. Rechtlich ging das Berufungsgericht zusammengefasst davon aus, die vom EuGH zu C‑172/02 , Bourgard, tolerierten Rentenabschläge würden nicht signifikant von der Höhe der in § 5 Abs 2 APG geregelten Abschläge abweichen. Die Mitgliedstaaten verfügten über ein weites Ermessen bei der Anwendung jener Maßnahmen, mit denen das finanzielle Gleichgewicht der Sozialversicherungssysteme gewahrt werde.

[10] Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung nicht zu, dass es sich bei seiner Entscheidung an einer gesicherten Rechtsprechung orientieren habe können.

[11] Die – nach Freistellung der Revisionsbeantwortung – von der beklagten Partei beantwortete Revision des Klägers ist zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[12] Der Revisionswerber macht vorerst geltend, das Anknüpfen an das gesetzlich (noch immer) unterschiedliche Regelpensionsalter von weiblichen und männlichen Versicherten im Zusammenwirken mit § 5 Abs 2 und 4 APG führe zu einer Ungleichbehandlung in einer Art und in einem Ausmaß, das durch die Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG nicht mehr zu rechtfertigen sei. Die im BVG Altersgrenzen vorgesehene Angleichung des Pensionsantrittsalters von Männern und Frauen bis Ende 2033 stelle keine vorübergehende Ungleichbehandlung zu Zwecken der schrittweisen Angleichung des Pensionsalters mehr dar, sondern habe bereits Dauerrechtscharakter. § 5 Abs 2 APG hätte deshalb von den Gerichten unangewendet bleiben müssen.

[13] Dazu ist auszuführen

[14] 1. Zum österreichischen Recht:

[15] 1.1 Bei der vom Kläger in Anspruch genommenen Korridorpension handelt es sich um eine besondere Ausformung der Alterspension, deren Anspruchsvoraussetzungen und Ausmaß das Allgemeine Pensionsgesetz BGBl I 2004/142 (idF BGBl I 2018/100) regelt (§ 1 Abs 1 Z 2, § 4 Abs 2 APG). Sie unterscheidet sich von der Alterspension nach § 4 Abs 1 APG durch die Möglichkeit, dass sie bereits ab Vollendung des 62. Lebensjahres beansprucht werden kann, wenn 40 Versicherungsjahre (480 Versicherungsmonate) vorliegen und der Versicherte am Stichtag keiner mehr als geringfügigen Erwerbstätigkeit mehr nachgeht (§ 4 Abs 2 Z 2 und Abs 6 APG). Sie soll den Lebensunterhalt von Versicherten sicherstellen, die bei Erreichen eines bestimmten Alters ihre Beschäftigung aufgegeben haben und nicht mehr verpflichtet sind, der Arbeitsmarktverwaltung zur Verfügung zu stehen.

[16] 1.2 Die Berechnung der Höhe der Korridorpension knüpft an das Regelpensionsalter von 65 Jahren für Männer und 60 Jahren für Frauen an. Ihre Inanpruchnahme führt zu Abschlägen in Höhe von 5,1 % für jedes vorgezogene Jahr (§ 5 Abs 2 APG).

[17] 1.3 Das Regelpensionsalter ist Gegenstand des – noch vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union – in Kraft getretenen Bundesverfassungsgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten (BVG Altersgrenzen, BGBl 1992/832). Gemäß dessen § 1 sind gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten in der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig. Die §§ 2 und 3 statuieren ein bundesverfassungsgesetzliches Gebot an den Gesetzgeber, für weibliche Versicherte die Altersgrenze jährlich mit 1. Jänner um sechs Monate zu erhöhen, und zwar für die vorzeitige Alterspension beginnend mit 1. 1. 2019 bis 2028 (§ 2) und für die Alterspension beginnend mit 1. 1. 2024 bis 2033 (§ 3). Die Altersgrenze für die Alterspension für weibliche Versicherte steigt somit erst ab dem Jahr 2024 in Sechsmonatsschritten bis zum Jahr 2033 auf das vollendete 65. Lebensjahr an, sodass das Regelpensionsalter für Frauen und Männer erst im Jahr 2033 dasselbe wie jenes der Männer sein wird.

[18] 1.4 Nach den Gesetzesmaterialien sollte die bestehende Privilegierung weiblicher Versicherter beim Pensionsantritt so lange aufrecht erhalten werden, wie die gesellschaftliche, familiäre und ökonomische Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt dies erfordert (ErlRV 737 BlgNR 18. GP 4).

[19] 1.5 Diese – in der Zukunft liegende – Gleichbehandlung von Frauen und Männern hinsichtlich des Regelpensionsalters spiegelt sich im APG wieder, nach dem für Frauen vorläufig weiterhin das vollendete 60. Lebensjahr als Regelpensionsalter gilt (§ 16 Abs 6 APG; siehe auch § 130 Abs 1 GSVG; § 121 Abs 1 BSVG). Damit ist die Angleichung bisher nur für den Bereich der Alterspension vorgesehen, der Prozess der Angleichung wird erst im Jahr 2024 beginnen. Die Regelungen über die Korridorpension wird für Frauen erst ab dem Jahr 2028 Wirkungen entfalten, weil für Frauen erst im Jahr 2028 ein Regelpensionsalter von 63 Jahren überschreiten wird.

[20] 2. Zum unionsrechtlichen Sekundärrecht:

[21] 2.1 Seit dem Beitritt Österreichs zum EWR (mit 1. 1. 1994) und zur Europäischen Gemeinschaft (mit 1. 1. 1995) ist die Richtlinie 79/7/EWG vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit zu beachten.

[22] 2.2 Nach Art 4 der Richtlinie ist jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere bei der Berechnung der Leistungen verboten. Die Mitgliedstaaten sollen binnen sechs Jahren nach ihrer Bekanntgabe die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen (Art 8 Abs 1 der Richtlinie). Mitgliedstaaten dürfen aber einzelne, in Art 7 Abs 1 niedergelegte, gleichheitswidrige Regelungen unverändert fortführen.

[23] 2.3 Nach Art 7 Abs 1 iVm Abs 2 der Richtlinie ist es jedem Mitgliedstaat unbenommen, diskriminierende Regelungen auch noch nach Ablauf der Umsetzungsfrist in Bezug auf fünf – im Einzelnen aufgezählte – Ausnahmetatbestände aufrecht zu erhalten, denen im Wesentlichen gemeinsam ist, dass sie „begünstigende“ Leistungen für Frauen perpetuieren wollen. Nach der in Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie zugelassenen (praktisch wichtigsten) Ausnahme können die Mitgliedstaaten die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen.

[24] 2.4 Zu der Frage, ob das Unionsrecht (Richtlinie 79/7/EWG iVm den Art 21 und 23 GRC) dahin auszulegen sei, dass die österreichischen Regelungen zur etappenweisen Angleichung des Regelpensionsalters von Frauen an jenes von Männern erst ab dem Jahr 2024 den sich aus Art 21 Abs 1 und Art 23 GRC ergebenden Gleichheitsgeboten widersprechen, hat der Oberste Gerichtshof zuletzt in der Entscheidung 10 ObS 44/14i (SSV‑NF 28/74) zu Art 130 Abs 1 GSVG Stellung genommen. Nach dieser Entscheidung verstößt diese Regelung nicht gegen die in Art 20, 21 Abs 1 und Art 23 Abs 21 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung, die Österreich bei der Umsetzung der Richtlinie 79/7/EWG gemäß Art 51 Abs 1 GRC zu beachten hat. Betont wurde insbesondere der den Mitgliedstaaten bei der Wahl der zur Verwirklichung ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele geeigneten Maßnahmen offenstehende weite Entscheidungsspielraum und die in den Mitgliedstaaten unterschiedlichen Endzeitpunkte der laufenden Anpassungsprozesse (RIS‑Justiz RS0129869). Eine Vorabentscheidung des EuGH wurde nicht eingeholt (dazu kritisch Rebhahn, Pensionsversicherung: Geschlechtsspezifisches Antrittsalter für die Alterspension, DRdA 2015, 538; Kohlbacher, Diskriminierung durch ungleiches Pensionsantrittsalter – wie lange noch? ZESAR 2015, 210; Kapuy, Unionsrechtswidrigkeit des unterschiedlichen Pensionsantrittsalters von Männern und Frauen? ZAS 2015, 222).

[25] 3. Die kritischen Stellungnahmen erfordern eine neuerliche Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof dahin, ob ein Vorabentscheidungsersuchen einzuholen ist.

[26] 3.1. Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie erlaubt die Festsetzung eines nach Maßgabe des Geschlechts unterschiedlichen gesetzlichen Rentenalters für die Gewährung von Alters- und Ruhestandsrenten sowie Formen der Diskriminierung, die notwendig mit dem Unterschied verbunden sind (EuGH C‑9/91 , The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte: the Equal Oppurtunities Commission, Rn 20). Der Unionsgesetzgeber wollte mit dieser Regelung die Mitgliedstaaten ermächtigen, die den Frauen zuerkannten Vorteile im Zusammenhang mit dem Ruhestand vorübergehend aufrecht zu erhalten, um es diesen Staaten zu ermöglichen, die Rentensysteme in dieser Frage schrittweise zu ändern, ohne das komplexe Gleichgewicht dieser Systeme zu stören. Zu diesen Vorteilen gehört auch die Möglichkeit für Arbeitnehmerinnen, Rentenansprüche früher geltend zu machen als (männliche) Arbeitnehmer (EuGH C‑423/04 , Richards, Rn 35 mwN). Aufgrund der Sensibilität der Materie und der damit verbundenen Belastung für den Staatshaushalt wurde den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich des Sozialrechts nur schrittweise zu verwirklichen. Die Mitgliedstaaten haben aber die Kommission über die Gründe, die eine etwaige Beibehaltung der geltenden Bestimmungen in den unter Art 7 Abs 1 genannten Bereichen rechtfertigen, sowie über die Möglichkeit einer späteren Revision zu berichten (Art 8 Abs 2 der Richtlinie). Abgesehen von der ständigen Überprüfungspflicht gilt der Ausnahmetatbestand des Art 7 der Richtlinie zeitlich unbegrenzt.

[27] 3.2 Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG stellt eine Ausnahme vom Geltungsbereich des Diskriminierungsverbots dar und nicht bloß einen Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung. Ein Zeitpunkt, zu dem die Gleichbehandlung in dem von deren Geltung ausgenommenen Bereich der Festsetzung eines nach Maßgabe des Geschlechts unterschiedlichen gesetzlichen Rentenalters für die Gewährung von Alters- und Ruhestandsrenten (Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG ) in der gesamten Union verwirklicht sein muss, wird nicht festgelegt (Art 7 Abs 2 der Richtlinie; EuGH 7. 7. 1992, Rs C‑9/91 , The Queen/Secretary of State for Social Securitiy, ex parte Opportunities Commission, Rz 15; Biebach/Khalil-Wolff in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 [2018], Teil 5 Richtlinie 79/7/EWG Art 7 Rz 2; Spiegel, Auswirkungen des EG‑Rechts auf das unterschiedliche Pensionsalter für Frauen und Männer [Teil II], DRdA 2004, 116 [129] mwN).

[28] 3.3 Die zeitlich unbegrenzte Geltung der Ausnahme sollte durch einen ergänzenden Richtlinienentwurf der Kommission vom 27. 10. 1987 zur ergänzenden Verwirklichung der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit geändert werden. Mit diesem Entwurf sollte eine weitgehende Aufhebung der Ausnahme vorgesehen werden. Dieser Richtlinienentwurf wurde jedoch nicht verabschiedet. Auch danach kam es zu keiner Reform der Richtlinie 79/7/EWG (Husmann, Reformbedarf in der Richtlinie 79/7/EWG ,ZESAR 2014, 70 [79]).

[29] Bis heute ist nur einer der fünf Ausnahmetatbestände (Art 7 Abs 1 lit e) obsolet geworden.

[30] 3.4 Im Hinblick darauf, dass das Ziel der Richtlinie in der schrittweisen Verwirklichung der Gleichbehandlung liegt, wurden in der Lehre wiederholt Bedenken gegen die Unionsrechtskonformität der im BVG Altersgrenzen gewählten Übergangsfristen dahin geäußert, dass die gewählte Zeitspanne zu lang sei, um noch den Vorgaben des Art 7 zu entsprechen (Wolfsgruber, Pensionsalter und Europäisches Sozialrecht, DRdA 2001, 81; Tomandl, Ungleiches Pensionsalter, ecolex 1993, 102 [103]; Rebhahn, Pensionsversicherung: Geschlechtsspezifisches Antrittsalter für die Alterspension, DRdA 2015, 538; Kohlbacher, Diskriminierung durch ungleiches Pensionsantrittsalter – wie lange noch? ZESAR 2015, 210; Kapuy, Unionsrechtswidrigkeit des unterschiedlichen Pensionsantrittsalters von Männern und Frauen? ZAS 2015, 222).

[31] 3.5 Dem ist entgegenzuhalten, dass die von der Richtlinie bezweckte schrittweise Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ihren Niederschlag in den Ausnahmebestimmungen (darunter Art 7 Abs 1 lit a) findet und sich nicht nur im Fehlen eines festgelegten Zeitpunkts für die Abschaffung der Ausnahmebestimmung zeigt, sondern auch in dem in Art 7 Abs 2 iVm Art 8 Abs 2 der Richtlinie 79/7/EWG vorgesehenen Abwägungsverfahren zur Überprüfung der Notwendigkeit der Beibehaltung der auf die Ausnahmebestimmungen gestützten nationalen Maßnahmen eines Mitgliedstaates. Dieses Verfahren verpflichtet die Mitgliedstaaten, in regelmäßigen Abständen die ausgeschlossenen Bereiche zu überprüfen, um festzustellen, ob es unter Berücksichtigung der sozialen Entwicklung in dem Bereich gerechtfertigt ist, die betreffende Ausnahme aufrecht zu erhalten (EuGH C‑377/96 , De Vriendt ua, Rn 26). Die Mitgliedstaaten haben der Kommission über das Ergebnis zu berichten und sie über die Gründe, die eine etwaige Beibehaltung der geltenden Bestimmungen in den unter Art 7 Abs 2 der Richtlinie genannten Bereichen rechtfertigen, sowie über die Möglichkeiten einer diesbezüglich späteren Revision zu unterrichten (Art 8 Abs 2 Satz 2 der Richtlinie; EuGH C‑9/91 , The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte: Equal Opportunities Commission, Rn 14).

[32] 3.6.1 Die Kommission erfüllt als „Hüterin der Verträge“ die Aufgabe der Kontrolle der Geltung des Unionsrechts insbesondere dadurch, dass sie im Fall von Vertragsverletzungen durch Mitgliedstaaten ein förmliches Verfahren eröffnet bzw Klage erhebt. Hauptziel eines derartigen Vertragsverletzungsverfahrens ist es, den Mitgliedstaat, der gegen seine Verpflichtung aus dem Vertrag verstoßen hat, zur Einhaltung des Unionsrechts zu veranlassen.

[33] 3.6.2 Wie sich aus dem Jahresbericht 2019 der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des EU‑Rechts (SWD [2020] 147 final) ergibt, ist kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich oder einen anderen Mitgliedstaat, der weiterhin ein unterschiedliches Rentenalter hat, im Zusammenhang mit der Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a Richtlinie 79/7/EWG eingeleitet worden. Diese anderen Mitgliedstaaten sind derzeit Bulgarien, Rumänien, Litauen, Kroatien, Polen und die Tschechische Republik. Laut der MISSOC‑Datenbank (Mutual Information System on Social Protection), Analyse 1. 1. 2020 „VI. Alter – Bedingungen – 3. Gesetzliche Altersgrenzen – Regelaltersrente“, ist in Polen eine Angleichung nicht vorgesehen. In Bulgarien wird das Regelpensionsalter für Frauen und Männer ab 1. 1. 2018 angeglichen, in Kroatien wird ein gleiches Regelpensionsalter 2030 erreicht sein, in Litauen 2026 und in Rumänien 2030. In der Tschechischen Republik wird das bisher von der Anzahl der geborenen Kinder abhängige Renteneintrittsalter für Frauen derzeit laufend jeweils um sechs Monate erhöht, bis das Renteneintrittsalter der Männer erreicht sein wird.

[34] 3.6.3 Die Kommission hat Österreich aber bereits Empfehlungen bzw Anregungen zur Angleichung des Regelpensionsalters von Männern und Frauen erteilt. Im Weißbuch der Europäischen Kommission „Eine Agenda für angemessene, sichere und nachhaltige Pensionen und Renten“ vom 16. 2. 2012, COM (2012) 55 final (Anhang 3), wurde empfohlen, Österreich möge Schritte einleiten, um die Übergangszeit für die Harmonisierung des gesetzlichen Pensionsalters für Frauen und Männer zu verkürzen. Gleichzeitig wird aber betont, dass mit dem Weißbuch die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten nicht angetastet und die Pensionsreformbemühungen der Mitgliedstaaten nur unterstützt werden sollen (Seite 10). Daraus ergibt sich, dass von der Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatlichen Sozialmodelle weiterhin nicht abgegangen werden soll.

[35] Selbst wenn man die Sichtweise einnehmen wollte, im Hinblick auf die regelmäßige Überprüfungspflicht sei doch davon auszugehen, dass die Richtlinie im Ergebnis nur eine zeitlich begrenzte Aufrechterhaltung eines unterschiedlichen Rentenalters gestatte, geschieht dies mit offenem Ende (Schrammel/Windisch-Graetz, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht2 [2018] 253).

[36] 3.7 Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich nichts Gegenteiliges:

[37] Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen zu Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie Stellung genommen, ohne die (Weiter‑)Geltung dieser Ausnahmebestimmung in Frage zu stellen (EuGH C‑9/91 , The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte: Equal Opportunities Commission, Rn 15; EuGH C‑303/02 , Haackert, Rn 37 f; EuGH C‑172/02 , Bourgard, Rn 30 f, EuGH C‑104/98 , Buchner ua, Rn 22 f; Husmann, Reformbedarf in der Richtlinie 79/7/EWG , ZESAR 2014, 70 [76]).

[38] 3.8 Obwohl in den genannten Entscheidungen die Frage, ob ein nationales Gesetz iSd Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie unionsrechtswidrig ist, jeweils entscheidungserheblich war, beschränkte sich der EuGH auf eine Auseinandersetzung mit den Fragen, ob eine Regelung zur Rentenhöhe notwendige Folge einer ungleichen Festsetzung des Rentenalters ist und ob deren Auswirkungen auf andere Leistungen objektiv erforderlich sind, um das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit zu schützen oder die Kohärenz zwischen den Systemen der Altersrenten und dem der anderen Leistungen zu gewährleisten. Der EuGH legt diesen Entscheidungen somit zugrunde, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten die Befugnis zur Beibehaltung eines unterschiedlichen gesetzlichen Rentenalters für Männer und Frauen belässt (EuGH C‑9/91 , The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte: Equal Opportunities Commission, Rn 13) und eine nationale Norm über die vorübergehende Beibehaltung unterschiedlicher Altersgrenzen von der Ausnahmebestimmung des Art 7 lit a der Richtlinie erfasst ist. Damit steht in Einklang, dass auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist erlassene Maßnahmen, die mit dem noch aufrecht erhaltenen unterschiedlichen Rentenalter zusammenhängen, (grundsätzlich) als von der Ausnahme gedeckt erachtet werden (EuGH C‑104/98 , Buchner, ua, Rn 24)

[39] 4. Zur Grundrechte‑Charta

[40] 4.1 Am 1. 1. 2009 wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) verbindlich.  Nach ihrem Art 21 Abs 1 sind Diskriminierungen wegen des Geschlechts verboten. Nach Art 23 GRC ist die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen – auch im Bereich der sozialen Sicherheit – zu gewährleisten. Art 23 Abs 2 GRC erlaubt aber die Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht und erklärt positive Maßnahmen, die ein Geschlecht gegenüber einem anderen bevorzugen, für zulässig. Auch nach Art 14 EMRK sind Ungleichbehandlungen mit dem Ziel „faktische Ungleichheit“ auszugleichen, erlaubt, sofern die Maßnahmen verhältnismäßig sind (EGMR 12. 4. 2006, 65731/01 ua Stec ua/Vereinigtes Königreich, Rn 51).

[41] 4.2 Art 23 GRC verpflichtet den Unionsgesetzgeber, Ungleichheiten zu beseitigen, belässt den Grundrechtsverpflichteten aber erhebliche Spielräume. Sofern dies sachlich gerechtfertigt ist, genügt eine auch nur schrittweise Beseitigung. Die Richtlinie 79/7/EWG mit ihren in Art 7 aufgezählten Ausnahmetatbeständen entspricht dieser Vorgabe und kann insoweit als Konkretisierung der in Art 21 und 23 GRC verankerten Grundrechte verstanden werden (vgl Jarass in Jarass, GRC3 [2016] Einl Rz 54). Es ist nicht erkennbar, dass aus der GRC eine Verpflichtung zu einer zeitlich früheren Angleichung des Pensionsantrittsalters abzuleiten wäre.

[42] 4.3 Bereits in der Vorentscheidung 10 ObS 44/14i (SSV‑NF 28/74) ging der Oberste Gerichtshof davon aus, dass die Mitgliedstaaten an die Chartagrundrechte auch dann gebunden sind, wenn sie Maßnahmen erlassen, mit denen trotz Ausnützung einer Ausnahmebestimmung ein unionsrechtlich vorgegebenes Ziel verfolgt wird. Auch die Ausnahmevorschrift des Art 7 der Richtlinie 79/7/EWG ist daher grundrechtskonform auszulegen.

[43] 4.4 Einschränkungen der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten sind aber nicht ausgeschlossen (Art 52 Abs 1 GRC). Art 51 Abs 1 Satz 2 verlangt außerdem, bei der Anwendung der Charta die Grenzen der Zuständigkeiten der Union zu achten und das Subsidiaritätsprinzip zu wahren. Daraus wird ein Gebot der Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatlichen Sozialmodelle abgeleitet (Jarass in Jarass, GRC3 Art 51 Rz 8 mwN).

[44] 4.5 Im Bereich der sozialen Sicherheit geht der EuGH bei der Prüfung der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen von der Formulierung aus, dass Art 4 Abs 1 der Richtlinie 79/7/EWG einer diskriminierenden nationalen Maßnahme entgegensteht, sofern diese Maßnahme nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Dies ist der Fall, wenn die gewählten Mittel einem legitimen Ziel des Mitgliedstaats dienen und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind (EuGH C‑343/92 , Roks ua, Rn 33; EuGH C‑161/18 , Villar Laiz, Rn 48).

[45] 4.6 Art 23 Abs 2 hat somit klarstellenden Charakter in Bezug auf die Voraussetzungen der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und führt zu keiner anderen Auslegung des Art 7 Abs 1 lit a iVm Art 7 Abs 2 der Richtlinie 79/7/EWG . Die durch die Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG ermöglichte Ungleichbehandlung verstößt daher auch nicht gegen die in Art 21, 23 Abs 1 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung.

[46] 5. Zusammenfassend hat Österreich berechtigt von der von der Richtlinie eingeräumten Möglichkeit, die Festsetzung des Rentenalters vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen, Gebrauch gemacht. Im Rahmen des Abwägungsverfahrens nach Art 8 Abs 2 der Richtlinie 79/7/EWG sind die Mitgliedstaaten aber in regelmäßigen Abständen verpflichtet zu überprüfen, ob der Schutzgedanke, aus dem heraus die getroffenen Ausnahmeregelungen entstanden sind, weiterhin begründet ist. Darüber hat Österreich der Kommission zu berichten. Bisher ist der Anpassungsprozess nur für die Zukunft vorgesehen, wird aber ab dem Jahr 2024 etappenweise verwirklicht werden und 2033 abgeschlossen sein. Sollte das Abwägungsverfahren nach Art 8 Abs 2 der Richtlinie 79/7/EWG erbringen, dass die Schlechterstellung von Frauen im Arbeitsleben bereits vor dem Ende der Übergangsfrist beseitigt und die Voraussetzungen für eine Gleichbehandlung erfüllt sind, müssten die entsprechenden Regelungen revidiert werden. Dass die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen bereits jetzt die Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Festsetzung des Regelpensionsalters erfordern, ist aus der Aktenlage nicht erkennbar. Insbesondere hat auch der Revisionswerber nicht aufgezeigt, welche Annahmen im Tatsächlichen die Notwendigkeit der Gleichbehandlung bereits jetzt begründen.

[47] 6. Aus diesen Erwägungen sieht sich der Oberste Gerichtshof – in Fortschreibung seiner bisherigen Rechtsprechung – nicht veranlasst, zu der Frage, ob die österreichischen Regelungen zur Angleichung des unterschiedlichen Regelpensionsalters von Männern und Frauen mit dem EU-Recht vereinbar sind, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen (10 ObS 334/01t SSV-NF 15/141; 10 ObS 49/02g; 10 ObS 17/03b; 10 ObS 35/12p SSV‑NF 26/29; zuletzt 10 ObS 44/14i SSV‑NF 28/74 dazu kritisch Rebhahn, Pensionsversicherung: Geschlechtsspezifisches Antrittsalter für die Alterspension, DRdA 2015, 538; Kohlbacher, Diskriminierung durch ungleiches Pensionsantrittsalter – wie lange noch? ZESAR 2015, 210; Kapuy, Unionsrechtswidrigkeit des unterschiedlichen Pensionsantrittsalters von Männer und Frauen? ZAS 2015, 222).

[48] 7. Der Revisionswerber regt in seinem Rechtsmittel aber an, der EuGH möge im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens mit der Frage befasst werden, ob Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG dahingehend auszulegen ist, dass auch Pensionsab‑ und ‑zuschläge vom Wortlaut dieser Regelung mitumfasst sind:

[49] 7.1 Dass die Korridorpension, die – abgesehen von der Erfüllung bestimmter Wartezeiten – nur die Erreichung eines bestimmten Alters und (grundsätzlich) die Nichtausübung einer Beschäftigung als Voraussetzung für die Leistungsgewährung aufstellt, unter den Begriff „Alterspension“ im Sinne des Ausnahmetatbestands des Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG fällt, wird in der Revision nicht in Abrede gestellt.

[50] 7.2 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist die in Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG vorgesehene Ausnahme vom Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts angesichts der grundlegenden Bedeutung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in dem Sinn eng auszulegen, dass sie nur für die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Alters‑ und Ruhestandsrente und etwaigen Auswirkungen daraus auf andere Leistungen der sozialen Sicherheit gelten kann (EuGH C‑356/09 , Kleist,Rn 39).

[51] 7.3 Im Hinblick auf diese vom EuGH geforderte enge Auslegung sowie darauf, dass sich die Ausnahme ihrem Wortlaut nach auf die „Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente“ bezieht, meint der Revisionswerber, Diskriminierungen bei der Berechnung der Rente seien von der Ausnahme nicht mitumfasst, weil die Richtlinie darauf nicht ausdrücklich Bezug nehme.

[52] Diese Frage wurde vom EuGH aber bereits dahin beantwortet, dass – solange ein Mitgliedstaat ein unterschiedliches Rentenalter in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften (noch) aufrecht erhalten hat – eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Art der Berechnung der Renten notwendig und objektiv mit diesem Unterschied verbunden ist. Auch sie fällt daher unter die in Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG vorgesehene Ausnahme (EuGH C‑377/96 C‑384/96 , De Vriendt ua, Rn 31 mwN; EuGH C‑172/02 , Bourgard, Rn 36).

[53] 8. Angeregt wird weiters, der Oberste Gerichtshof möge den Europäischen Gerichtshof mit der Frage befassen, ob Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG Regelungen des nationalen Rechts, wie jenen des § 5 Abs 2 und 4 des APG entgegenstehe, welche neben der Festlegung eines unterschiedlichen Pensionsantrittsalters für Männer und Frauen auch weitere sozialversicherungsrechtliche Folgen für den Fall des vorzeitigen Pensionsantritts durch Männer vorsehen, die im Ergebnis erhebliche Unterschiede bei der Ermittlung des Pensionsanspruchs (von bis zu 27,9 % bezogen auf die Berechnung des Pensionsanspruchs in Abhängigkeit vom Geschlecht) bewirken, wobei bei Pensionsantritt mit 63 Jahren männliche Versicherte durch Abzüge erheblich benachteiligt und weibliche Versicherte durch Zuschläge erheblich bevorteilt werden.

[54] 8.1 Nach der Entscheidung des EuGH zu C‑172/02 , Bourgard,Rn 41 f, besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Umstand, dass sich Männer dafür entscheiden könnten, das Renteneintrittsalter und damit verbundene Kürzungen vorwegzunehmen, einerseits und der (vorübergehenden) Beibehaltung eines unterschiedlichen Rentenalters für Männer und Frauen andererseits. Die Festsetzung von Abschlägen im Fall des Bezugs einer Altersrente vor Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters ist zum Ausgleich der finanziellen Auswirkungen auf das System notwendig, weil die Einnahmen in Form der entrichteten Sozialversicherungsbeiträge zurückgehen und sich gleichzeitig die Auslagen aufgrund der zusätzlich zu zahlenden Renten erhöhen. Eine Kürzung einer Altersrente um 5 % pro vorgezogenem Jahr erachtete der EuGH als notwendig und objektiv mit der Beibehaltung nationaler Bestimmungen verbunden, die das Rentenalter je nach dem Geschlecht unterschiedlich festsetzen. Eine Kürzung in diesem Ausmaß sei nicht unangemessen (C‑172/02 , Bourgard,Rn 43 f).

[55] 8.2 Der österreichische Gesetzgeber hat als Maßnahme zur Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des Alterssicherungssystems eine Kombination von Abschlägen und Zuschlägen in Abhängigkeit vom tatsächlichen Pensionsantritt im Vergleich zum noch unterschiedlichen Pensionsalter gewählt. Zentraler Anknüpfungspunkt dafür, ob Zu- oder Abschläge gebühren, stellt das Regelpensionsalter dar. Für einen Pensionsantritt vor diesem Zeitpunkt gelten Abschläge (§ 5 Abs 2 APG), für einen Pensionsantritt nach diesem Zeitpunkt gebühren Zuschläge (§ 5 Abs 4 APG).

[56] 8.3. Die bei der Korridorpension hinzunehmenden Abschläge betragen 5,1 % pro Jahr. Weiblichen Versicherten, die die Alterspension erst mit 63 Jahren antreten, gebühren Zuschläge von 4,2 % pro Jahr (§ 5 Abs 4 APG), somit insgesamt bis zu 12,6 % (4,2 % pro Jahr).

[57] 8.4 Ausgehend von dem Ziel, dass ein späterer Pensionsantritt aus Sicht der Finanzierbarkeit des Alterssicherungssystems geboten ist (Rainer/Pöltner, SV‑Komm [166. Lfg] § 5 APG Rz 29), bezwecken die Abschläge, einen höheren Lebenspensionsbezug auszugleichen und Anreize für einen früheren Ruhestand zu vermeiden (Rainer/Pöltner, SV-Komm [166. Lfg] § 5 APG Rz 35). Der Sinn der Zuschläge liegt darin, Versicherten, die die Pension erst nach dem Erreichen des Regelpensionsalters antreten, einen „Aufschub-Bonus“ zu gewähren (ErläutRV 321 BlgNR 25. GP  13). Auch weibliche Versicherte sollen einen finanziellen Anreiz erhalten, nach Erreichen des Regelpensionsalters (derzeit noch 60 Jahre) weiterhin berufstätig zu bleiben. Die Kombination von Abschlägen und Zuschlägen sowie deren Höhe in Wechselwirkung mit dem (derzeit noch) unterschiedlichen Rentenalter für Männer und Frauen stellt eine Maßnahme dar, um ein längeres Verbleiben aller Versicherten im Erwerbsleben zu erreichen und auf diesem Weg die Finanzierbarkeit des Alterssicherungssystems zu gewährleisten. Die Zuschläge entsprechen dem Vorhaben des Gesetzgebers, zu einem einheitlichen Pensionsalter von 65 Jahren sowohl für männliche als auch weibliche Versicherte zu gelangen.

[58] 8.5 Das vom Gesetzgeber des APG gewählte System von Abschlägen und Zuschlägen ist demnach mit den Bestimmungen des BVG Altersgrenzen über das unterschiedliche Pensionsalter von Frauen und Männern eng verbunden, stellt eine notwendig an die Festsetzung des unterschiedlichen Rentenalters geknüpfte Konsequenz dar und ist daher von der Ausnahme in Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG erfasst.

[59] 8.6.1 Der Revisionswerber erachtet sich durch die Höhe der Ab- und Zuschläge diskriminiert und bringt vor, dass jene weiblichen Versicherten, die die Alterspension erst mit 63 Jahren antreten, Zuschläge nach § 5 Abs 4 APG bis zu 12,6 % (4,2 % pro Jahr) erhielten. Er müsse daher nicht nur Abschläge bzw eine Differenz in Höhe von 5,1 % pro vorgezogenem Jahr hinnehmen, sondern es komme insgesamt zu einer Differenz (einem „Delta“) im Ausmaß von bis zu 27,9 %. Diese Höhe sei sachlich nicht mehr zu rechtfertigen.

[60] 8.6.2 Die bei Inanspruchnahme der Korridorpension hinzunehmenden Abschläge von 5,1 % pro Jahr unterscheiden sich der Höhe nach nur unwesentlich von der Höhe der in der Rs Bourgard vom EuGHals sachlich gerechtfertigt angesehenen Abschlägen von 5 % pro Jahr. Selbst wenn man von der „Vergleichsberechnung“ des Revisionswerbers ausgeht, deren Grundlagen nicht offengelegt werden (offenbar werden bloß bestimmte Zu‑ und Abschläge addiert), ist das von ihm angesprochene „Delta“ von 27,9 % rein rechnerisch nicht nachvollziehbar: Der Antritt der Korridorpension mit 63 Jahren führt zu Abschlägen von 10,2 % (2 x 5,1 %). Der Pensionsantritt einer Frau erst drei Jahre nach Erreichen des Regelpensionsalters (derzeit noch von 60 Jahren) führt zu Zuschlägen von 12,6 % (3 x 4,2 %), sodass sich ein „Delta“ von 22,8 % errechnen würde. Auch dann, wenn man – wie der Revisionswerber meint – eine Vergleichbarkeit mit der Höhe der (auf die Zeitspanne von fünf Jahren) bezogenen Abschläge von 25 % laut der Entscheidung des EuGH in der Rs Bourgard bejahen wollte, wäre dieser – vom EuGH als zulässig angesehene – Prozentsatz nicht überschritten.

[61] 8.7 Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen auch dann, wenn die strittige Frage nicht vollkommen identisch mit der bereits entschiedenen Rechtssache ist, die betreffenden Vorschriften nicht dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden (EuGH 6. 10. 1982, C‑283/81 , Rs SRL C.I.L.F.I.T., Rn 14). Den Mitgliedstaaten steht bei der Festsetzung der Höhe der Abschläge zudem ein weites Ermessen bei der Anwendung jener Maßnahmen zu, die notwendig sind, um das finanzielle Gleichgewicht der Sozialversicherungssysteme und insbesondere der Rentensysteme zu wahren (EuGH C‑172/02 , Bourgard,Rn 43; EuGH C‑139/95 , Balestra, Rn 39).

[62] Die Abschläge von 5,1 % bzw die bei späterer Inanspruchnahme der Alterspension für Frauen vorgesehenen Zuschläge können daher im Sinn der Rechtsprechung des EuGH auchder Höhe nach von der Ausnahmemöglichkeit des Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG als gedeckt angesehen werden.

[63] 8.8 Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Bedachtnahme auf das vom Tribunal Superior de Justicia de Cataluña vorgelegte und beim EuGH zu C‑244/20 anhängige Vorabentscheidungsersuchen.

[64] 9. Ergebnis

[65] Es widerspricht nicht dem Unionsrecht, dass – ausgehend von einer fiktiv gleichen Bemessungsgrundlage – die Höhe der vom Kläger im Alter von 63 in Anspruch genommenen Korridorpension aufgrund von Abschlägen von insgesamt 10,2 % (im Vergleich zum Pensionsantritt im Alter von 65) niedriger ist als die Höhe der fiktiven Alterspension einer Frau, die im Alter von 63 die Pension antritt und Zuschläge von insgesamt 12,6 % (im Vergleich zum Pensionsantritt im Alter von 60) erhalten würde.

[66] 10. Zusammenfassend erweist sich die Revision als nicht berechtigt.

[67] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers, die einen Kostenzuspruch nach Billigkeit erforderten, wurden nicht geltend gemacht.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte