BVwG I416 2165178-1

BVwGI416 2165178-111.3.2021

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:I416.2165178.1.00

 

Spruch:

 

I416 2165178-1/20E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Alexander BERTIGNOL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch den Verein "Queer Base", gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 29.06.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.02.2021 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Irak, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein und stellte am 03.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 03.10.2015 wurde er durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Hierbei gab er bezüglich seiner persönlichen Lebensumstände im Irak an, dass er am XXXX in XXXX geboren sei, Moslem und Araber sei und im Irak zwölf Jahre die Schule besucht habe. In seinem Heimatland würden noch seine Eltern, sein Bruder und seine vier Schwestern leben. Hinsichtlich seiner Fluchtroute führte er aus, dass er am 23.09.2015 legal unter Verwendung seines irakischen Reisepasses von Najaf nach Istanbul geflogen sei, von dort mit einem Bus nach Izmir und weiter mit einem Boot auf eine griechische Insel gereist sei. Von Griechenland sei er über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn bis nach Österreich gelangt. Befragt, warum er sein Heimatland verlassen habe, gab er wörtlich an: „Ich lebe im Irak in Najaf. Eines Tages kamen die schiitischen Milizen zu mir und wollten mich rekrutieren. Da ich vorerst ablehnte, haben sie mich mit dem Tod bedroht. Da ich um mein Leben fürchtete, beschloss ich den Irak zu verlassen.“ Gefragt, was er im Fall einer Rückkehr in seine Heimat befürchte, gab er wörtlich zu Protokoll: „Ich fürchte um mein Leben.“

3. Am 21.06.2016 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA / belangte Behörde) einvernommen. Befragt zu seinen persönlichen Verhältnissen führte er aus, dass er ledig und Moslem sei, der Volksgruppe der Araber angehöre und irakischer Staatsangehöriger sei. Sein Vater sei Sunnit und seine Mutter Schiitin, er selbst sei Moslem ohne Konfession, jedoch Sunnit wie sein Vater. Er habe im Irak neun Jahre die Schule besucht und als Tischler gearbeitet, den Beruf jedoch nicht erlernt. In seinem Herkunftsstaat würden noch seine Eltern, sein Bruder und seine vier Schwestern leben. Zu seinem Fluchtgrund führte er zusammengefasst aus, dass er von Milizen unter Druck gesetzt worden sei. Ein schiitischer Religionsführer habe eine „Fatwa“ herausgegeben, in der alle aufgefordert worden seien, am Kampf gegen den IS teilzunehmen. Die bewaffneten Gruppen hätten alle zwischen 18 und 30 Jahren aufgefordert in den Krieg zu ziehen. Sie seien auch in die Schule gekommen und hätten alle über 18 aufgefordert, diese abzubrechen um in den Krieg zu ziehen. Er selbst habe ab diesem Zeitpunkt aufgehört in die Schule zu gehen, da er nicht „an so einem konfessionellen Krieg“ teilnehmen habe wollen. Angehörige einer Miliz seien dann insgesamt dreimal zur Familie des Beschwerdeführers nach Hause gekommen, sodass er zu seinem Onkel gezogen sei. Er habe Angst gehabt, dass ihn die Milizen töten oder schlagen würden, sollten sie ihn finden. Er habe nicht kämpfen wollen, da er den Feind nicht kenne, manchmal würden auch Jugendliche in andere Länder geschickt, um zu kämpfen. Sein Onkel mütterlicherseits habe dann seine Flucht organisiert. Dies seien all seine Fluchtgründe. Gefragt, ob er sonst Probleme im Irak gehabt habe, gab er an, er habe auch „Probleme“ aufgrund der Konfession seines Vaters bekommen, da dieser Sunnit sei. Weiters gab er an, dass er nie an Kampfhandlungen im Irak teilgenommen habe, dies jedoch von ihm verlangt worden sei und er deshalb geflohen sei. Probleme mit Behörden seines Herkunftslandes habe er keine gehabt. Im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland fürchte er sich vor den bewaffneten Gruppen, welche zurzeit das Land kontrollieren würden.

4. Am 15.02.2017 wurde der Beschwerdeführer ein weiteres Mal niederschriftlich vor der belangten Behörde einvernommen. Hierbei gab er an, dass es ihm gut gehe und er nicht in ärztlicher Behandlung stehe. Seine Familie würde immer noch in Najaf leben und habe er telefonischen Kontakt zu seinen Angehörigen im Irak, wobei es auch ihnen gut gehen würde. Zu seinem Fluchtvorbringen näher befragt, gab er an, dass es die Badr-Miliz gewesen sei, die ihn zwingen hätte wollen, für sie zu kämpfen. Gefragt, wie diese Männer denn ausgesehen hätten, gab er an, dass es unmöglich sei, sich an alle Details zu erinnern, er habe diese nur zweimal gesehen, einmal in der Schule und einmal zu Hause. Gefragt, was die Milizen denn zu den Schülern gesagt hätten, führte er wörtlich aus: „Es gibt eine „Fatwa“ und du musst dich uns anschließen. Es ist die Pflicht eines Muslims und ich als junger Mann erfülle alle Anforderungen. Ich sollte unser Land verteidigen. Ich bin der älteste Sohn der Familie und erfülle dadurch alle Anforderungen.“ Auf die Frage, ob er persönlich bedroht worden sei, gab er wörtlich zu Protokoll: „Ja, das erste Mal war es eine allgemeine Aufforderung an alle in der Schule, danach kamen sie zu uns nach Hause“. Gefragt, wann er das erste Mal bedroht worden sei, gab er an, dass er sich an das Datum nicht erinnern könne. Gefragt, ob er versucht habe, sich hilfesuchend an die staatlichen Behörden zu wenden, gab er an, dass er dies nicht könne, da die meisten dieser Milizen der Regierung angehören würden. Letztlich führte aus, dass die Drohungen nur an ihn gerichtet gewesen seien und nicht an seine Familienangehörigen. Sein Vater habe nicht die Möglichkeit gehabt, ihm Schutz zu bieten, weshalb er zu seinem Onkel gezogen sei. Dieser habe ihm geholfen und vorgeschlagen, das Land zu verlassen. Gefragt, ob er noch etwas angeben oder ergänzen wolle, äußerte der Beschwerdeführer wörtlich: „Hier konnte ich in Freiheit und in einem demokratischen Land leben, hier habe ich gesehen wie die unterschiedlichen Religionen und Völker friedlich zusammenleben, das ist das Gegenteil was ich vom Irak kenne. Hier kann man einfach sein Leben in Freiheit ohne Druck leben, im Irak waren wir ständig dem Druck und den Anordnungen der religiösen Führer und Parteien ausgesetzt. Das hat zu all den Problemen im Irak geführt.“

5. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 29.06.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten „gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF“ (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak „gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG“ (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen „gemäß § 57 AsylG“ nicht erteilt, gegen ihn „gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF“ eine Rückkehrentscheidung „gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) idgF“ erlassen und „gemäß § 52 Absatz 9 FPG“ festgestellt, dass seine Abschiebung „gemäß § 46 FPG“ in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für eine freiwillige Ausreise wurde „gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG“ mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde gelangte zusammengefasst zum Schluss, dass der Beschwerdeführer angesichts seines lediglich abstrakten sowie irrelevanten Vorbringens bezüglich seiner Fluchtgründe keine Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung glaubhaft machen konnte.

6. Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom 04.07.2017 wurde dem Beschwerdeführer die "Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH" als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

7. Gegen den gegenständlich angefochtenen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine gewillkürte Rechtsvertretung fristgerecht mit Schriftsatz vom 20.07.2017 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und monierte hierbei dessen inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften, „bei deren Einhaltung ein für den Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erzielt worden wäre“. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die seitens der belangten Behörde getroffene Feststellung, dass sein Vorbringen abstrakt und irrelevant sei, basiere auf einer mangelhaften Sachverhaltsermittlung und einer unschlüssigen Beweiswürdigung. Weiters seien die von der belangten Behörde herangezogenen länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat unvollständig und wurde in der Beschwerde auf weitere Länderberichte verwiesen sowie aus diesen zitiert. Darüber hinaus wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer „die Zwangsrekrutierung genau zeitlich, örtlich und inhaltlich beschrieben“ habe und er überdies auch seine Verfolgung aufgrund seiner Religionszugehörigkeit im Zuge seiner Einvernahme erwähnt habe. Erstmalig wurde in der Beschwerde überdies vorgebracht, dass der Vater des Beschwerdeführers im Regime unter Saddam Hussein bei der Luftwaffe gedient habe und nach dem Sturz von Saddam Hussein festgenommen, jedoch „später wegen fehlender Beweise bezüglich einer oppositionsfeindlichen Tätigkeit freigelassen“ worden sei. Aufgrund dessen stehe die Familie des Beschwerdeführers weiterhin unter Beobachtung. Zu seinen persönlichen Lebensumständen im Bundesgebiet wurde ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer stetig bemühe, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren und ein Leben in Österreich aufzubauen, zudem sei er nicht straffällig geworden. Angeschlossen wurden dem Beschwerdeschriftsatz die Kopie eines Empfehlungsschreibens der "Heilsarmee Österreich", welche für die Betreuung einer Asylwerberunterkunft des Beschwerdeführers verantwortlich gezeichnet habe, die Kopie eines Spielerpasses der " XXXX als auch, im Hinblick auf das nunmehr ergänzende Vorbringen des Beschwerdeführers, Kopien diverser Militärausweise, vorgeblich von seinem Vater. Es wurde beantragt das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung anberaumen; den angefochtenen Bescheid beheben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuerkennen; in eventu den angefochtenen Bescheid bezüglich Spruchpunkt II. beheben und dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu den angefochtenen Bescheid bezüglich Spruchpunkt III. aufheben bzw. dahingehend abändern, dass die Rückkehrentscheidung aufgehoben sowie auf Dauer für unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK erteilt werde; in eventu den angefochtenen Bescheid im angefochtenen Umfang ersatzlos beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an die Behörde I. Instanz zurückverweisen.

8. Beschwerde und Bezug habender Akt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 21.07.2017 vorgelegt.

9. In einem in Vorlage gebrachten Schreiben des Vereins "Queer Base" vom 18.09.2017 wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seit Juli 2017 mit der Beratungsstelle des Vereins in Kontakt sei und Beratungsgespräche zum Thema Homosexualität stattgefunden hätten. Auch besuche er regelmäßig soziale Events des Vereins.

10. Mit Schreiben vom 27.09.2017 wurde durch die gewillkürte Rechtsvertretung eine "Beschwerdeergänzung" eingebracht und darin ausgeführt, dass der Beschwerdeführer homosexuell sei, wobei er sich bis zu diesem Zeitpunkt im Verfahren nicht zu seiner sexuellen Orientierung geäußert habe. Im Irak habe er seine Homosexualität nur im Geheimen und unter großer Angst ausleben können. Als seine Eltern davon erfahren hätten sei entschieden worden, dass er heiraten müsse und wurde eine Ehefrau für ihn gesucht und auch gefunden, wobei die Hochzeit jedoch nicht stattgefunden habe, da es zu den in der Beschwerde vom 20.07.2017 vorgebrachten Verfolgungs- und Bedrohungshandlungen gegenüber dem Beschwerdeführer gekommen sei. Zum Zeitpunkt seiner Einvernahmen habe er nichts über den offenen Umgang mit Homosexualität in Österreich gewusst bzw. dass es sogar Organisationen gebe, welche spezielle Unterstützung anbieten würde. Über seine sexuelle Orientierung wüssten auch die Mitbewohner in seine Unterkunft nicht Bescheid, da er Angst davor habe, dass es in weiterer Folge zu Problemen im Quartier führen könne. Erst durch ein vertrauliches Gespräch mit einem Freund und die Betreuung durch "Queer Base" habe sich der Beschwerdeführer geöffnet und sehe er sich nun imstande, über seine sexuelle Orientierung frei zu sprechen. Es wurde weiters ausgeführt, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak befürchte, dass ihm aufgrund seiner Homosexualität sowohl eine Zwangsverheiratung durch seine Familie als auch eine Verfolgung und Übergriffe durch homophobe Mitglieder der Gesellschaft drohen würden und, da Homosexualität im Irak gesetzlich verboten sei, habe er überdies mit Repressalien seitens des irakischen Staates zu rechnen. Im Schriftsatz wurden Berichte zur Situation Homosexueller im Irak vorgelegt und ausgeführt, dass im gegenständlichen Fall zu prüfen sei, ob der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak wegen seiner sexuellen Orientierung dem realen Risiko einer staatlichen bzw. gesellschaftlichen Verfolgung ausgesetzt sei. Zudem sei zu berücksichtigen, dass dem Beschwerdeführer eine Unterdrückung seiner Sexualität nicht zumutbar sei. Letztlich wurde ausgeführt, dass dieses Vorbringen nicht dem Neuerungsverbot unterliege, da der Beschwerdeführer bis zu diesem Zeitpunkt über seine sexuelle Orientierung nicht sprechen habe können, da er sich gefürchtet habe, dies gegenüber Bekannten oder gar fremden Personen zuzugeben. Zum Beweis für seine vorgebliche Homosexualität wurde die Einvernahme des namentlich benannten Zeugen W.W. beantragt.

11. Mit Schriftsatz vom 04.07.2018 wurden ÖSD-Deutschzertifikate für das Sprachniveau A1 und A2 in Vorlage gebracht, als auch eine Anmeldebestätigung bezüglich eines Deutschkurses für das Sprachniveau B1.

12. Auf Grund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L507 abgenommen und der Gerichtsabteilung I416 neu zugewiesen. Am 04.10.2018 langte der verfahrensgegenständliche Beschwerdeakt bei der zuständigen Gerichtsabteilung I416 ein.

13. Mit Schreiben vom 26.01.2021 erfolgte eine schriftliche Stellungnahme des von der Rechtsvertretung beantragten und im Vorfeld der mündlichen Verhandlung geladenen Zeugen W.W. Dieser führte darin zusammengefasst aus, dass er aus beruflichen Gründen nur unter erschwerten Bedingungen an der für den 18.02.2021 anberaumten Beschwerdeverhandlung teilnehmen könne. Den Beschwerdeführer kenne er seit dem Frühjahr 2016 und habe ihn dieser von September 2016 bis November 2017 mehrfach in seiner Wohnung besucht und bei ihm übernachtet. Gegenüber W.W. habe der Beschwerdeführer auch seine Homosexualität offenbart und habe W.W. ihn über das Leben homosexueller Männer in Mitteleuropa aufgeklärt und ihm auch die politische und rechtliche Lage geschildert, zudem habe er ihm beliebte Treffpunkte Homosexueller genannt. Er führte weiters aus, dass für den Beschwerdeführer die Religion ein großes Problem gewesen sei und habe ihn dieser auch gebeten, gegenüber seinen arabischen Freunden Stillschweigen zu bewahren, da sein verwitweter Vater in seiner Heimatstadt ein Geschäft betreibe, in welchem niemand mehr einkaufen würde, wenn die Bewohner wüssten, dass der Sohn des Besitzers homosexuell sei. Letztlich führte er aus, dass er sich vom Beschwerdeführer mehr als nur Freundschaft gewünscht habe, dieser jedoch nicht für Treffen oder für eine Beziehung bereit gewesen sei. Seit dem Frühjahr 2018 habe er den Beschwerdeführer nur noch selten und zufällig gesehen.

14. Mit Schriftsatz vom 09.02.2021 wurde eine Vertretungsvollmacht für den Verein "Queer Base" vorgelegt und der in der Beschwerdeergänzung vom 27.09.2017 gestellte Antrag auf Einvernahme des Zeugen W.W. zurückgezogen. Stattdessen wurde nunmehr die Zeugeneinvernahme des gleichgeschlechtlichen Partners des Beschwerdeführers, des irakischen Asylberechtigten M.A., beantragt.

15. Mit Schriftsatz vom 12.02.2021 wurde durch die gewillkürte Rechtsvertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zu den vorab übermittelten, länderkundlichen Informationen eingebracht, sowie Unterlagen bezüglich der Integration des Beschwerdeführers vorgelegt.

16. Am 18.02.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seiner Rechtsvertretung sowie des vorgeblichen Lebensgefährten des Beschwerdeführers, M.A., als Zeugen abgehalten und hierbei die gegenständliche Beschwerdesache erörtert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos, Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und sunnitischer Moslem, praktiziert seinen Glauben jedoch nicht. Seine Identität steht fest.

Er ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer reiste legal auf dem Luftweg aus dem Irak in die Türkei aus und gelangte in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er sich seit (spätestens) 03.10.2015 aufhält.

Er stammt aus Najaf, der Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements im Südirak. Er besuchte in seinem Herkunftsstaat insgesamt neun Jahre die Schule und hat überdies Berufserfahrung bei einem Tischler gesammelt. Aufgrund seiner persönlichen Historie hat der die Chance, auch künftig am irakischen Arbeitsmarkt unterzukommen. Seine Eltern, ein Onkel, ein minderjähriger Bruder sowie vier volljährige Schwestern des Beschwerdeführers leben nach wie vor in Najaf und steht er in Kontakt zu seiner Mutter.

In Österreich sowie auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten verfügt der Beschwerdeführer über keine familiären Anknüpfungspunkte und es kann nicht festgestellt werden, dass er in einer Beziehung oder Lebensgemeinschaft lebt.

Der Beschwerdeführer engagiert sich seit November 2018 (auf Grundlage des § 7 Grundversorgungsgesetz) im Rahmen einer gemeinnützigen Tätigkeit im Ausmaß von 50 Stunden monatlich in der Apotheke eines Spitals, wofür er eine Entschädigung von etwa 200 Euro monatlich erhält. Ansonsten ging er in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer legalen Erwerbstätigkeit nach.

Er ist nicht selbsterhaltungsfähig, lebt in einer Asylwerberunterkunft und bestreitet seinen Lebensunterhalt über die staatliche Grundversorgung.

Er spricht Deutsch auf Sprachniveau A2 und hat diverse Bekanntschaften in Österreich geschlossen, mit denen er auch seine Freizeit verbringt, wobei einige seiner Bekannten auch bereit waren, für ihn Unterstützungsschreiben abzugeben.

Er ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen und einer Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers:

Entgegen seinem Fluchtvorbringen kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak der Gefahr einer Verfolgung oder Zwangsrekrutierung durch Angehörige einer schiitischen Miliz ausgesetzt ist. Auch ist er nicht aufgrund seines sunnitischen Glaubens der Gefahr einer systematischen und landesweiten Verfolgung im Irak ausgesetzt.

Das seitens des Beschwerdeführers erst nachträglich im Beschwerdeverfahren erstattete Vorbringen, wonach er aufgrund seiner Homosexualität im Irak der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei, unterliegt hingegen dem Neuerungsverbot und erweist sich daher als unbeachtlich.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor der Ausreise aus seinem Herkunftsstaat in diesem einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder er im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt wäre.

Er wird im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein. Weder wird ihm seine Lebensgrundlage gänzlich entzogen, noch besteht für ihn die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.

1.3. Zu den Feststellungen zur Lage im Irak:

Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen, soweit sie für den vorliegenden Beschwerdefall von Relevanz sind:

1.3.1. Allgemeine Sicherheitslage:

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/ , Zugriff 13.3.2020

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/ , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html , Zugriff 13.3.2020

- Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02 , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710 , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html , Zugriff 13.3.2020

- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/ , Zugriff 13.3.2020

- New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations , Zugriff 13.3.2020

- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9 , Zugriff 13.3.2020

- Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5 , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html , Zugriff 13.3.2020

1.3.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen:

Die Zahl der durch Gewalt ums Leben gekommenen ist zwischen 2017 und 2019 erheblich gesunken. Waren 2015 noch etwa 17.500 zivile Gewaltopfer im Irak zu beklagen, so ist diese Zahl im Jahr 2020 auf 902 Gewaltopfer gesunken. Im Jahr 2021 gab es nach vorläufigen Schätzungen bislang April 64 zivile Todesopfer im Irak (Statista 08.03.2021).

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Februar 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Quellen:

- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf , Zugriff 13.3.2020

- IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/ , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html , Zugriff 13.3.2020

- Statista Research Department - deutsches Online-Portal für Statistik (22.05.2020): Anzahl der dokumentierten zivilen Todesopfer im Irakkrieg und in den folgenden Jahren von 2003 bis 2020*, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163882/umfrage/dokumentierte-zivile-todesopfer-im-irakkrieg-seit-2003/#professional , Zugriff 8.3.2021

1.3.3. Sicherheitslage Südirak:

Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).

Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 gab es im Gouvernement Babil zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten (Joel Wing 2.12.2019), im Dezember 2019 drei Vorfälle mit drei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020) und im Februar 2020 zwei Vorfälle mit einem Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019).

Quellen:

- Al Monitor (11.3.2016): The rise of Islamic State sleeper cells in Baghdad, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/iraq-baghdad-belts-harbor-islamic-state.html , Zugriff 13.3.2020

- ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar.org/region/baghdad-belts , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html , Zugriff 13.3.2020

- OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, http://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf , Zugriff 13.3.2020

Im Einklang mit der allgemeinen Verbesserung der Sicherheitslage im Jahr 2018 und 2019 wird auch über die südlichen Verwaltungsbezirke berichtet, dass sich die Sicherheitslage dort weitgehend stabilisiert hat. Im Jahr 2018 brachen in Basra und in anderen südlichen Städten Proteste gegen Korruption, Vernachlässigung durch die Regierung, Arbeitslosigkeit und unzureichenden Dienstleistungen aus, von denen einige Proteste gewalttätig wurden und sowohl unter den Demonstranten als auch unter den Sicherheitskräften zu Todesopfern und Verletzten führten. Es wird berichtet, dass sich die Situation infolge der Stärkung der lokalen Sicherheit und der Einführung einer Ausgangssperre beruhigt hat. Gelegentlich kommt es zu Meldungen über gewaltsame Zwischenfälle in Zusammenhang mit Protesten. Es wird berichtet, dass es ISIS im überwiegend schiitischen Süden an Einsatzfläche und Unterstützung mangelt, aber dass die Terrororganisation in den vergangenen Jahren gelegentlich und vor allem während religiöser Feiern Großanschläge mit zahlreichen Todesopfern gestartet hat bzw. versucht hat, derartige Anschläge zu starten.

Ab dem Spätsommer 2017, nach dem Ende der Militäroffensive in Mosul, ging die Zahl der monatlichen Opfer zurück – ein Trend, der sich während des ganzen Jahres 2018 und 2019 fortsetzte und wurden zivile Opfer vor allem in Gegenden mit fortbestehender ISIS-Präsenz gemeldet. Laut Statistik der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für den Irak (UNAMI) war der Verwaltungsbezirk mit der höchsten Anzahl an Opfern in den meisten Monaten des Jahres 2018 Bagdad, vor allem aufgrund regelmäßiger kleinerer Anschläge (Schießereien, USBVs und Haftbomben) und gelegentlicher Massenanschläge. Im Jahr 2018 wurde Bagdad (der bevölkerungsreichste Verwaltungsbezirk des Irak) gefolgt (und in manchen Monaten auch übertroffen) von den nachstehenden Verwaltungsbezirken, obgleich nicht immer in derselben Reihenfolge: Al-Anbar, Diyala, Ninawa, Kirkuk, Salah ad-Din und Babel. Die Analyse der Opferstatistik Iraq Body Count (IBC) für das Jahr 2018 ergab, dass im Verwaltungsbezirk Ninawa die Rate ziviler Opfer, also die Anzahl der Opfer pro 100.000 Einwohner, am höchsten war (46,5 Opfer pro 100.000 Einwohnern), gefolgt von Kirkuk (18,3), Diyala (16,4) Salah ad-Din (10) und Bagdad (7,4). Es wird auch berichtet, dass es bei türkischen Luftangriffen auf vermeintliche Standorte der PKK in der Autonomen Region Kurdistan und gelegentlich in Ninawa zu zivilen Opfern kam.

In Bezug auf urbane Gegenden im Südirak vertritt UNHCR die Ansicht, dass die einzigen Personengruppen, hinsichtlich derer keine externe Unterstützung vorauszusetzen ist, arabische Schiiten sind, bei denen es sich entweder um alleinstehende, körperlich leistungsfähige Männer oder kinderlose Ehepaare im arbeitsfähigen Alter ohne identifizierte besondere Vulnerabilitäten handelt. Abhängig von den jeweiligen Umständen sind solche Personen möglicherweise in der Lage, in urbanen Gegenden im Südirak, in denen die notwendige Infrastruktur und Möglichkeiten zur Existenzsicherung zur Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse vorhanden sind, ohne Unterstützung durch ihre Familie und/oder ihren Stamm zu bestehen.

Quellen:

- UNHCR: Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen (Mai 2019): https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2020/01/Schutzerwägungen-Irak-2019-korrigiert.pdf , S 24ff sowie S 141f, Zugriff 10.3.2021

Im Jahr 2019 wurden im Gouvernement Najaf seitens UNAMI insgesamt zehn sicherheitsrelevante Vorfälle im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten registriert, welche zu insgesamt vier zivilen Todesopfern und fünfzehn verletzten Zivilpersonen geführt haben. Zwischen 1. Jänner und 31. Juli 2020 wurde in Najaf seitens UNAMI lediglich ein sicherheitsrelevanter Vorfall im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten registriert, welcher jedoch keine Toten oder Verletzten nach sich zog. In Relation zur Bevölkerungszahl im Gouvernement entspricht dies einem zivilen Opfer pro 100.000 Einwohner für den gesamten Beobachtungszeitraum.

In Najaf, dem Herkunftsgouvernement des Beschwerdeführers, kommt es derart selten zu willkürlichen, sicherheitsrelevanten Vorfällen, dass nach Ansicht von EASO für eine Zivilperson aufgrund ihrer reinen Anwesenheit kein reales Risiko einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht, wenngleich die Umstände des Einzelfalles naturgemäß stets zu berücksichtigen sind.

Quellen:

- EASO Country of Origin Information Report: Iraq, Security Situation (October 2020), https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf , S 223, Zugriff 10.3.2021

- EASO Country Guidance: Iraq, Guidance note and common analysis (January 2021), https://easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Iraq_2021.pdf , S 146f, Zugriff 10.3.2021

1.3.4. Sicherheitslage Bagdad:

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

Quellen:

- Al Monitor (11.3.2016): The rise of Islamic State sleeper cells in Baghdad, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/iraq-baghdad-belts-harbor-islamic-state.html , Zugriff 13.3.2020

- ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar.org/region/baghdad-belts , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html , Zugriff 13.3.2020

- OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, http://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf , Zugriff 13.3.2020

Im Einklang mit der allgemeinen Verbesserung der Sicherheitslage im Jahr 2018 und 2019 wird auch über Bagdad berichtet, dass sich die Sicherheitslage dort weitgehend stabilisiert hat. Über das Jahr 2018 hinweg blieben Überreste des IS in den Vororten von Bagdad („Bagdad-Gürtel“) aktiv und starteten gelegentliche USBV-Angriffe auf zivile Ziele. Es wird jedoch berichtet, dass die Fähigkeit des IS, Großanschläge mit hohen Opferzahlen durchzuführen, signifikant zurückgegangen ist. Anfang 2019 wurde berichtet, dass der IS sich weitgehend zurückgezogen hat, während die ISF ihre Kontrolle über den „Bagdad-Gürtel“ verstärkte, wodurch die Sicherheitsvorfälle noch weiter abnahmen. Jedoch soll der IS im April 2019 versucht haben, seine Stützzone in den südwestlichen Gegenden des Bagdad-Gürtels auszudehnen. Während es in den vergangenen Jahren Berichte über fast tägliche Entführungen aus politischen Gründen oder gegen Lösegeld gab, wurde für das Jahr 2018 und Anfang 2019 diesbezüglich von einem Rückgang berichtet. In Bagdad ereignen sich nach wie vor Fälle gezielter Tötungen hochrangiger Persönlichkeiten.

In Bezug auf die Lage in der Stadt Bagdad vertritt UNHCR die Ansicht, dass die einzigen Personengruppen, hinsichtlich derer keine externe Unterstützung vorauszusetzen ist, arabisch-schiitische und arabisch-sunnitische alleinstehende, körperlich leistungsfähige Männer und kinderlose Ehepaare im arbeitsfähigen Alter ohne identifizierte besondere Vulnerabilitäten sind. Abhängig von den jeweiligen Umständen sind solche Personen möglicherweise in der Lage, in der Stadt Bagdad ohne Unterstützung durch ihre Familie und/oder ihren Stamm zu bestehen.

Quellen:

- UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen (Mai 2019): https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2020/01/Schutzerwägungen-Irak-2019-korrigiert.pdf , S 23f sowie S 141, Zugriff 10.3.2021

Im Jahr 2019 wurden in Bagdad insgesamt 42 sicherheitsrelevante Vorfälle im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten verzeichnet, welche zu 37 zivilen Todesopfern und 13 verletzten Zivilpersonen geführt hatten. Die Anzahl ziviler Todesopfer belief sich hierbei nur noch auf gut ein Zehntel des Vorjahres 2018, wo diese noch bei 398 lag (und sich bereits im Vergleich zu den noch 728 zivilen Todesopfern des Jahres 2017 mehr als halbiert hatte).

Zwischen 1. Jänner und 31. Juli 2020 kam es in Bagdad nur noch zu vier sicherheitsrelevanten Vorfällen im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, welche zu drei zivilen Todesopfern und fünf verletzten Zivilpersonen geführt hatten.

Quellen:

- EASO Country of Origin Information Report: Iraq, Security Situation (October 2020), https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf , S 80f, Zugriff 10.3.2021

- EASO Country of Origin Information Report: Iraq, Security Situation (March 2019), https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/publications/EASO-COI-Report-Iraq-Security-situation.pdf , S 77, Zugriff 10.3.2021

Im Gouvernement Bagdad ereignen sich nach wie vor sicherheitsrelevante Vorfälle, jedoch nicht flächendeckend und mit derartiger Regelmäßigkeit, dass automatisch Gründe vorliegen würden um die Annahme zu rechtfertigen, dass eine nach Bagdad zurückkehrende Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.

Quellen:

- EASO Country Guidance: Iraq, Guidance note and common analysis (January 2021), https://easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Iraq_2021.pdf , S 136, Zugriff 8.3.2020

1.3.5. Protestbewegung:

Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern (WZ 9.10.2018).

So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).

Quellen:

- AAA - Asharq Al-Awsat (28.12.2019): Iraq: Human Rights Commission Says 490 Protesters Killed Since October, https://aawsat.com/english/home/article/2056146/iraq-human-rights-commission-says-490-protesters-killed-october , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2025831.html , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (23.1.2020): Iraq: Protest death toll surges as security forces resume brutal repression, https://www.ecoi.net/de/dokument/2023297.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (25.10.2019): Dozens killed as fierce anti-government protests sweep Iraq, https://www.aljazeera.com/news/2019/10/dozens-killed-fierce-anti-government-demonstrations-sweep-iraq-191025171801458.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (5.10.2019): Iraq PM lifts Baghdad curfew, https://www.aljazeera.com/news/2019/10/iraq-pm-lifts-baghdad-curfew-191005070529047.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Mada (2.10.2019): ساحاتالاحتجاجتتحولإلىمناطقحرب („Proteste werden zu Kriegsgebieten“), https://almadapaper.net/view.php?cat=221822 , Zugriff 13.3.2020

- AW - Arab Weekly, The (4.12.2019): Confessional politics ensured Iran’s colonisation of Iraq, https://thearabweekly.com/confessional-politics-ensured-irans-colonisation-iraq , Zugriff 13.3.2020

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1.3.6. Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha’bi:

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).

Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).

In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).

Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl. GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).

Die Badr-Organisation

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak“ gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak“ (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage“]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie die Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen (Süß 21.8.2017). Die Badr-Organisation besteht offiziell aus elf Brigaden, kontrolliert aber auch einige weitere Einheiten (FPRI 19.8.2019). Zu Badr und seinen Mitgliedsorganisationen gehören Berichten zufolge die 1., 3., 4., 5., 9., 10., 16., 21., 22., 23., 24., 27., 30., 52., 55. und 110. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Bei den Wahlen 2018 bildete die Badr-Organisation gemeinsam mit Asa‘ib Ahl al-Haqq und Kata‘ib Hizbullah die Fatah-Koalition (Wilson Center 27.4.2018), die 48 Sitze gewann (FPRI 19.8.2019), 22 davon gewann die Badr-Organisation (Wilson Center 27.4.2018). Viele Badr-Mitglieder waren Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). Die Badr-Organisation strebt die Erweiterung der schiitischen Macht in den Sicherheitskräften an, durch Wahlen und durch Eindämmung sunnitischer Bewegungen (Wilson Center 27.4.2018). Badr-Mitglieder und andere schiitische Milizen misshandelten und misshandeln weiterhin sunnitisch-arabische Zivilisten, insbesondere Sunniten im ehemaligen IS-Gebiet (FPRI 19.8.2019).

Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF

Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).

Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014 (TDP 3.7.2019). Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017).

Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontrollieren, was von diesen zurückgewiesen wird (Reuters 29.8.2019). Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben (ACCORD 11.12.2019). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).

Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017).

Quellen:

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1.3.7. Sunnitische Araber:

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).

Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html , Zugriff 13.3.2020

1.3.7.1. Zur innerstaatlichen Fluchtalternative für arabische Sunniten im Irak:

Laut UNHCR wurden in fast allen Teilen des Landes für Binnenflüchtlinge verschärfte Zugangs- und Aufenthaltsbeschränkungen implementiert. Zu den verschärften Maßnahmen gehören die Notwendigkeit des Vorweisens eines Bürgen, die Registrierung bei lokalen Behörden, sowie das Durchlaufen von Sicherheitsüberprüfungen durch mehrere verschiedene Sicherheitsbehörden, da die Regionen fürchten, dass sich IS-Kämpfer unter den Schutzsuchenden befinden.

Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen variieren von Provinz zu Provinz und beinhalten nicht nur Sicherheits-Screenings, sondern hängen Berichten zufolge auch vom persönlichen Profil der flüchtenden Personen und Familien ab, wie z.B. vom ethnisch-konfessionellen Hintergrund, dem Herkunftsort oder der Zusammensetzung der Familie der jeweiligen Person. Eine ID-Karte ist in fast allen Regionen von Nöten, doch besteht nicht in jeder Region die Notwendigkeit eines Bürgen.

Quellen:

- Australian Government (26.06.2017): DFAT COUNTRY INFORMATION REPORT IRAQ, http://dfat.gov.au/about-us/publications/Documents/country-information-report-iraq.pdf , Zugriff 17.7.2020

- IOM - International Organization for Migration (17.05.2017): Iraq Mission, http://iraqdtm.iom.int/LastDTMRound/Round86_Report_English_2017_December_31_IOM_DTM.pdf , Zugriff 17.7.2020

- UK Home Office: Country Policy and Information Note Iraq: Sunni (Arab) Muslims, June 2017 https://www.ecoi.net/en/file/local/1403272/1226_1499246656_iraq-sunni-arabs-cpin-v2-0-june-2017.pdf Zugriff 17.7.2020

Es ist möglich, ohne Bürgschaft in die Autonome Region Kurdistan einzureisen. Eine Einreise ist über den Internationalen Flughafen Erbil als auch auf dem Landweg möglich. Laut Bericht der International Organisation for Immigration (IOM) würden irakische Bürger bei der Ankunft an einem Checkpoint einer Landgrenze zu Kurdistan oder am Flughafen eine einwöchige Aufenthaltserlaubnis erhalten. Irakische Staatsbürger können sich z.B. in Erbil frei bewegen und von dort aus in alle Provinzen einzureisen. Binnenflüchtlinge müssen sich bei der Einreise registrieren und können dann eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung beantragen. Ob eine Person ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bzw. eine verlängerbare Aufenthaltsgenehmigung in der Autonomen Region Kurdistan bekommt, hängt dabei oft vom ethischen, religiösen und persönlichen Profil ab. Die Notwendigkeit eines Bürgen zur Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung differiert von Provinz zu Provinz und wird zuweilen auch willkürlich gehandhabt. In manchen Provinzen kann ein Bürge notwendig werden, um sich dort niederzulassen oder dort zu arbeiten.

Arabische Binnenflüchtlinge können in der Region Sulaimaniyya zunächst eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung erhalten und sodann den Daueraufenthalt beantragen. In Sulaimaniyya ist nach Berichten der UNHCR kein Bürge notwendig, um sich niederzulassen oder eine Arbeitsbewilligung zu erhalten. Berichten der IOM zufolge leben 90 % aller Binnengeflüchteten in Sulaimaniyya in stabilen sanitären Verhältnissen und haben 83 % Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem. Im Regelfall können binnengeflüchtete Menschen in Sulaimaniyya am Bildungssystem teilhaben. Binnengeflüchtete haben in dort die Möglichkeit in den verschiedensten Feldern zu den gleichen Löhnen wie ortsansässige Personen zu arbeiten.

In Bagdad gibt es mehrere sunnitisch mehrheitlich bewohnte Stadtviertel. Zur Einreise von sunnitischen Arabern in das Stadtgebiet Bagdads müssen sich diese einem Sicherheitscheck unterziehen, vor allem, wenn sie aus vom IS dominierten Gebieten kommen. Darüber hinaus kann es notwendig werden, einen Bürgen vorzuweisen. Auch um Bagdad herum gibt es Flüchtlingslager und Aufnahmestationen.

Quellen:

- IOM - International Organization for Migration (17.05.2017): Iraq Mission, http://iraqdtm.iom.int/LastDTMRound/Round86_Report_English_2017_December_31_IOM_DTM.pdf , Zugriff 17.7.2020

- UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (12.04.2017): Iraq: Relevant COI for assessments on the availability of an internal flight or relocation alternative (IFA/IRA); Ability of persons ariginating from (previously or currently) ISIS-held or conflict areas to legally access and remain in proposed areas of relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1397131/1930_1492501398_58ee2f5d4.pdf , Zugriff 17.7.2020

1.3.8. Sexuelle Minderheiten:

Das Strafgesetzbuch des Irak verbietet gleichgeschlechtliche Intimität nicht (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020). Es gibt keine Gesetze, die gleichgeschlechtliches Verhalten (same-sex conduct) kriminalisieren. Nach Artikel 394 ist jedoch das Eingehen einer außerehelichen sexuellen Beziehung strafbar (HRW 14.1.2020). Die Behörden stützen sich aber auf Anklagen wegen Sittlichkeitsvergehen oder Prostitution, um gleichgeschlechtliche - aber auch außereheliche heterosexuelle - Aktivität strafrechtlich zu verfolgen (USDOS 11.3.2020). Herangezogen wird Artikel 401 bezüglich unsittlichem Verhalten in der Öffentlichkeit (bis zu sechs Monate Haft). Es handelt sich dabei um eine vage Bestimmung, die zur Verfolgung sexueller und gleichgeschlechtlicher Minderheiten herangezogen werden kann, auch wenn kein derartiger Fall dokumentiert ist (HRW 14.1.2020).

Auch wenn sensible Themen zunehmend öffentlich diskutiert werden, wird Homosexualität weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt. Homosexuelle leben ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sehen sich Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung (AA 12.1.2019) und Gewalt (FH 4.3.2020), bis hin zu Ehrenmorden durch Familienangehörige (AA 12.1.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Konfessionelle Milizen haben in den letzten Jahren wiederholt Mitglieder sexueller Minderheiten bedroht und verfolgt und werden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht (AA 12.1.2019). Angehörige sexueller Minderheiten sind häufig Misshandlungen und Gewalt durch staatliche und nicht-staatliche Akteure ausgesetzt, die von der Regierung nicht wirksam untersucht werden. Die Polizei wird mitunter eher als Bedrohung, denn als Schutz empfunden (AA 12.1.2019). Trotz wiederholter Drohungen und Gewalttaten gegen Angehörige sexueller Minderheiten versäumt es die Regierung, Angreifer zu identifizieren, festzunehmen oder strafrechtlich zu verfolgen bzw. mögliche Opfer zu schützen (USDOS 11.3.2020). Staatliche Rückzugsorte für Angehörige sexueller Minderheiten gibt es nicht, die Anzahl privater Schutzinitiativen ist sehr beschränkt (AA 12.1.2019).

Transgender Frauen sind mit Gewalt und Diskriminierung, einschließlich sexuellem Missbrauch, durch Strafverfolgungsbehörden, Familien, Nachbarn und Fremde konfrontiert. Da es Transsexuellen nicht möglich ist Ausweise oder offizielle Dokumente zu erhalten, die die Geschlechtsidentität widerspiegeln, ist ihr Zugang zu Dienstleistungen eingeschränkt. Zudem kann es bei der Vorlage ihrer Ausweispapiere zu Diskriminierung durch Beamte kommen. 2019 wurden zwei Todesfälle, ein angenommener „Ehrenmord“ und ein Mord, von Transgender Personen verzeichnet (CEDAW 9.2019).

Auch in der KRI sind Angehörige sexueller Minderheiten Einschüchterungen und Drohungen, Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt (USDOS 11.3.2020). Angehörige sexueller Minderheiten (insbesondere „männliche“ Frauen, „weibliche“ Männer und Transsexuelle) erleben unter der Regionalregierung Kurdistans körperlichen Missbrauch. Viele von ihnen werden inhaftiert, ohne über ihre Rechte informiert zu werden und ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten. Manche haben trotz monatelanger Haft keine formelle Anhörung oder rechtliche Vertretung erhalten (CEDAW 9.2019). Ein interministerielles Komitee, das zu Fragen betreffend sexueller Minderheiten eingerichtet wurde, ist seit Mitte 2014 nicht mehr in Erscheinung getreten (AA 12.1.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- CEDAW - UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women; IraQueer (Author), MADRE (Author), OutRight Action International (Author), OWFI - The Organization of Women's Freedom in Iraq (Author) (9.2019): Violence and Discrimination Based on Sexual Orientation and Gender Identity in Iraq, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared Documents/IRQ/INT_CEDAW_CSS_IRQ_37343_E.docx , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html , Zugriff 13.3.2020

UNHCR vertritt die Ansicht, dass Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und/oder geschlechtlichen Identitäten – abhängig von den spezifischen Umständen des jeweiligen Falls – aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe und/oder aus anderen maßgeblichen Gründen wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen.

Staatlicher Schutz ist für diese Art von Verfolgung üblicherweise nicht verfügbar, sofern es sich bei den Verfolgern um nichtstaatliche Akteure handelt. Es sollte berücksichtigt werden, dass von Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und/oder geschlechtlichen Identitäten nicht erwartet werden kann, ihre Identität zu verbergen, um Verfolgung zu vermeiden. Außerdem schließt das Bestehen wesentlicher strafrechtlicher Sanktionen für einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen den Schutz durch den Staat aus, auch in Fällen, in denen die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wie bewaffnete Gruppen und Mitglieder der Gesellschaft erfolgt.

Quellen:

- UNHCR: Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen (Mai 2019): https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2020/01/Schutzerwägungen-Irak-2019-korrigiert.pdf , S 122f, Zugriff 10.3.2021

1.3.9. Allgemeine Menschenrechtslage:

Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren. Internationale Beobachter kritisieren, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. Ähnliches gilt für den Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft (AA 12.1.2019).

Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 11.3.2020).

Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Es wird berichtet, dass tausende Männer und Buben, die aus Gebieten unter IS-Herrschaft geflohen sind, von zentral-irakischen und kurdischen Kräften willkürlich verhaftet wurden und nach wie vor als vermisst gelten. Sicherheitskräfte einschließlich PMFs haben Personen mit angeblichen IS-Beziehungen auch in Lagern inhaftiert und gewaltsam verschwinden lassen (AI 26.2.2019).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen, sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten, durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 11.3.2020).

Im Zuge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste haben Sicherheitskräfte unter anderem scharfe Munition gegen Demonstranten eingesetzt und hunderte Menschen getötet (HRW 31.1.2020).

Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005 (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (31.1.2020): Iraq: Authorities Violently Remove Protesters, https://www.ecoi.net/en/document/2023934.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html , Zugriff 13.3.2020

1.3.10. Grundversorgung und Wirtschaft:

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o.D.; vgl. USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).

Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).

Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).

Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).

Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).

Wasserversorgung

Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).

Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkenden Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).

Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Nahrungsmittelversorgung

Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vgl. FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020).

Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).

m Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vgl. USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (10.7.2018): More than infrastructures: water challenges in Iraq, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-07/PB_PSI_water_challenges_Iraq.pdf , Zugriff 13.3.2020

- EPIC - Enabling Peace in Iraq Center (18.7.2017): Drought in the land between two rives, https://www.epic-usa.org/iraq-water/ , Zugriff 13.3.2020

- Fanack (17.9.2019): Energy file: Iraq, https://fanack.com/fanack-energy/iraq/ , Zugriff 18.2.2020

- FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (31.1.2020): Country Briefs, Iraq, http://www.fao.org/giews/countrybrief/country.jsp?code=IRQ , Zugriff 13.3.2020

- FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (8.2.2018): Iraq: Recovery and Resilience Programme 2018-2019, http://www.fao.org/3/I8658EN/i8658en.pdf , Zugriff 13.3.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020c): Irak - Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/irak/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 13.3.2020

- GRI - Global Risk Insights (24.11.2019): Water Shortage and Unrest in Iraq, https://globalriskinsights.com/2019/11/water-shortage-and-unrest-in-iraq/ , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (22.7.2019): Irak: Wasserkrise in Basra, https://www.hrw.org/de/news/2019/07/22/irak-wasserkrise-basra , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_-_Country_Fact_Sheet_2018,_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2 , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (o.D.): Iraq 2019, Humanitarian Compendium, https://humanitariancompendium.iom.int/appeals/iraq-2019 , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (18.2.2020): Poverty Rate In Iraq Down But Still Higher Than Pre-War Level, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/poverty-rate-in-iraq-down-but-still.html , Zugriff 13.3.2020

- K4D - Knowledge for Development Program (18.5.2018): Iraqi state capabilities, https://assets.publishing.service.gov.uk/media/5b18e952e5274a18eb1ee3aa/Iraqi_state_capabilities.pdf , Zugriff 13.3.2020

- OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (11.9.2019): Committee on the Rights of Persons with Disabilities discusses the impact of the armed conflict on persons with disabilities in Iraq, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=24976&LangID=E , Zugriff 13.3.2020

- Rudaw (16.2.2020): ISIS caused massive spike in Iraq’s poverty rate, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/160220201 , Zugriff 13.3.2020

- USAID - Unites States Agency for International Development (30.9.2019): Food Assistance Fact Sheet: Iraq, https://www.usaid.gov/iraq/food-assistance , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- WB - World Bank, The (12.2019): Unemployment, youth total (% of total labor force ages 15-24) (modeled ILO estimate), Iraq, https://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.1524.ZS?locations=IQ , Zugriff 13.3.2020

- WB - World Bank, The (19.4.2019): Republic of Iraq, http://pubdocs.worldbank.org/en/300251553672479193/Iraq-MEU-April-2019-Eng.pdf , Zugriff 13.3.2020

- WKO - Wirtschaftskammer Österreich (18.10.2019): Die irakische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-irakische-wirtschaft.html , Zugriff 13.3.2020

1.3.11. Medizinische Versorgung:

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art. Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).

Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 12.1.2019). Für das Jahr 2020 werden in Flüchtlingslagern der kurdischen Gouvernements Dohuk und Sulaymaniyah erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung erwartet, die auf Finanzierungsengpässe zurückzuführen sind (UNOCHA 17.2.2020).

EASO vertritt die Ansicht, dass angesichts der medizinischen Versorgung im Irak, welche insbesondere im urbanen Raum sichergestellt ist, nicht jede Person mit einer Gesundheitsbeeinträchtigung im Fall ihrer Rückkehr in den Irak automatisch dem Risiko ausgesetzt, einen ernsthaften Schaden im Sinne der Statusrichtlinie und somit einer Verletzung in ihren durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte zu erleiden. Vielmehr ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines solchen Schadens anhand der individuellen Umstände, wie z. B. Alter oder Art. der geistigen oder körperlichen Gesundheitsbeeinträchtigung im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen (EASO 06/2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- EASO Country Guidance: Iraq, Guidance note and common analysis, June 2019, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Iraq_2019.pdf , S 89f, Zugriff 20.04.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/ , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_-_Country_Fact_Sheet_2018,_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2 , Zugriff 13.3.2020

- UNAMI - United Nations Assistance Mission to Iraq (12.2016): Report on the Rights of Persons with Disabilities in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNAMI_OHCHR__Report_on_the_Rights_of_PWD_FINAL_2Jan2017.pdf , Zugriff 13.3.2020

- UN OCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (17.2.2020): Iraq: Humanitarian Bulletin, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/humanitarian-bulletin-january-2020.pdf , Zugriff 13.3.2020

- WHO - World Health Organization (o.D.): Iraq: Primary Health Care, http://www.emro.who.int/irq/programmes/primary-health-care.html , Zugriff 13.3.2020

1.3.12. COVID-19-Pandemie:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 08.03.2021 bislang 475.070 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierter Personen und 8.713 Todesfälle; im Irak wurden bislang 726.548 Infektionen bestätigt, davon sind 660.541 Personen bereits wieder genesen, 13.572 Personen sind gestorben (Stand: 08.03.2021). In Relation zur Einwohnerzahl ist die Infektions- sowie die Sterberate im Irak somit prozentual noch deutlich unter jener von Österreich.

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf. Dass einer der Beschwerdeführer derzeit an einer COVID-19-Infektion leiden oder im Hinblick auf eine etwaige Vorerkrankung zu einer vulnerablen Personengruppe gehören würde, wurde nicht vorgebracht. Bei jungen Menschen ohne Schwächung des Immunsystems verläuft eine Infektion mit COVID-19 zudem mit nur geringen Symptomen vergleichbar einer Grippe. Bei Personen in der Altersgruppe bis 39 Jahre ist die Sterblichkeit sehr gering und liegt unter 1%.

Aufgrund der weiterhin stark steigenden Infektionszahlen hat die irakische Regierung für 30.7. bis 9.8.2020 eine neuerliche komplette Ausgangssperre beschlossen (BMEIA 6.8.2020; vgl. GoI 27.7.2020; UNHCR 4.8.2020). Diese Einschränkungen gelten nicht für die KRI (BMEIA 6.8.2020).

Bereits im Juli 2020 gab das Gesundheitsministerium bekannt, dass die Krankenhäuser fast vollständig ausgelastet sind (IRC 2.7.2020). Es herrschen Engpässen bei der Versorgung mit Sauerstoff und mit Schutzausrüstungen (MEMO 3.8.2020).

Nachdem private Kliniken im Juli temporär geschlossen wurden (GoI 7.7.2020), erlaubt die irakische Regierung deren Wiedereröffnung, sofern sie die vom Gesundheitsministerium und dem irakischen Ärzteverband festgelegten Bedingungen erfüllen (GoI 27.7.2020).

Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, die Richtlinien zur Schutzmaskenpflicht, zur sozialen Distanzierung und weitere umzusetzen, einschließlich der Verhängung von Geldstrafen und der Beschlagnahme von Fahrzeugen derjenigen, die gegen die Regeln verstoßen (GoI 27.7.2020; vgl. MEMO 3.8.2020).

Seit dem 23.7.2020 sind die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra wieder für kommerzielle Linienflüge geöffnet. Sämtliche Flughäfen wurden zuvor am 17.3.2020 geschlossen (Al Jazeera 23.7.2020; vgl. Rudaw 1.8.2020). Passagiere müssen vor dem Boarding einen negativen COVID-19 Test vorweisen (Al Jazeera 23.7.2020). Mit der Wiedereröffnung des Internationalen Flughafens Erbil (KRI) am 1.8. wird es auch wieder eine Luftverbindung zwischen Bagdad und Erbil geben (Rudaw 1.8.2020).

Seit Beginn des COVID-19-Ausbruchs im Irak im März 2020 gehören vertriebene Familien zu den am stärksten betroffenen Personen, auch durch sekundäre Auswirkungen, wie mangelnde Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu verdienen und sozioökonomische Folgendavon (UNHCR 4.8.2020).

Es gilt Schutzmaskenpflicht für sämtliche öffentliche Orte, wie Märkte, Restaurants und andere kommerzielle Einrichtungen, wie Firmen. Bei zuwiderhandeln drohen den Inhabern Geldstrafen und temporäre Zwangsschließungen. Auch Beerdigungen, Hochzeitsfeiern und andere gesellschaftliche Veranstaltungen sind unter Androhung von Geldstrafen verboten (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 3.8.2020A). Kliniken und Labore bleiben per Verordnung für14 Tage geschlossen (Gov.KRD 5.8.2020). Um den steigenden Infektionszahlen im Gouvernement Erbil entgegenzuwirken wurden mittlerweile vier Krankenhäuser als alleinige COVID -19 Behandlungszentren deklariert (Rudaw 3.8.2020B).

Aktuelle Maßnahmen umfassen weiterhin ein Reiseverbot zwischen den kurdischen Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Dohuk und Halabja, sowie ein Reiseverbot innerhalb derselben, ausgenommen bei Notfällen und mit Sondergenehmigungen (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 3.8.2020A; UNHCR 4.8.2020).

Der Grenzübergang Ibrahim Khalil zur Türkei wurde für den Zeitraum vom 4. bis zum 11.August COVID -19-anlassbezogen für den Personenverkehr geschlossen (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Garda 4.8.2020). Die Grenzübergänge Haji Omaran und Bashmakh zum Iran sind für Bürger der KRI, die heimkehren wollen geöffnet (Gov.KRD 5.8.2020).

Am 1.8.2020 nahmen die internationalen Flughäfen in Erbil und Sulaymaniyah wieder ihren Betrieb auf (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 1.8.2020). Personen, die über die Flughäfen einreisen müssen jedoch auf eigene Kosten einen COVID -19-Test machen und sich zur Selbstquarantäne verpflichten, bei deren Verstoß sie mit einem Bußgeld bestraft werden. Personen, die positiv auf COVID -19 getestet wurden und die die Quarantäne missachten müssen alle anfallenden medizinischen Kosten für evtl. infizierte Personen übernehmen und werden strafrechtlich verfolgt (Artikel 368-369 des geänderten Gesetzes 111 von 1969) (Gov.KRD 5.8.2020)

Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich im Irak nicht wesentlich verändert; bei bestimmten Gütern kam es jedoch zu standortspezifischen Preisschwankungen. In einer offiziellen Erklärung erklärte das Handelsministerium, dass der Mangel an finanziellen Zuweisungen die Fähigkeit des Ministeriums in Frage stelle, PDS-Güter (Public Distribution System) konsequent zu beschaffen (WFP 2.6.2020).

Quellen:

- AGES: FAQ Coronavirus, https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/ , Zugriff 8.3.2021

- Al Jazeera (23.7.2020): Iraq resumes commercial flights despite rise in corona virus cases, https://www.aljazeera.com/news/2020/07/iraq-resumes-commercial-flights-rise-coronavirus-cases-200723120054091.html , Zugriff 6.8.2020

- BMEIA - Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten(6.8.2020): Reiseinformation–Irak, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/irak/ , Zugriff 3.11.2020

- BMSGPK: Informationen zum Coronavirus, https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html , Zugriff 8.3.2021

- Coronavirus: COVID-19 Fälle in Österreich, https://coronavirus.datenfakten.at/ , Zugriff 8.3.2021

- Garda (4.8.2020): Iraq: Kurdish Authorities close border with Turkey on August 4 due to COVID-19 /update 46, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/365991/iraq-kurdish-authorities-close-border-with-turkey-on-august-4-due-to-covid-19-update-46 , Zugriff 6.8.2020

- GoI - Government of Iraq (7.7.2020): Covid-19: Higher Committee for Health and National Safety announces new measures, https://gds.gov.iq/covid-19-higher-committee-for-health-and-national-safety-announces-new-measures/ , Zugriff 6.8.2020

- GoI - Government of Iraq (27.7.2020): Covid-19: Iraqi government imposes total curfew during Eid Al-Adha, permits reopening of private health clinics, https://gds.gov.iq/covid-19-iraqi-government-imposes-total-curfew-during-eid-al-adha-permits-reopening-of-private-health-clinics/ , Zugriff 6.8.2020

- Gov.KRD - Kurdistan Regional Government (5.8.2020): Situation Update Coronavirus (COVID-19), https://gov.krd/coronavirus-en/situation-update/ , Zugriff 6.8.2020

- IRC - International Rescue Committee (2.7.2020): Iraq: 600% rise in COVID-19 cases through June means urgent action is needed to slow the spread of the disease, https://www.rescue.org/press-release/iraq-600-rise-covid-19-cases-through-june-means-urgent-action-needed-slow-spread , Zugriff 6.8.2020

- MEMO - Middle East Monitor (3.8.2020): 'Total curfew': Coronavirus cases, deaths rise in Iraq, https://www.middleeastmonitor.com/20200803-total-curfew-coronavirus-cases-deaths-rise-in-iraq/ , Zugriff 6.8.2020

- Rudaw (1.8.2020): Commercial flights to and from the Kurdistan Region resume after months long ban, https://www.rudaw.net/english/kurdistan/01082020 , Zugriff 6.8.2020

- Rudaw (3.8.2020A): Further travel, social restrictions announced in KRG lockdown update, https://www.rudaw.net/english/kurdistan/030820201 , Zugriff 6.8.2020

- Rudaw (3.8.2020B): Major Erbil hospital to only treat coronavirus patients as cases surge, https://www.rudaw.net/english/lifestyle/03082020 , Zugriff 6.8.2020

- UNHCR (4.8.2020): IRAQ | UNHCR COVID-19 UPDATE, https://reporting.unhcr.org/sites/default/files/UNHCR Iraq - COVID-19 Update - 04-08-20.pdf , Zugriff 6.8.2020

- WFP - World Food Programme (2.6.2020): Iraq COVID-19 Food Security Monitor, Weekly Update – Issue 7, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/COVID Weekly Food Security Monitor Iraq_2June2020_EN_final draft.pdf , Zugriff 5.6.2020

1.3.13. Behandlung nach Rückkehr:

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdischen Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).

Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017).

Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).

Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussen sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).

Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage (USCIRF 4.2019). Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben (UNDP 28.4.2019).

Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen (IOM 1.4.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Ekurd Daily (8.1.2019): Property prices increasing in Iraqi Kurdistan after years of stagnation, https://ekurd.net/property-prices-kurdistan-2019-01-08 , Zugriff 13.3.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/ , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_-_Country_Fact_Sheet_2018,_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2 , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (13.6.2018): Länderinformationsblatt Irak (2017), https://www.bamf.de/SharedDocs/MILo-DB/DE/Rueckkehrfoerderung/Laenderinformationen/Informationsblaetter/cfs_irak-dl_de.pdf ;jsessionid=0E66FF3FBC9BF77D6FB52022F1A7B611.1_cid294?__blob=publicationFile, Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (2.2018): Iraqi returnees from Europe: A snapshot report on Iraqi Nationals upon return in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/DP.1635 - Iraq_Returnees_Snapshot-Report - V5.pdf , Zugriff 13.3.2020

- REACH (30.6.2017): Iraqi migration to Europe in 2016: Profiles, Drivers and Return, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/reach_irq_grc_report_iraqi_migration_to_europe_in_2016_june_2017 (1).pdf , Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- UNDP - United Nations Development Programme (28.4.2019): UN-Habitat and UNDP Upscale Support on Housing Rehabilitation and Secure Tenure for the Returnees in Sinjar, https://www.iq.undp.org/content/iraq/en/home/presscenter/pressreleases/2019/04/28/un-habitat-and-undp-upscale-support-on-housing-rehabilitation-an.html , Zugriff 13.3.2020

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz, in die zitierten Länderberichte zum Irak sowie in die seitens des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren in Vorlage gebrachten Unterlagen.

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

Auskünfte aus dem Strafregister (SA), dem zentralen Melderegister (ZMR), dem Hauptverband österreichischer Sozialversicherungsträger (AJWEB-P), der Grundversorgung (GVS) sowie dem Informationsverbund zentrales Fremdenregister (IZR) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.

Überdies wurde Beweis aufgenommen durch die Abhaltung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 18.02.2021 in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seiner Rechtsvertretung sowie seines vorgeblichen Lebensgefährten M.A. als Zeugen.

2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Identität des Beschwerdeführers steht aufgrund seines im Verfahren im Original in Vorlage gebrachten – und sich überdies in Kopie im Akt befindlichen – irakischen Personalausweises Nr. 00391973 fest.

Die Feststellungen zu seiner Herkunft, seinen Lebensumständen, seinen Familienverhältnissen, seinem Gesundheitszustand, seiner Arbeitsfähigkeit, seiner Schulbildung und Berufserfahrung sowie zu seiner Glaubens- und Volksgruppenzugehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers aufkommen lässt.

Die Feststellung zum Aufenthalt des Beschwerdeführers im österreichischen Bundesgebiet seit (spätestens) 03.10.2015 ergibt sich aus dem Verwaltungsakt in Zusammenschau mit eingeholten Auskünften aus dem zentralen Melderegister und dem Informationsverbund zentrales Fremdenregister.

Dass nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in einer Beziehung lebt, ergibt sich aus dem Umstand, dass sein Vorbringen, eine „offene“, homosexuelle Beziehung mit dem Zeugen M.A. zu führen, untrennbar mit seinem erst im Beschwerdeverfahren erstatteten, dem Neuerungsverbot unterliegenden Fluchtvorbringen bezüglich seiner behaupteten Homosexualität verknüpft ist (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II.2.3.3.). Dessen ungeachtet besteht ohnedies – wie sich sowohl aus dem zentralen Melderegister als auch aus den Angaben des Beschwerdeführers und von M.A. in der Beschwerdeverhandlung ergibt – kein gemeinsamer Wohnsitz und wurde auch kein finanzielles oder anderweitig geartetes Abhängigkeitsverhältnis behauptet.

Die gemeinnützige Tätigkeit des Beschwerdeführers (auf Grundlage von § 7 Grundversorgungsgesetz) in der Apotheke eines Spitals im Ausmaß von 50 Stunden monatlich, wobei er hierfür eine Entschädigung in Höhe von etwa 200 Euro monatlich erhält, ergibt sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers in der Beschwerdeverhandlung in Zusammenschau mit in Vorlage gebrachter Bestätigungsschreiben des Spitals vom 11.12.2018, vom 29.09.2020 vom 18.11.2020, sowie vorgelegten Unterstützungsschreiben von drei Arbeitskolleginnen, welche allesamt auf diese von ihm ausgeübte Tätigkeit Bezug nehmen.

Dass er ansonsten in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer legalen Erwerbstätigkeit nachging, ergibt sich aus einer Abfrage im Hauptverband österreichischer Sozialversicherungsträger.

Die Feststellung, wonach er seinen Lebensunterhalt über die staatliche Grundversorgung bestreitet, ergibt sich aus einer Abfrage in der Applikation "Betreuungsinformation (Grundversorgung)". Aus diesem Umstand ergibt sich überdies unweigerlich die Feststellung seiner mangelnden Selbsterhaltungsfähigkeit. Dass er in einer Asylwerberunterkunft lebt, ergibt sich aus einer Abfrage im zentralen Melderegister.

Die Deutsch-Kenntnisse des Beschwerdeführers auf Sprachniveau A2 ergeben sich aus einem diesbezüglich in Vorlage gebrachten ÖSD-Zertifikat vom 01.06.2018.

Dass er in Österreich diverse Bekanntschaften geschlossen hat, mit denen er auch seine Freizeit verbringt, ergibt sich aus den Angaben des Beschwerdeführers und des Zeugen M.A. in der Beschwerdeverhandlung in Zusammenschau mit diversen, im Verfahren in Vorlage gebrachten Unterstützungsschreiben sowie Lichtbildern, welche den Beschwerdeführer bei diversen, gemeinschaftlichen Aktivitäten in Österreich zeigen.

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes durch Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich.

2.3. Zu den vorgebrachten Fluchtgründen und der Rückkehrsituation des Beschwerdeführers:

2.3.1. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers bezüglich einer versuchten Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen:

Der Beschwerdeführer begründete seinen verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Rahmen des Administrativverfahrens zunächst damit, dass schiitische Milizen ihn in seiner Heimatstadt Najaf für den Kampf gegen den IS rekrutieren hätten wollen, was er abgelehnt habe.

Bereits in seinen beiden Einvernahmen vor der belangten Behörde am 21.06.2016 sowie am 15.02.2017 verharrte er bezüglich dieses Fluchtvorbringens in äußerst vagen sowie oberflächlich Schilderungen, welche über die bloße Behauptungsebene nicht hinausgehen und überdies jegliche Realkriterien, wie sie für Erzählungen von selbst wahrgenommenen Ereignissen typisch sind - etwa eigene Gefühle oder auch nur unwesentliche Details oder Nebenumstände – vermissen ließen. Wenngleich der Beschwerdeführer in seiner Erstbefragung noch ausdrücklich behauptet hatte, „mit dem Tod bedroht“ worden zu sein (AS 13), so waren seinen nachfolgenden Angaben im Rahmen seiner beiden Einvernahmen letztlich keinerlei konkrete Bedrohungs- oder Verfolgungshandlungen seiner Person gegenüber zu entnehmen. Er äußerte gänzlich unsubstantiiert, „unter Druck gesetzt“ worden zu sein und dass Milizen „dreimal bei uns zu Hause waren“ (AS 48), sodass er in weiterer Folge zu einem Onkel mütterlicherseits gezogen sei. Zudem äußerte er lapidar, er hätte Angst gehabt, dass die Milizen ihn „töten oder schlagen“ würden, sofern sie ihn finden würden (AS 48), ohne jedoch auch nur ansatzweise darzulegen, dass eine diesbezügliche Drohung je konkret ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht worden sei.

In seiner zweiten Einvernahme gab er erstmalig an, dass es sich bei den in Rede stehenden Milizen um Angehörige der Badr-Organisation gehandelt habe (AS 109), jedoch vermochte er ansonsten abermals kaum sachdienliche Angaben bezüglich etwaiger Bedrohungs- oder Verfolgungshandlungen seiner Person gegenüber darzulegen. Sein gesamtes Vorbringen erschöpfte sich im Wesentlichen darin, dass Milizen auf den Straßen und in den Schulen versucht hätten, Mitglieder zu rekrutieren und auch die Wohnadresse des Beschwerdeführers aufgesucht hätten, wobei er weder das Äußere der Milizen in irgendeiner Form zu beschreiben (AS 109: Frage: „Wie sahen die Männer aus?“, Antwort: „Es ist unmöglich, dass ich mich jetzt an alle Details erinnern kann. Ich habe sie nur zweimal gesehen, eine mal in der Schule und einmal zuhause…“) noch anzugeben vermochte, wann er denn erstmalig bedroht worden sei (AS 111: „Ich kann mich an das Datum nicht erinnern“).

Ein derart vages und oberflächliches Vorbringen, welchem überdies auch keine konkrete Bedrohungs- oder Verfolgungshandlung von asylrelevanter Intensität entnommen werden kann, reicht nicht aus, um glaubhaft zu machen, dass der Beschwerdeführer tatsächlich im Irak der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen ausgesetzt war und erweist sich das das Beschwerdevorbringen, wonach er „die Zwangsrekrutierung genau zeitlich, örtlich und inhaltlich beschrieben“ habe (AS 230), insoweit als aktenwidrig.

Bemerkenswert erscheint für das Bundesverwaltungsgericht überdies, dass es dem Beschwerdeführer im Beschwerdeschriftsatz, etwa fünf Monate nach seiner zweiten Einvernahme vor dem BFA, in Replik auf die beweiswürdigenden Erwägungen der belangten Behörde, wonach er ein gänzlich abstraktes und irrelevantes Vorbringen erstattet habe, plötzlich möglich war, eine – wenngleich ebenfalls nur vage – Personsbeschreibung bezüglich der in Rede stehenden Milizen zu erstatten, wonach es sich um vier Männer gehandelt habe, wobei einer von ihnen ca. 40 Jahre alt gewesen sei und der andere wegen des weißen Bartes bereits älter gewesen sein müsse, sie alle Uniformen getragen hätten und zwei von ihnen „in der Zwischenzeit draußen gewartet hätten“ (AS 231). Was den Beschwerdeführer daran gehindert hätte, diese Beschreibung bereits in seiner vorangegangenen Einvernahme am 15.02.2017 auf die konkrete Frage des Einvernahmeleiters, wie die Milizen denn ausgesehen hätten, zu Protokoll zu geben, ist nicht nachvollziehbar und liegt der Schluss nahe, dass diese erstmalig in der Beschwerde vorgetragene Personsbeschreibung letztlich einem reinen Gedankenkonstrukt entspringt.

Die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers wird zusätzlich durch weitere, offenkundig divergierenden Angaben im Verfahren – auch abseits seiner eigentlichen Fluchtvorbringen - in Zweifel gezogen. Während er etwa in seiner Erstbefragung noch ausdrücklich angab, seinen Reisepass in der Türkei verloren zu haben (AS 9), gab er in der Beschwerdeverhandlung wiederum zu Protokoll, er habe seinen Reisepass im Oktober 2015 im Flüchtlingslager Traiskirchen verloren (Verhandlungsprotokoll S 4).

Nicht zuletzt gelangt das Bundesverwaltungsgericht aufgrund des unmittelbaren und persönlichen Eindrucks, welcher vom Beschwerdeführer im Rahmen der Beschwerdeverhandlung am 18.02.2021 gewonnen werden konnte zur Überzeugung, dass dieser sein Fluchtvorbringen betreffend einer versuchten Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen gedanklich konstruiert und nicht selbst wahrgenommen hat, indem er dieses - trotz mehrfacher, ausdrücklicher Nachfrage bezüglich seiner Fluchtgründe - in der Beschwerdeverhandlung gar nicht mehr konkret erwähnte (Verhandlungsprotokoll S 5ff).

Der Vollständigkeit halber ist überdies festzuhalten, dass im Hinblick auf das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er sich bezüglich der angeblichen Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch Milizen nicht hilfesuchend an die staatlichen Behörden des Irak gewandt habe, da die Milizen der Regierung angehörigen würden und Teil von dieser seien (AS 111, AS 231), auch die Gefahr einer staatlichen Verfolgung seiner Person bereits angesichts des Umstandes, dass er eigenen Angaben zufolge legal unter Verwendung seines irakischen Reisepasses auf dem Luftweg von Najaf nach Istanbul ausgereist sei und hierbei offenkundig die Ausreisekontrolle auf dem Flughafen Najaf unbehelligt passiert hätte, ausgeschlossen werden kann.

2.3.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers aufgrund konfessioneller „Probleme“:

Ergänzend brachte der Beschwerdeführer im Verfahren vor, im Irak „Probleme“ aufgrund der sunnitischen Konfession seines Vaters bekommen zu haben (AS 48, AS 231). Eine konkrete Bedrohungs- oder Verfolgungshandlung seiner Person gegenüber vermochte er jedoch auch in diesem Zusammenhang weder im Administrativ- noch im Beschwerdeverfahren auch nur ansatzweise darzulegen und verharrte er diesbezüglich bis zuletzt in der Beschwerdeverhandlung in vagen, allgemein gehaltenen Stehsätzen (Verhandlungsprotokoll S 5: „Es gab mehrere Vorfälle. Hauptsächlich war, dass ich nicht öffentlich über meine sexuelle Orientierung sprechen konnte, dazu kommt das Religiöse und Stammesregeln.“). Ungeachtet des Umstandes, dass der Beschwerdeführer selbst angab, kein praktizierender Moslem zu sein, jedoch die sunnitische Konfession von seiner Familie „geerbt“ zu haben (Verhandlungsprotokoll S 4), ist festzuhalten, dass seitens des Bundesverwaltungsgerichtes keineswegs verkannt wird, dass Sunniten im Irak eine religiöse Minderheit darstellen und vielfach Opfer von Diskriminierungen sind, welche teilweise auch in Gewalt münden können (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II.1.3.7.). Es ist daher durchaus nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer insoweit im Alltag gegebenenfalls unangenehmen Situationen ausgesetzt gewesen sein könnte. Den Länderfeststellungen ist jedoch nicht zu entnehmen, dass dies automatisch zu einer gefährlichen Konfrontation führen würde und existiert im Irak auch keine landesweite und systematische Verfolgung von Angehörigen der sunnitischen Glaubensgemeinschaft, welche mit einem Anteil von ca. 35 bis 40 Prozent der Gesamtbevölkerung die größte Gruppe der religiösen Minderheiten darstellen und in allen Gesellschaftsbereichen als auch in der Politik vertreten sind. Dieser Umstand schlägt sich auch in der ständigen, höchstgerichtlichen Judikatur nieder (vgl. etwa die Beschlüsse des VwGH vom 25.09.2020, Ra 2019/19/0407 sowie vom 25.04.2017, Ra 2017/18/0014, in welchen einer behaupteten Gruppenverfolgung von Sunniten in einer Revisionssache gar nicht nähergetreten wurde; oder das Erkenntnis des VwGH vom 29.06.2018, Ra 2018/18/0138, wo eine Gruppenverfolgung von Sunniten in Bagdad ausdrücklich verneint wurde).

Auch ist das Bestehen innerstaatlicher Fluchtalternativen für sunnitische Araber in den einschlägigen Länderberichten dokumentiert. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und erwerbsfähig, zudem ledig und kinderlos. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb es ihm nicht möglich und zumutbar sein sollte, sich etwa in einem mehrheitlich sunnitisch geprägten Stadtteil von Bagdad oder etwa in der Autonomen Region Kurdistan niederzulassen, in welche eine Einreise über den Flughafen Erbil auch ohne Bürgschaft möglich ist. Auch um Bagdad herum gibt es Flüchtlingslager und Aufnahmestationen (zum Bestehen innerstaatlicher Fluchtalternativen für arabische Sunniten im Irak vgl. die Ausführungen unter Punkt II.1.3.7.1.). Sofern der VwGH wiederholt auf die Indizwirkung von Empfehlungen internationaler Organisationen für den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess hingewiesen hat (vgl. zuletzt VwGH 05.03.2020, Ra 2018/19/0686, mwN), ist in diesem Zusammenhang auf die in den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, vertretene Ansicht hinzuweisen, wonach ein alleinstehender, körperlich leistungsfähiger, arabisch-sunnitischer Mann im arbeitsfähigen Alter und ohne identifizierte besondere Vulnerabilitäten, wie der Beschwerdeführer, abhängig von den jeweiligen Umständen möglicherweise sogar in der Lage sein wird, in der Stadt Bagdad – in welcher es mehrere, mehrheitlich sunnitisch-bewohnte Stadtviertel gibt - ohne Unterstützung durch seine Familie und/oder seinen Stamm zu bestehen (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II.1.3.4.; überdies VfGH 28.11.2019, E 2526/2019).

Nicht zuletzt leben jedoch nach wie vor der Vater des Beschwerdeführers, ein sunnitischer Moslem, als auch seine fünf Geschwister (wobei er hinsichtlich deren Konfession keine Angaben im Verfahren machte, jedoch ist nicht ersichtlich, weshalb diese nicht – wie der Beschwerdeführer selbst – ebenfalls die Konfession familiär „geerbt“ hätten) offenkundig unbehelligt in Najaf, sodass bei lebensnaher Betrachtung ohnedies nicht davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer gezwungen wäre, eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch zu nehmen, um einer etwaigen Gefahr einer Verfolgung aufgrund seiner Konfession zu entgehen.

2.3.3. Zum im Beschwerdeverfahren erstatteten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers bezüglich seiner behaupteten Homosexualität:

§ 20 Abs. 1 BFA-VG idgF BGBl I Nr. 146/2020 lautet:

„(1) In einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesamtes dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur vorgebracht werden,

1. wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblich geändert hat;

2. wenn das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war;

3. wenn diese dem Fremden bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes nicht zugänglich waren oder

4. wenn der Fremde nicht in der Lage war, diese vorzubringen.“

§ 20 Abs. 1 BFA-VG normiert ein Neuerungsverbot, wie es weitgehend wortgleich (und in der Sache gleich) bereits in § 32 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (in der Folge: AsylG 1997) idF der Asylgesetznovelle 2003 (in der Folge: AsylGNov 2003), BGBl I 101/2003 idF BGBl I 129/2004, und - bis zum 31.12.2013 - im AsylG 2005 (§ 40 in der Stammfassung und in der Fassung des Art. 2 Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz, BGBl I 4/2008) enthalten war. Da das nachträgliche Vorbringen des Beschwerdeführers bezüglich der Gefahr einer Verfolgung seiner Person im Irak aufgrund seiner behaupteten Homosexualität erstmalig im Rahmen der Beschwerdeergänzung vom 27.09.2017 erstattet wurde, ist die Zulässigkeit dieser Neuerung an § 20 Abs. 1 BFA-VG zu messen (vgl. VwGH 24.09.2014, Ra 2014/19/0084).

Dem Wortlaut nach bezieht sich § 20 Abs. 1 BFA-VG - ebenso wie seine Vorgängerbestimmungen - nur auf Neuerungen, die in der Rechtsmittelschrift vorgebracht werden, nicht jedoch auf solche, die sodann in das Rechtsmittelverfahren eingeführt werden. Das Bundesverwaltungsgericht geht jedoch davon aus, dass das Neuerungsverbot auch Neuerungen im Rahmen des weiteren Beschwerdeverfahrens erfassen soll, wäre dieses doch ansonsten leicht zu umgehen und daher sinnentleert; von diesem Verständnis geht offenkundig auch die Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts aus (vgl. VfSlg 17.340/2004; VwGH 17.10.2006, 2005/20/0012; 28.08.2009, 2006/19/0425).

Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in VfSlg 13.838/1994 ausgesprochen, dass es verfassungskonform ist, das Ermittlungsverfahren - wie damals vorgesehen - beim Bundesasylamt als Behörde erster Instanz zu konzentrieren. Vom AVG abweichende Bestimmungen, die sicherstellten, dass der Asylwerber am Verfahren mitwirke, sachdienliche Vorbringen - nach Belehrung durch die Behörde - zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erstatte und nicht durch ein späteres Vorbringen das Verfahren verzögern könne, stünden im Zusammenhang mit der Begünstigung der vorläufigen Berechtigung zum Aufenthalt, seien zur Sicherstellung der Mitwirkung der Antragsteller am Verfahren unerlässlich und verstießen nicht gegen Art. 11 Abs. 2 B-VG oder gegen das Rechtsstaatsprinzip. Solche Vorschriften entsprächen der Besonderheit des Asylverfahrens. Mit VfSlg 17.340/2004 hob der Verfassungsgerichtshof eine Wortfolge in § 32 Abs. 1 Z 4 AsylG 1997 idF der AsylGNov 2003 auf und sprach aus, dass der verbleibende Teil des § 32 Abs. 1 AsylG 1997 (dem nunmehr § 20 Abs. 1 BFA-VG entspricht) verfassungskonform sei; dem Anliegen des Gesetzgebers, Missbräuchen vorzubeugen, sei auch dadurch Rechnung getragen, dass Ausnahmen vom Neuerungsverbot auf die in § 32 Abs. 1 Z 1 bis 3 AsylG 1997 genannten Fälle beschränkt würden, in denen der Asylwerber aus Gründen, die nicht als mangelnde Mitwirkung am Verfahren zu werten seien, nicht in der Lage gewesen sei, Tatsachen und Beweismittel bereits in erster Instanz vorzubringen (damit wird auf den verbliebenen Teil des § 32 Abs. 1 Z 4 AsylG 1997 abgezielt). Somit bleibe vom Neuerungsverbot ein Vorbringen erfasst, mit dem ein Asylwerber das Verfahren missbräuchlich zu verlängern versuche. Beschränkungen, die bloß dazu führten, die Parteien zu einer Mitwirkung an der raschen Sachverhaltsermittlung zu verhalten, stünden im Allgemeinen der Effektivität des Rechtsschutzes nicht entgegen. Es liege schließlich in der Hand der Parteien selbst, effektiv am Verfahren mitzuwirken und ihr Vorbringen ehestens umfangreich und rechtzeitig zu erstatten, um Rechtsnachteile zu vermeiden. Voraussetzung sei jedoch die Gewähr, dass die Partei im Verfahren tatsächlich eine solche Möglichkeit effektiv wahrnehmen könne. Zu § 40 Abs. 1 AsylG 2005 sprach der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 19.790/2013 aus, dass das darin verankerte Neuerungsverbot nicht dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gemäß Art. 47 GRC widerspreche.

Von dem durch das VfSlg 17.340/2004 geprägten Verständnis des § 32 Abs. 1 AsylG 1997 ging - "im Sinne verfassungskonformer Interpretation" - auch der Verwaltungsgerichtshof aus (vgl. VwGH 27.09.2005, 2005/01/0313; 17.10.2006, 2005/20/0012; 27.02.2007, 2006/01/0919; 26.03.2007, 2007/01/0074; 17.04.2007, 2006/19/0675; 30.08.2007, 2006/19/0554; 10.12.2008, 2008/23/0280). Keinen "Missbrauch" in diesem Sinn sah der Verwaltungsgerichtshof zB darin, dass ein Asylwerber erst in der Berufung Berichte über den für das Verfahren zuständigen Staat vorlegte, da ihm die Verhältnisse in diesem nicht bekannt sein müssten (und zwar auch nicht bei der - relativ bald auf die Ersteinvernahme folgenden - Zweiteinvernahme; VwGH 27.09.2005, 2005/01/0313), ebenso unter bestimmten Voraussetzungen bei neuem Vorbringen zu einer - nach damaliger Rechtslage für die Zulassung des Verfahrens relevanten - Traumatisierung oder Folter (vgl. VwGH 17.04.2007, 2006/19/0163; 17.04.2007, 2006/19/0675; 30.08.2007, 2006/19/0554; 10.12.2008, 2008/23/0280; 21.01.2009, 2008/23/0256).

Fallgegenständlich brachte der Beschwerdeführer mit dem als "Beschwerdeergänzung" bezeichneten Schriftsatz vom 27.09.2017 erstmalig neu vor, ihm drohe aufgrund seiner Homosexualität die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung im Irak und habe er seine sexuelle Orientierung in seinem Herkunftsstaat bislang lediglich im Geheimen und unter großer Angst ausleben können. Trotz seiner Vorsicht hätten auch seine Eltern von seiner Homosexualität erfahren und eine Ehefrau für ihn gesucht und gefunden, sodass ihm im Falle seiner Rückkehr einerseits die Gefahr einer Zwangsverheiratung durch seine Familie, andererseits die Gefahr einer Verfolgung und Übergriffe durch homophobe Mitglieder der Gesellschaft drohen würden, überdies auch staatliche Repressalien, da Homosexualität im Irak gesetzlich verboten sei. Weiters führte er aus, er habe bis zu diesem Zeitpunkt nicht über seine sexuelle Orientierung sprechen können, da er sich gefürchtet habe, diese gegenüber Bekannten oder gar Fremden Personen zuzugeben, sodass er bislang im Sinne des § 20 Abs. 1 Z 4 BFA-VG nicht in der Lage gewesen sei, dieses Vorbringen zu erstatten.

Eingangs ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer im gesamten, sich über einen Zeitraum von über eineinhalb Jahren erstreckenden Administrativverfahren (von der Antragstellung am 03.10.2015 bis zur Erlassung des angefochtenen Bescheides vom 29.06.2017), sowohl im Rahmen seiner Erstbefragung, als auch im Zuge seiner zwei niederschriftlichen Einvernahmen vor dem BFA sowie überdies noch im Beschwerdeschriftsatz vom 20.07.2017 als Fluchtgrund ausschließlich geltend gemacht hatte, im Irak der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen ausgesetzt zu sein und überdies am Rande konfessionelle Probleme ins Treffen führte (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II.2.3.1. und II.2.3.2.). In beiden seiner Einvernahmen vor der belangten Behörde wurde er ausdrücklich gefragt, ob er den nun all seine Fluchtgründe vorgebracht habe bzw. ob er noch etwas zu ergänzen habe, ohne dass er im gegebenen Zusammenhang auch nur rudimentär auf die Gefahr einer Verfolgung seiner Person im Irak aufgrund seiner sexuellen Orientierung verwies (AS 48, AS 111). Zu keinem Zeitpunkt vor besagter Beschwerdeergänzung vom 27.09.2017 erwähnte er seine nunmehr vorgebrachte, angeblich bereits seit seiner Jugend im Irak bestehende homosexuelle Orientierung.

Es ist nicht Aufgabe der Asylbehörden, Fluchtgründe zu erfragen, die nicht vorgebracht werden. Denn nach § 18 Abs. 1 AsylG 2005 haben das Bundesamt und das Bundesverwaltungsgericht zwar in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, die zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen. Zur Vorgängerbestimmung, nämlich § 28 AsylG 1997, hat der Verwaltungsgerichtshof jedoch bereits festgehalten, dass sich daraus keine Verpflichtung der Behörde ableiten lässt, Asylgründe, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat, zu ermitteln (vgl. VwGH 21.09.2000, 2000/20/0226; 07.06.2001, 99/20/0434, jeweils mwN). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedeutet die Pflicht des § 18 Abs. 1 AsylG 2005 nicht, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (vgl. VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314, mwN; 03.07.2020, Ra 2019/14/0608). Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist die Grenze zwischen der Verpflichtung der Behörde, die Wahrheit amtswegig zu erforschen, und der Behauptungslast des Asylwerbers daher so zu ziehen, dass es dem Beschwerdeführer oblegen wäre, auf eine konkrete Gefährdung in seinem Herkunftsstaat als Angehöriger einer sexuellen Minderheit von sich aus hinzuweisen. Die belangte Behörde war nicht verpflichtet, auf Grund von Länderberichten zum Irak und der sich nach Auffassung des Beschwerdeführers daraus ergebenden Gefährdungslage für homosexuelle Personen auf eine Einzelfallprüfung zu verzichten und diese Gefährdung im konkreten Fall, ohne auch nur einen Hinweis darauf zu haben, dass der Beschwerdeführer der Gruppe homosexueller Menschen angehören könnte, ohne weiteres anzunehmen. Vielmehr durfte sie erwarten, dass der Beschwerdeführer auf eine konkrete Frage, welche Gründe es noch für seine Asylantragstellung gebe, entsprechend antworten würde. Es liegen somit keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Verfahren vor dem BFA insoweit mangelhaft im Sinne des § 20 Abs. 1 Z 2 BFA-VG gewesen wäre.

Dass es sich bei dem erstmalig im Beschwerdeverfahren erstatteten Vorbringen des Beschwerdeführers, aufgrund seiner Homosexualität im Irak der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, um eine Neuerung handelt, liegt auf der Hand. Entgegen dem Vorbringen in der Beschwerdeergänzung vom 27.09.2017 ist für das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht ersichtlich, dass dieses Vorbringen vom Ausnahmetatbestand des § 20 Abs. 1 Z 4 BFA-VG umfasst wäre. Weder das Vorbringen in der Beschwerdeergänzung, wonach der Beschwerdeführer bislang nicht in der Lage gewesen sei, über seine sexuelle Orientierung zu sprechen, da er sich gefürchtet habe, diese gegenüber Bekannten oder gar fremden Personen zuzugeben, noch seine Behauptung in der Beschwerdeverhandlung, wonach ihm gar nicht bewusst gewesen sei, „dass Homosexuelle Rechte in Österreich haben und akzeptiert werden“ (Verhandlungsprotokoll S 9), vermögen sein nunmehr annähernd zwei Jahre nach der verfahrensgegenständlichen Asylantragstellung bzw. über zwei Monate nach Einbringung der Beschwerde gegen den angefochtenen, abweisenden Bescheid erstmalig erstattetes, im Kern gänzlich abgeändertes Fluchtvorbringen schlüssig zu erklären.

Einerseits wäre aufgrund der Aktenlage und der in Vorlage gebrachten Beweismittel davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer – bei lebensnaher Betrachtung - bereits während des laufenden Administrativverfahrens seine Homosexualität anderen Personen gegenüber preisgegeben habe. So führt der ursprünglich beantragte Zeuge W.W. in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 26.01.2021 – wie auch in der Beschwerdeverhandlung erörtert – aus, dass er den Beschwerdeführer im Frühjahr 2016 kennengelernt und dieser ihn von September 2016 bis November 2017 mehrfach besucht und bei ihm übernachtet habe, wobei der Beschwerdeführer W.W. hierbei seine Homosexualität offenbart habe, während W.W. den Beschwerdeführer über das Leben homosexueller Männer in Mitteleuropa aufgeklärt und ihm auch die politische und rechtliche Lage geschildert habe. Ausgehend von wiederholten Treffen und Übernachtungen über einen Zeitraum von annähernd einem Jahr ist bei lebensnaher Betrachtung nicht anzunehmen, dass der Beschwerdeführer gegenüber dem bekennenden Homosexuellen W.W. erst im letzten Drittel des betreffenden Zeitraumes (und somit nach erstinstanzlicher Abweisung seines Asylantrags mit Bescheid vom 29.06.2017) seine eigene Homosexualität offenbarte, ehe der Kontakt zwischen W.W. und dem Beschwerdeführer kurze Zeit später wieder abgeflaut sei. Darüber hinaus wird auch in einem im Vorfeld der Beschwerdeverhandlung in Vorlage gebrachten Unterstützungsschreiben eines Herrn S.H. vom 22.07.2020 ausgeführt, dass dieser den Beschwerdeführer „vor ca. vier Jahren“ – und somit bereits etwa im Sommer 2016 – im Zuge von Veranstaltungen der LGBTIQ-Szene getroffen und hierbei kennengelernt habe.

Darüber hinaus erscheint auch nicht nachvollziehbar, weshalb der Beschwerdeführer – sofern er denn davon ausgegangen sei, dass Homosexuelle auch in Österreich, wohl vergleichbar mit seinem Herkunftsstaat Irak, keine Rechte genießen und Akzeptanz erfahren würden – überhaupt die Auseise nach Europa angetreten und hier einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht hätte, wenn er seiner eigenen Einschätzung zur Folge auch hier abermals dazu genötigt gewesen wäre, seine Sexualität nur im Geheimen ausleben zu können. Es wäre anzunehmen, dass ein Schutzsuchender, der sich in Sicherheit weiß (wovon aufgrund einer Asylantragstellung in Österreich wohl auszugehen ist), zumindest ansatzweise all jene Gründe darlegt, die ihn zu seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat gezwungen haben und daran hindern, wieder in diesen zurückzukehren, zumal auch bei dem zweifellos sensiblen Thema der eigenen Sexualität zu erwarten gewesen wäre, dass ein wegen seiner sexuellen Orientierung im Herkunftsstaat angefeindeter oder verfolgter Mensch diesen Grund unter anderem nennt, ohne gleich auf intime Aspekte eingehen zu müssen.

Der Beschwerdeführer befand sich zum Zeitpunkt seiner zweiten Einvernahme vor dem BFA am 15.02.2017 bereits für annähernd eineinhalb Jahre in Österreich und stand, ausgehend von den in Vorlage gebrachten Beweismitteln und Unterstützungsschreiben, bereits ab Frühjahr bzw. Sommer 2016 in Kontakt zu Angehörigen der Homosexuellen-Szene. Überdies gab er in der Beschwerdeverhandlung ausdrücklich an, seit er Personen in Österreich kennengelernt habe, welche auch homosexuell seien, zu wissen, dass ihn Niemand aufgrund seiner sexuellen Orientierung angreifen und ihn als krank bezeichnen könne (Verhandlungsprotokoll S 10). Es ist aufgrund des erhobenen Sachverhaltes somit davon auszugehen, dass er spätestens zum Zeitpunkt seiner zweiten Einvernahme vor der belangten Behörde im Februar 2017 wusste, dass das Vorbringen, aufgrund seiner Homosexualität im Irak der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, in einer freien, pluralen Gesellschaft wie der österreichischen zu keinen wie immer gearteten Problemen führt und es – wie bereits dargelegt – Sache des Beschwerdeführers gewesen wäre, vor dem Bundesamt ein entsprechendes Vorbringen zu erstatten. Sofern der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung überdies darauf hingewiesen hat, dass er ursprünglich deshalb Angst gehabt habe, über seine Homosexualität zu sprechen, da er in einem Flüchtlingslager mit über 300 Personen gelebt habe und viele davon gefährlich gewesen seien (Verhandlungsprotokoll S 8), ist festzuhalten, dass er – laut einer Abfrage im zentralen Melderegister – bereits ab 01.06.2016 (bis 11.12.2017) in einer vom Verein " XXXX " zur Verfügung gestellten Wohnung im XXXX Wiener Gemeindebezirk gelebt hat und in keinem Flüchtlingslager, sodass auch dieses Vorbringen im Hinblick auf den Umstand, dass er nicht in der Lage gewesen sei, seine Homosexualität bereits während des Administrativverfahrens geltend zu machen, argumentativ ins Leere geht.

Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des erhobenen Sachverhaltes daher davon aus, dass die erstmalig in der Beschwerdeergänzung vom 27.09.2017 vorgebrachten Neuerungen des Beschwerdeführers unter Berücksichtigung der vorzitierten Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes gegen das Neuerungsverbot des § 20 Abs. 1 BFA-VG verstoßen. Weder liegt ein im Sinne der Z 1 leg. cit. nachträglich geänderter Sachverhalt vor, noch war das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft (Z 2) oder waren dem Beschwerdeführer die neu vorgebrachten Tatsachen bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes nicht zugänglich (Z 3). Auch ist entgegen der in der Beschwerdeergänzung vertretenen Auffassung nicht ersichtlich, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, dieses Vorbringen bereits vor dem Bundesamt zu erstatten (Z 4).

Da dem Beschwerdeführer sein nunmehr neu vorgebrachter Fluchtgrund, wie er zuletzt in der Beschwerdeverhandlung noch einmal ausdrücklich bestätigte, bereits seit seiner Jugend im Irak bekannt gewesen wäre, ihm offensichtlich bewusst sein musste, welche Relevanz dieser für das gegenständliche Verfahren haben musste und er ihn erstmalig im Beschwerdeverfahren, annährend zwei Jahre nach seinem Asylantrag und nach dessen erstinstanzlicher Abweisung, vorbrachte, ist überdies davon auszugehen, dass das betreffende Vorbringen offenkundig mit dem Vorsatz, das Asylverfahren durch eine neuerliche Verbreiterung des Beweisthemas in missbräuchlicher Weise zu verlängern, erstattet wurde (zur für die Annahme eines Neuerungsverbotes erforderlichen Voraussetzung der missbräuchlichen Verlängerung des Asylverfahrens vgl. zuletzt VwGH 30.03.2020, Ra 2019/14/0318, mwN). Diese Einschätzung wird zusätzlich durch den Umstand untermauert, dass der Beschwerdeführer bereits im Beschwerdeschriftsatz zuvor erstmalig ein – ebenfalls dem Neuerungsverbot unterliegendes – Vorbringen erstattet hatte, wonach sein Vater im Regime unter Saddam Hussein bei der Luftwaffe gedient habe und nach dem Sturz von Saddam Hussein festgenommen, jedoch „später wegen fehlender Beweise bezüglich einer oppositionsfeindlichen Tätigkeit freigelassen“ worden sei (AS 215), mit dem schlichten Hinweis, dass seine Familie aufgrund dessen weiterhin „unter Beobachtung“ stehe, jedoch selbst bei hypothetischer Wahrunterstellung keine Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung aufgezeigt hat. Für das Bundesverwaltungsgericht ergibt sich dadurch unweigerlich der Eindruck, dass der Beschwerdeführer durch wiederholt neue Vorbringen das Verfahren zu verlängern und zu seinen Gunsten zu beeinflussen versuchte, mit dem Kalkül, dass ihm wohl einer seiner unterschiedlich gelagerten, ins Treffen geführten Fluchtgründe letztlich zum erhofften Schutzstatus verhelfen würde.

Aus dem Gesagten unterliegt das seitens des Beschwerdeführers erst nachträglich im Beschwerdeverfahren erstattete Vorbringen, wonach er aufgrund seiner Homosexualität im Irak der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei, dem Neuerungsverbot. Es erweist sich daher als unbeachtlich und wird der rechtlichen Beurteilung nicht zugrunde gelegt.

Dem Bundesverwaltungsgericht ist bewusst, dass dieses Ergebnis zu Härten führen kann, insbesondere wenn das Vorbringen zutreffen sollte und, würde es berücksichtigt, allenfalls zu einem anderen Verfahrensergebnis führen könnte. Ob das Vorbringen zutrifft, ist gegenständlich jedoch nicht zu beurteilen, weil gerade darin der Sinn des Neuerungsverbotes liegt. Das Bundesverwaltungsgericht hat vielmehr das Gesetz anzuwenden (Art. 18 Abs. 1 B-VG), das – bzw. dessen Vorgängerbestimmung - vom Verfassungsgerichtshof als verfassungskonform befunden worden ist.

2.3.4. Zur Rückkehrsituation des Beschwerdeführers:

Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich auch den tragenden Erwägungen der belangten Behörde hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an, wonach der Beschwerdeführer als junger, gesunder und daher arbeitsfähiger Mann durchaus in der Lage sein wird können, sich im Irak eine Lebensgrundlage zu schaffen. Bezüglich seines Verweises auf „Probleme“ aufgrund seiner „geerbten“ Konfession als Sunnit ist festzuhalten, dass auch ein genereller Ausschluss von Sunniten vom irakischen Arbeitsmarkt in Anbetracht der Quellenlage sowie den vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, den Irak betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen nicht vorliegt und ein solche Annahme ohnedies bereits durch die seitens des Beschwerdeführers im Irak gesammelte Berufserfahrung bei einem Tischler konterkariert würde.

Überdies verfügt er in Gestalt seiner Eltern, eines Onkels und insgesamt fünf Geschwistern über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak, wobei davon auszugehen ist, dass er im Falle seiner Rückkehr auch mit familiärer Unterstützung wird rechnen können, zumal er bereits bis zu seiner Ausreise bei seiner Familie gelebt hat und nach wie vor, wie er zuletzt in der Beschwerdeverhandlung ausdrücklich eingeräumt hatte, in Kontakt zu seiner Mutter steht (Verhandlungsprotokoll S 11). Selbst wenn er – wider Erwarten – im Irak keine familiäre Unterstützung erfahren sollte, ist an dieser Stelle abermals auf die in den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, vertretene Ansicht hinzuweisen, wonach ein alleinstehender, körperlich leistungsfähiger arabisch-sunnitischer Mann im arbeitsfähigen Alter und ohne identifizierte besondere Vulnerabilitäten, wie der Beschwerdeführer, möglicherweise sogar in der Lage sein wird, in der Stadt Bagdad – etwa 180 km nördlich seiner Heimatstadt Najaf - ohne Unterstützung durch seine Familie und/oder seinen Stamm bestehen zu können (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II.1.3.4.; überdies VfGH 28.11.2019, E 2526/2019).

Auch ergeben sich angesichts der aktuellen COVID-19 Pandemie keinerlei Rückführungshindernisse in Bezug auf den Beschwerdeführer. Dass er derzeit an einer COVID-19-Infektion leidet oder im Hinblick auf eine etwaige Vorerkrankung zu einer vulnerablen Personengruppe gehören würde, wurde nicht vorgebracht. Bei jungen Menschen ohne Schwächung des Immunsystems verläuft eine Infektion mit COVID-19 zudem mit nur geringen Symptomen vergleichbar einer Grippe. Bei Personen in der Altersgruppe bis 39 Jahre ist die Sterblichkeit sehr gering und liegt unter 1% (vgl. Punkt II.1.3.12.). Es fehlt bei einer solchen Infektion sohin an den geforderten außergewöhnlichen Umständen im Sinne des Art. 3 EMRK.

Eine Rückkehr in den Irak führt somit im Falle des Beschwerdeführers nicht automatisch dazu, dass er in eine unmenschliche Lage bzw. eine Notlage geraten und in seinen durch Art. 2 und Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzt würde. Auch ist er angesichts der weitgehend stabilen Sicherheitslage sowohl in seinem Heimatgouvernement Najaf als auch in Bagdad nicht von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bedroht (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II.1.3.3. und II.1.3.4.).

2.4. Zum Herkunftsstaat:

Zu den zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ausgewählten Quellen wird angeführt, dass es sich hierbei um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen, sowohl staatlichen als auch nicht-staatlichen Ursprungs handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um kritische Sachverhalte geht, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme unterstellt werden kann. Zudem werden auch Quellen verschiedener Menschenrechtsorganisationen herangezogen, welche oftmals das gegenteilige Verhalten aufweisen und so gemeinsam mit den staatlich-diplomatischen Quellen ein abgerundetes Bild ergeben. Bei Berücksichtigung dieser Überlegungen hinsichtlich des Inhaltes der Quellen, ihrer Natur und der Intention der Verfasser handelt es sich nach Ansicht des erkennenden Richters bei den Feststellungen um ausreichend ausgewogenes und aktuelles Material (vgl. VwGH 07.06.2000, Zl. 99/01/0210).

Dem Beschwerdeführer wurden im Vorfeld der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht Kopien der im Akt enthaltenen Feststellungen und Berichte zur allgemeinen Situation im Irak übermittelt und diese mit ihm zuletzt im Rahmen der Beschwerdeverhandlung am 18.02.2021 erörtert, wobei den unter Punkt II.1.3. getroffenen Feststellungen hierbei nicht substantiiert entgegengetreten wurde.

Zusammengefasst ist sohin festzuhalten, dass sich die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak zweifelsfrei aus den unter Punkt II.1.3. zitierten Quellen ergeben und weder diesen Quellen noch deren Inhalt im Beschwerdeverfahren substantiiert entgegengetreten wurde.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A):

3.1. Zur Nichtgewährung von Asyl (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

3.1.1. Rechtslage

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abs. A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.

Im Sinne des Art. 1 Abs. A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furch nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abs. A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 06.10.1999, 99/01/0279).

Selbst in einem Staat herrschende allgemein schlechte Verhältnisse oder bürgerkriegsähnliche Zustände begründen für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Um eine Verfolgung im Sinne des AsylG 2005 erfolgreich geltend zu machen, bedarf es einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Herkunftsstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall

Wie in der Beweiswürdigung unter Punkt II.2.3. ausführlich dargestellt, konnte der Beschwerdeführer im gegenständlichen Fall keine Gründe glaubhaft machen, die für eine asylrelevante Verfolgung sprächen. Seinem Fluchtvorbringen hinsichtlich der Gefahr einer Verfolgung in Bezug auf eine Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen war unter Abwägung aller in der Beweiswürdigung dargelegten Gründe die Glaubhaftigkeit zu versagen und ist er auch nicht aufgrund seines sunnitischen Glaubens im Irak der Gefahr einer systematischen, landesweiten Verfolgung ausgesetzt.

Sein erst nachträglich im Beschwerdeverfahren geltend gemachter Fluchtgrund, wonach er aufgrund seiner Homosexualität im Irak der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei, unterliegt hingegen – wie in der Beweiswürdigung unter Punkt II.2.3.3. dargelegt - dem Neuerungsverbot gemäß § 20 Abs. 1 BFA-VG, erweist sich daher als unbeachtlich und wird der rechtlichen Beurteilung nicht zugrunde gelegt.

Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG als unbegründet abzuweisen.

3.2. Zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):

3.2.1. Rechtslage

Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK (ZPERMRK) bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Im Rahmen der Prüfung des Einzelfalls ist die Frage zu beantworten, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein - über eine bloße Möglichkeit hinausgehendes - "real risk" einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht (vgl. VwGH 28.06.2011, 2008/01/0102; 06.11.2018, Ra 2018/01/0106, mwN). Im Sinne einer mit der Statusrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004) konformen Auslegung des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist subsidiärer Schutz nur zu gewähren, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, eine der drei in Art. 15 der Statusrichtlinie definierten Arten eines ernsthaften Schadens (Todesstrafe oder Hinrichtung [lit a], Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung [lit b] und ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts [lit c]) zu erleiden (vgl. VwGH 06.11.2018, Ra 2018/01/0106 mit Verweis auf die dort zitierte Rechtsprechung des EuGH).

Überdies ist im Rahmen einer Einzelfallprüfung die Frage zu beantworten, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein - über eine bloße Möglichkeit hinausgehendes - "real risk" einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Abschiebung in seinen Heimatstaat droht, weil der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also bezogen auf den Einzelfall die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend (vgl. VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174). Zu berücksichtigen ist auch, dass nur bei Vorliegen exzeptioneller Umstände, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet, die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK angenommen werden kann (vgl. VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174; 19.11.2015, Ra 2015/20/0174 ua). Das Vorliegen solcher exzeptionellen Umstände erfordert detaillierte und konkrete Darlegungen (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 07.09.2016, Ra 2015/19/0303 ua).

3.2.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall

Dem Beschwerdeführer droht im Irak keine Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung. Es droht ihm auch keine reale Gefahr, im Falle seiner Rückkehr entgegen Art. 3 EMRK behandelt zu werden. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK - was im Irak aufgrund der Sicherheitslage grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann - ist hingegen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht ausreichend. Diese Lebensumstände betreffen sämtliche Personen, die im Irak leben und können daher nicht als Grund für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten herangezogen werden. So liegt hinsichtlich des Beschwerdeführers kein stichhaltiger Grund dafür vor anzunehmen, dass er bei seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat tatsächlich Gefahr liefe, die Todesstrafe oder Hinrichtung, die Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung zu erleiden oder dass er einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes ausgesetzt wäre. Nachdem keine Gründe ersichtlich sind, die auf den Vorwurf einer Straftat, welche zur Verhängung der Todesstrafe, der Folter oder Bestrafung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat hindeuten könnten, ist ein "ernsthafter Schaden" im Sinne des Art. 15 der Statusrichtlinie auszuschließen. Ein bewaffneter Konflikt besteht im Irak ebenfalls nicht. Zwar ist die Sicherheitslage im Irak nicht mit jener in Österreich vergleichbar, jedoch erreichen die sicherheitsrelevanten Vorfälle ausgehend von den einschlägigen Länderberichten nicht ein derart hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Irak alleine durch seine Anwesenheit im Staatsgebiet tatsächlich in Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. dazu insbesondere die Ausführungen unter Punkt II.1.3.1. bis II.1.3.5.).

Ganz allgemein besteht im Irak sowie insbesondere im Südirak als auch in Bagdad derzeit keine solche Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne des Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK ausgesetzt wäre und sind im Verfahren sind auch keine Umstände bekannt geworden, welche einer anderweitige Einschätzung rechtfertigen würden. Es ergeben sich auch aus den einschlägigen Länderberichten keine Gründe, die nahelegen würden, dass bezogen auf den Beschwerdeführer ein reales Risiko einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe besteht (vgl. dazu insbesondere die Verweise auf "EASO Country Guidance: Iraq" von Jänner 2021 unter Punkt II.1.3.3. und II.1.3.4.).

Dafür, dass dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre, gibt es im vorliegenden Beschwerdefall ebenfalls keinen Anhaltspunkt. Er ist jung, gesund und arbeitsfähig und hat zudem keine Sorgepflichten. Zudem hat er im Irak bereits Berufserfahrung bei einem Tischler gesammelt. Sohin besteht für ihn auch die Möglichkeit, künftig seinen Lebensunterhalt im Irak aus eigenem bestreiten zu können. Hinzu kommt, dass er in Gestalt seiner Eltern, eines Onkels und insgesamt fünf Geschwistern, wobei er bereits bis zu seiner Ausreise bei seinen Angehörigen gelebt hat, über ein intaktes familiäres Netzwerk im Irak verfügt und daher nicht davon auszugehen ist, dass er gänzlich ohne familiären Rückhalt im Irak leben wird müssen, zumal er nach wie vor in Kontakt zu seiner Mutter steht.

Sofern der VwGH wiederholt auf die Indizwirkung von Empfehlungen internationaler Organisationen für den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess hingewiesen hat (vgl. zuletzt VwGH 05.03.2020, Ra 2018/19/0686, mwN), ist selbst bei hypothetischer Annahme, der Beschwerdeführer würde im Falle seiner Rückkehr in den Irak keine Unterstützung seitens seiner Angehörigen erfahren, auf die in den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen vertretene Ansicht hinzuweisen, wonach ein alleinstehender, körperlich leistungsfähiger arabisch-sunnitischer Mann im arbeitsfähigen Alter und ohne identifizierte besondere Vulnerabilitäten, wie der Beschwerdeführer, möglicherweise sogar in der Lage sein wird, in der Stadt Bagdad – etwa 180 km nördlich seiner Heimatstadt Najaf - ohne Unterstützung durch seine Familie und/oder seinen Stamm bestehen zu können (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II.1.3.4.; überdies VfGH 28.11.2019, E 2526/2019).

Der Umstand, dass der Lebensunterhalt des Beschwerdeführers im Irak möglicherweise bescheidener ausfallen mag, als er in Österreich sein könnte, rechtfertigt nicht die Annahme, ihm wäre im Falle seiner Rückkehr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten (zur "Schwelle" des Art. 3 EMRK vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059).

Auch ergeben sich angesichts der aktuellen COVID-19 Pandemie keinerlei Rückführungshindernisse im Hinblick auf den Beschwerdeführer (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II.2.3.4.).

Damit erweist sich die Beschwerde, soweit sie sich gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides richtet, als unbegründet und war dementsprechend abzuweisen.

3.3. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides – erster Spruchteil):

3.3.1. Rechtslage

Gemäß § 58 Abs. 1 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 ("Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz") von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z 2) oder wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt (Z 5). Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 (Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK) von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird. Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen (§ 58 Abs. 3 AsylG). Auch wenn der Gesetzgeber das Bundesamt im Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung zur Prüfung und spruchmäßigen Erledigung der Voraussetzungen der §§ 55 und 57 AsylG 2005 von Amts wegen, dh auch ohne dahingehenden Antrag des Beschwerdeführers, verpflichtet, ist die Frage der Erteilung eines solchen Titels auch ohne vorhergehenden Antrag im Beschwerdeverfahren gegen den negativen Bescheid durchsetzbar und daher Gegenstand der Sachentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/20/0121).

3.3.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die belangte Behörde unter Zitierung des § 57 AsylG 2005 zwar ausgesprochen hat, dass ein „Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde, dass sich aus der Begründung des angefochtenen Bescheides jedoch unzweifelhaft ergibt, dass die belangte Behörde tatsächlich rechtsrichtig über eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" gemäß § 57 AsylG 2005 abgesprochen und eine solche nicht erteilt hat.

Indizien dafür, dass der Beschwerdeführer einen Sachverhalt verwirklicht, bei dem ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 ("Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz") zu erteilen wäre, sind weder vorgebracht worden, noch hervorgekommen: Weder war der Aufenthalt des Beschwerdeführers seit mindestens einem Jahr im Sinne des § 46 Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch ist dieser zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig, noch ist der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt im Sinne des § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005. Ein Aufenthaltstitel besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG 2005 war daher nicht zu erteilen.

Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie hinsichtlich Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides – im Umfang des ersten Spruchteiles - gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen war.

3.4. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides – zweiter Spruchteil):

3.4.1. Rechtslage

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz (dem AsylG) mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.

Gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.

Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere die in § 9 Abs. 2 Z 1 bis 9 BFA-VG aufgezählten Gesichtspunkte zu berücksichtigen (die Art. und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist).

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

3.4.2. Anwendung der Rechtslage auf den Beschwerdefall

Zu prüfen ist, ob die von der belangten Behörde verfügte Rückkehrentscheidung mit Art. 8 EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 überhaupt in Betracht käme. Die Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK ist aus folgenden Gründen gegeben:

Im gegenständlichen Fall verfügt der Beschwerdeführer über kein im Sinne des Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben in Österreich sowie auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten.

Zu prüfen wäre somit ein etwaiger Eingriff in sein Privatleben. Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva u.a. gg Lettland, EuGRZ 2006, 554).

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessensabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff).

Fallgegenständlich hält sich der Beschwerdeführer seit etwa fünf Jahren und fünf Monaten in Österreich auf. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann ein über zehnjähriger, überwiegend rechtmäßiger inländischer Aufenthalt den persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib im Bundesgebiet - unter Bedachtnahme auf die jeweils im Einzelfall zu beurteilenden Umstände - ein großes Gewicht verleihen (vgl. VwGH 12.12.2012, Zl. 2012/18/0177, mwN). Ausgehend davon, dass der Verwaltungsgerichtshof bei einem dreieinhalbjährigen Aufenthalt im Allgemeinen von einer eher kürzeren Aufenthaltsdauer ausgeht, und im Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/10/0479, davon ausgeht, „dass der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren [...] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte“, ist die Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers wohl zwar nicht als sehr kurz, aber auch nicht als besonders lange zu bewerten. Von der in diesem Zusammenhang vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Judikatur, die bei einem über zehnjährigen Aufenthalt (sofern diese Dauer nicht durch gewisse Umstände relativiert wird) regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen am Verbleib in Österreich ausgeht, ist die Länge des Aufenthaltes des Beschwerdeführers eine erhebliche Zeitspanne entfernt. Die Dauer seines Aufenthaltes wird zusätzlich dadurch relativiert, dass er illegal in das Bundesgebiet eingereist ist und sich lediglich auf Grundlage des verfahrensgegenständlichen, unbegründeten Asylantrags in Österreich aufhielt.

Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht alleine maßgeblich, sondern ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf sonstige Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 12.11.2019, Ra 2019/20/0422). Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. zuletzt VwGH 03.12.2019, Ra 2019/18/0471, mwN), wobei selbst die Kombination aus Fleiß, Arbeitswille, Unbescholtenheit, dem Bestehen sozialer Kontakte in Österreich, dem verhältnismäßig guten Erlernen der deutschen Sprache sowie dem Ausüben einer Erwerbstätigkeit bei einem Aufenthalt von knapp vier Jahren im Zusammenhang mit der relativ kurzen Aufenthaltsdauer keine außergewöhnliche Integration darstellt (vgl. VwGH 18.09.2019, Ra 2019/18/0212).

Auch wenn es gewisse Integrationsbemühungen des Beschwerdeführers – insbesondere im Hinblick auf seine gemeinnützige Tätigkeit in einer Apotheke oder seine geschlossenen Bekanntschaften in Österreich - anzuerkennen gilt, so liegt letztlich dennoch keine umfassende Verankerung in sprachlicher, beruflicher oder kultureller Hinsicht vor. Insbesondere kann er lediglich Deutschkenntnisse auf Sprachniveau A2 vorweisen, ist nicht selbsterhaltungsfähig und bestreitet seinen Lebensunterhalt seit seiner Einreise über die staatliche Grundversorgung. Zudem beruhte der Aufenthalt des Beschwerdeführers dessen ungeachtet auf einer vorläufigen, nicht endgültig gesicherten rechtlichen Grundlage, weshalb er während der gesamten Dauer seines Aufenthaltes nicht darauf vertrauen durfte, dass er sich in Österreich auf rechtlich gesicherte Weise bleibend verfestigen kann. So hat der Verwaltungsgerichtshof erst in drei jüngst ergangenen Entscheidungen, bei annähernd gleicher Aufenthaltsdauer wie im Fall des Beschwerdeführers, jedoch bei teilweise noch erheblich gewichtigeren Integrationsschritten (Deutschkenntnisse auf Niveau B1, Ausbildung in Sozial- und Pflegeberuf, Lehre zum Bäcker), ausführlich dargelegt, dass es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste und erlassene Rückkehrentscheidungen bestätigt (vgl. VwGH 06.05.2020, Ra 2020/20/0093; 27.02.2020, Ra 2019/01/0471; 28.02.2019, Ro 2019/01/0003). Der darin angeführte Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass ein Fremder mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen, trifft auch auf den vorliegenden Beschwerdefall zu. Daher wird das Gewicht seiner privaten Interessen letztlich dadurch gemindert, dass sie allesamt in einem Zeitraum entstanden, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl. VwGH 19.02.2009, 2008/18/0721; 30.04.2009, 2009/21/0086; VfSlg. 18.382/2008 mHa EGMR 24.11.1998, 40.447/98, Mitchell; EGMR 11.04.2006, 61.292/00, Useinov).

Auch die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers stellt nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keine Stärkung seiner persönlichen Interessen dar (vgl. VwGH 26.04.2005, 2005/21/0063, mwN), da der Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält, als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält.

Es sind - unter der Schwelle des Art. 2 und 3 EMRK – aber auch die Verhältnisse im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zu berücksichtigen, so sind etwa Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder auch Behandlungsmöglichkeiten bei medizinischen Problemen bzw. eine etwaige wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung psychischer Probleme in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen (vgl. dazu VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119). Eine diesbezüglich besonders zu berücksichtigende Situation liegt im Fall des jungen und gesunden Beschwerdeführers jedoch ebenfalls nicht vor.

Den persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Aufenthalt in Österreich steht das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens gegenüber; diesem gewichtigen öffentlichen Interesse kommt nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (vgl. VwGH 12.03.2002, 98/18/0260; 18.01.2005, 2004/18/0365; 03.05.2005, 2005/18/0076; 17.01.2006, 2006/18/0001; 09.09.2014, 2013/22/0246).

Angesichts der nicht besonders langen Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers und des Umstandes, dass er in Österreich kein im Sinne des Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben führt, erweisen sich seine positiven Ansätze einer Integration nicht als derart gewichtig, dass sie seinen persönlichen Interessen an einem weiteren Verbleib in Österreich zum Durchbruch verhelfen könnten und überwiegt im Rahmen einer Gesamtschau letztlich das öffentliche Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung.

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich daher, dass die im angefochtenen Bescheid angeordnete Rückkehrentscheidung keinen ungerechtfertigten Eingriff in das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers darstellt.

Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich des zweiten Spruchteils von Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.

3.5. Zur Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides – dritter Spruchteil):

3.5.1. Rechtslage

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder deren 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Gemäß § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

3.5.2. Anwendung der Rechtslage auf den vorliegenden Fall

Im vorliegenden Fall liegen keine Gründe vor, wonach die Abschiebung in den Herkunftsstaat gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig wäre.

Ein inhaltliches Auseinanderfallen der Entscheidungen nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (zur Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz) und nach § 52 Abs. 9 FPG (zur Frage der Zulässigkeit der Abschiebung) ist ausgeschlossen. Damit ist es unmöglich, die Frage der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Rahmen der von Amts wegen zu treffenden Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG neu aufzurollen und entgegen der getroffenen Entscheidung über die Versagung von Asyl und subsidiärem Schutz anders zu beurteilen (vgl. zuletzt VwGH 25.09.2019, Ra 2019/19/0399, mwN).

Die Abschiebung ist auch nicht unzulässig im Sinne des § 50 Abs. 2 FPG, da dem Beschwerdeführer keine Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Weiters steht keine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Abschiebung entgegen.

Die im angefochtenen Bescheid getroffene Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak erfolgte daher zu Recht und erweist sich die Beschwerde daher insoweit als unbegründet, dass sie auch hinsichtlich des dritten Spruchteils von Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen war.

3.6. Zur Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt gemäß § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

Im gegenständlichen Fall hat der Beschwerdeführer nichts vorgebracht, was auf solche "besonderen Umstände" im Sinne des § 55 Abs. 2 FPG schließen ließe. Weder aus dem Verwaltungsakt noch in der mündlichen Verhandlung sind Umstände hervorgekommen, die als "besondere Umstände" im Sinne des § 55 Abs. 2 FPG zu werten wären. Daher traf die belangte Behörde zu Recht den Ausspruch, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Entscheidung beträgt.

Die Beschwerde erweist sich daher auch insoweit als unbegründet, als sie sich gegen den Ausspruch über die Frist zur freiwilligen Ausreise, Spruchpunkt IV., wendet und war daher gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 55 FPG abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf der im Erkenntnis zitierten, nicht als uneinheitlich zu beurteilenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Sie betrifft die Beurteilung eines Einzelfalls, welche für sich gesehen nicht reversibel ist.

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