VwGH 2012/18/0072

VwGH2012/18/007225.4.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Eder, Mag. Feiel und Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des K, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/2, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 23. März 2012, Zl. UVS-FRG/21/10372/2011-1, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §67d Abs1;
AVG §67d;
B-VG Art130 Abs2;
FrPolG 2005 §63 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §63 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §64 Abs4 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §64 Abs5 idF 2011/I/038;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
AVG §67d Abs1;
AVG §67d;
B-VG Art130 Abs2;
FrPolG 2005 §63 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §63 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §64 Abs4 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §64 Abs5 idF 2011/I/038;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen serbischen Staatsangehörigen, gestützt auf § 63 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

Begründend führte die belangte Behörde nach Wiedergabe des Verfahrensganges - auf das hier Wesentliche zusammengefasst - aus, der im Jahr 1979 in Wien geborene Beschwerdeführer sei bis 11. November 1986 durchgehend in Österreich aufhältig gewesen. Anschließend sei er immer nur für relativ kurze Zeit, nämlich etwa zwei Monate pro Jahr in Österreich gemeldet gewesen. Erst ab 20. Mai 2003 sei er wieder bis 17. Dezember 2008 und anschließend ab 24. März 2009 durchgehend im Bundesgebiet gemeldet. Seit 3. Juni 2005 sei er im Besitz eines unbefristet gültigen Aufenthaltstitels.

Der Beschwerdeführer habe kein Einkommen und übe keine Beschäftigung aus. Er lebe mit seinen Eltern im gemeinsamen Haushalt. Die Mutter sei österreichische Staatsbürgerin, der Vater verfüge über einen unbefristet gültigen Aufenthaltstitel. Weiters stellte die belangte Behörde die bisherigen beruflichen Tätigkeiten des Beschwerdeführers dar.

Im Anschluss listete die belangte Behörde die gegen den Beschwerdeführer in den Jahren 2008 und 2009 ergangenen Verurteilungen (wegen Delikten nach dem SMG) auf und gab das den Verurteilungen zu Grunde liegende strafbare Verhalten wieder. Weiters sei der Beschwerdeführer am 15. Februar 2011 rechtskräftig wegen versuchten Diebstahls eines Parfums im Wert von EUR 9,99 rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt worden.

In ihrer rechtlichen Beurteilung ging die belangte Behörde davon aus, dass sich der Beschwerdeführer auf Grund des ihm erteilten Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte.

Für aufenthaltsbeendende Maßnahmen hinsichtlich Drittstaatsangehörige, die über einen Aufenthaltstitel verfügten, seien im FPG die Bestimmungen des § 62 und § 63 maßgeblich. Auf Grund des Verweises in § 63 Abs. 2 FPG sei außerdem auf die Tatbestände des § 53 Abs. 2 Z 1, 2, 4, 5, 7 bis 9 und Abs. 3 FPG "als Orientierungsmaßstab" Bedacht zu nehmen.

Die gegen den Beschwerdeführer ergangene Verurteilung vom 19. Mai 2009 stelle eine bestimmte Tatsache im Sinn des § 63 Abs. 1 und Abs. 2 iVm § 53 Abs. 3 Z 1 FPG dar. Durch das Vorliegen dieser bestimmten Tatsache sei auch nach § 53 Abs. 3 FPG davon auszugehen, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit hervorrufe. Unter Hinweis darauf, dass es sich bei der Suchtgiftkriminalität um eine besonders gefährliche Form der Kriminalität handle, bei der die Wiederholungsgefahr erfahrungsgemäß besonders groß sei, ging die belangte Behörde schließlich davon aus, dass auch Art. 8 EMRK der Aufenthaltsbeendigung nicht entgegenstehe. Auch liege das Fehlverhalten des Beschwerdeführers noch nicht so lange zurück, um einen Wegfall oder eine erhebliche Minderung der von ihm ausgehenden Gefahr annehmen zu können. Die vom Beschwerdeführer absolvierte Drogentherapie ändere daran nichts, weil selbst die erfolgreich absolvierte Therapie keine Gewähr dafür biete, dass der Beschwerdeführer nicht neuerlich in die Suchtgiftabhängigkeit geraten und sich die damit verbundene Gefahr der Beschaffungskriminalität verwirklichen könnte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Beurteilung des gegenständlichen Falles im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des gegenständlichen Bescheides im April 2012 nach den Bestimmungen des FPG in der Fassung des BGBl. I Nr. 112/2011 richtet.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die von der belangten Behörde vorgenommene Gefährdungsprognose sowie gegen die Beurteilung nach Art. 8 EMRK und macht dazu in erster Linie geltend, die belangte Behörde habe sich nicht mit den die Aufenthaltsverfestigung regelnden Bestimmungen, insbesondere § 64 Abs. 4 FPG, auseinander gesetzt. Diese Bestimmung wäre anzuwenden gewesen, weil dem Beschwerdeführer bereits am 3. Juni 2005 ein unbefristeter Aufenthaltstitel erteilt worden sei, der nach den Bestimmungen der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung (NAG-DV) als Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" weitergelte. Auch sei der belangten Behörde vorzuwerfen, dass sie von einem "veralteten" Sachverhalt ausgegangen sei und weder eine Berufungsverhandlung durchgeführt noch den Beschwerdeführer aufgefordert habe, seine aktuellen persönlichen Verhältnisse darzulegen.

Dieses Vorbringen ist berechtigt.

Im gegenständlichen Fall war der Beschwerdeführer im Berufungsverfahren anwaltlich vertreten; ein Verhandlungsantrag wurde nicht gestellt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat allerdings in seinem - ebenfalls einen bereits im Verwaltungsverfahren rechtsfreundlich vertretenen Beschwerdeführer betreffenden - Erkenntnis vom 16. Mai 2012, Zl. 2011/21/0277, unter Hinweis auf § 67d Abs. 1 AVG, demzufolge der unabhängige Verwaltungssenat von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen hat, wenn er dies für erforderlich hält, festgehalten, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des unabhängigen Verwaltungssenates steht (vgl. in diesem Sinn dem erwähnten Erkenntnis vom 16. Mai 2012 folgend etwa auch das hg. Erkenntnis vom 14. Juni 2012, Zl. 2011/21/0278).

Bei der nach § 63 Abs. 1 FPG gebotenen Prognosebeurteilung kommt es (ebenso wie bei jener nach § 64 Abs. 4 FPG) im Fall strafgerichtlicher Verurteilungen (oder verwaltungsbehördlicher Bestrafungen) nicht auf die Verurteilungen (oder Bestrafungen) als solche an. Es ist vielmehr eine - aktuelle - Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Fremden vorzunehmen und die Frage zu beantworten, ob sich daraus (weiterhin) eine maßgebliche Gefährdung ableiten lässt (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 20. März 2012, Zl. 2011/21/0298, mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung ferner festgehalten, dass sich die Frage einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung sowie die Beurteilung nach Art. 8 EMRK nicht auf reine Rechtsfragen reduzieren lassen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 20. März 2012, Zl. 2011/21/0298, und vom 7. November 2012, Zl. 2012/18/0057).

Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage ist fallbezogen darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer in der Berufung vorgebracht hat, seine Drogentherapie erfolgreich absolviert zu haben, mittlerweile "clean" zu sein sowie "keinerlei Kontakt mehr zu dieser Szene" zu haben, und sich darüber hinaus auch auf mehrjähriges (in Freiheit gezeigtes) Wohlverhalten berufen hat (zur Beachtlichkeit einer erfolgreich absolvierten Drogentherapie und bei anschließendem Wohlverhalten vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 21. Februar 2013, Zl. 2011/23/0195, und vom 31. Mai 2011, Zl. 2011/22/0072, mwN, sowie in Verbindung mit anderen relevanten Umständen das hg. Erkenntnis vom 3. November 2010, Zl. 2008/18/0543). Mit diesem Vorbringen hat sich die belangte Behörde aber nicht näher befasst, sondern nur pauschal auf die besondere Gefährlichkeit von Suchtgiftdelikten hingewiesen, ohne sich mit den konkreten Umständen des vorliegenden Falles näher zu beschäftigen. Die belangte Behörde hätte sich aber schließlich - nach eingehender Befassung mit diesem Vorbringen - auch näher damit auseinanderzusetzen gehabt, ob und aus welchen Gründen allenfalls die von ihr erwähnte der am 15. Februar 2011 ergangenen Verurteilung zugrundeliegende Tat im Hinblick auf das - aber erst im gebotenen Umfang festzustellende - Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers einer für ihn günstigen Prognose entgegensteht. Um zu den für die nach dem Gesetz gebotene umfassende Beurteilung notwendigen Feststellungen zu gelangen, hätte die belangte Behörde aber nach den Gesagten im Sinn des § 67d Abs. 1 AVG die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung als erforderlich ansehen müssen.

Durch das Unterbleiben der hier nach § 67d Abs. 1 AVG gebotenen Durchführung einer Berufungsverhandlung hat die belangte Behörde ihren Bescheid mit einem wesentlichen Verfahrensmangel belastet.

Den Ausführungen im angefochtenen Bescheid zufolge wurde im Übrigen dem Beschwerdeführer im Juni 2005 ein unbefristet gültiger Aufenthaltstitel (nach der Aktenlage ein "Niederlassungsnachweis" nach dem Fremdengesetz 1997) erteilt (die an anderer Stelle des angefochtenen Bescheides erwähnte Befristung "2. Juni 2015" kann sich im Hinblick auf die Feststellungen und den Akteninhalt nur auf die Gültigkeit der dem Beschwerdeführer ausgestellten Aufenthaltstitelkarte beziehen). Der dem Beschwerdeführer erteilte Aufenthaltstitel "Niederlassungsnachweis" galt ab dem Inkrafttreten des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) und der NAG-DV (1. Jänner 2006) gemäß § 81 Abs. 2 NAG iVm § 11 Abs. 1 lit. C NAG-DV als Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" weiter. Der Beschwerdeführer verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen ihn an sich nur unter den Voraussetzungen des § 64 Abs. 4 FPG zulässig gewesen wäre. Die Prüfung, ob die in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind, hat die belangte Behörde, weil sie offenkundig (eine nähere Begründung zu diesem Thema enthält der angefochtene Bescheid nicht) davon ausging, diese Vorschrift sei im gegenständlichen Fall nicht anzuwenden, aber nicht vorgenommen und nähere Feststellungen dazu nicht getroffen.

Die Anwendung der genannten Vorschrift auf den hier vorliegenden Fall, in dem ein Aufenthaltsverbot erlassen wurde, ist aber nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil § 64 Abs. 4 FPG lediglich von einer Ausweisung spricht. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung dargelegt, dass die Prüfung des Bestehens einer in § 64 Abs. 4 FPG ausgedrückten Gefährdung auch im Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes geboten ist (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 19. April 2012, Zl. 2011/21/0291, und vom 14. Juni 2012, Zl. 2011/21/0278).

Der angefochtene Bescheid war sohin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 25. April 2013

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