Normen
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs2;
12010P/TXT Grundrechte Charta Art51 Abs1;
32008L0115 Rückführungs-RL;
AVG §67d Abs1;
AVG §67d;
FrPolG 2005 §52 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §53 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §61 Abs2 Z8 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §63 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §9 Abs7 idF 2011/I/038;
MRK Art6;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs2;
12010P/TXT Grundrechte Charta Art51 Abs1;
32008L0115 Rückführungs-RL;
AVG §67d Abs1;
AVG §67d;
FrPolG 2005 §52 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §53 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §61 Abs2 Z8 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §63 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §9 Abs7 idF 2011/I/038;
MRK Art6;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 52 Abs. 1 Fremdenpolzeigesetz 2005 (FPG) eine Rückkehrentscheidung sowie gestützt auf § 53 Abs. 1 und Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von 18 Monaten befristetes Einreiseverbot. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 FPG mit 14 Tagen festgesetzt.
In ihrer Begründung führte die belangte Behörde aus, anhand der Aktenlage sei ersichtlich, dass der Beschwerdeführer am 15. März 2002 mit seinem Bruder und seiner Mutter von der Türkei kommend rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist sei. Am 25. März 2002 habe er einen Asylantrag gestellt. Dieser sei in erster Instanz mit Bescheid vom 30. September 2002 abgewiesen worden. Unter einem sei festgestellt worden, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei zulässig sei. Das dagegen erhobene Rechtsmittel sei vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 5. August 2011 als unbegründet abgewiesen worden.
Der Beschwerdeführer, dem bislang kein Aufenthaltstitel erteilt worden sei, halte sich seit der rechtskräftigen Beendigung seines Asylverfahrens - sohin seit 17. August 2011 - unrechtmäßig in Österreich auf.
§ 61 FPG stehe der gegenständlichen Entscheidung nicht entgegen. Der Beschwerdeführer befinde sich mittlerweile seit über neun Jahren in Österreich. Das Bestehen von Sorgepflichten im Bundesgebiet habe er nicht geltend gemacht. Er wohne "seit Jahren" im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter, die den Status einer subsidiär Schutzberechtigten innehabe. Weiters lebe im gemeinsamen Haushalt seine Schwester, die österreichische Staatsbürgerin sei. Auch wohnten in Österreich der Bruder des Beschwerdeführers, der über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung (gemeint: nach asylrechtlichen Bestimmungen) verfüge, sowie "mehrere Onkeln und Tanten".
Trotz des langjährigen inländischen Aufenthalts sei im vorliegenden Fall nicht von einem "mit der Ausweisung" verbundenen gravierenden Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers auszugehen. Bereits nach einem halben Jahr Aufenthalt habe er nämlich die "negative erstinstanzliche Entscheidung über seinen Asylantrag" erhalten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt habe er es "als nicht unwahrscheinlich ansehen" müssen, kein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet erlangen zu können. Er habe seine familiären Kontakte "während dieses Zeitraums einer nichtbestehenden Daueraufenthaltsperspektive im Bundesgebiet gepflegt". Nach der Rechtsprechung des EGMR komme solchen Kontakten "überhaupt keine Relevanz i.S.d. Art. 8 EMRK zu". Nur in besonders gelagerten Konstellationen komme solchen Kontakten eine derartige Relevanz zu, dass mit einer "Ausweisung" auch ein gravierender Eingriff in das Privat- und Familienleben verbunden sei. Da "grundsätzlich jedem zugemutet" werden könne, getrennt von seiner Schwester, seinem Bruder und seiner Mutter zu wohnen, sei eine "besonders gewichtige Konstellation" nicht zu erkennen.
Auch die Umstände, dass der eigenen Familie bislang die Homosexualität des Beschwerdeführers verborgen geblieben sei und er einer psychiatrischen und neurologischen Behandlung bedürfe, ließen eine Ausweisung nicht als unzulässig erscheinen. Es gebe auch in der Türkei Behandlungsmöglichkeiten neurologischer und psychiatrischer Art. Dass der Beschwerdeführer homosexuell sei, führe für sich genommen ebenfalls nicht zur Unzulässigkeit der "Ausweisung".
Auch wenn anerkannt werde, dass der Beschwerdeführer sich bemühe die deutsche Sprache zu erlernen und er gemeinsam mit seiner Schwester und seiner Mutter in einer Wohnung lebe, sei in seiner Gesamtheit betrachtet das Ausmaß seiner Integration nur als gering zu erachten. Er sei auch während seines nahezu zehnjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet keiner "längeren legalen (etwa selbständigen) beruflichen Erwerbstätigkeit nachgegangen".
Da der Beschwerdeführer den Großteil seines bisherigen Lebens in der Türkei verbracht habe und dort als Facharbeiter beschäftigt gewesen sei, könne trotz der nahezu zehnjährigen Abwesenheit vom Heimatland davon ausgegangen werden, dass er in der Türkei selbsterhaltungsfähig sei. Es sei weiters davon auszugehen, dass "es ihm verhältnismäßig leicht fallen" werde, sich in der Türkei wieder "persönlich und sozial zu integrieren". Es sei auch anzunehmen, dass es ihm als "anscheinend arbeitswilligen und arbeitsfähigen 33-jährigen Mann" zuzumuten sei, sich in seiner Heimat neuerlich "eine Existenz" aufzubauen.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:
Der Beschwerdeführer bringt vor, die belangte Behörde habe es unterlassen, den Sachverhalt umfassend zu ermitteln. Insbesondere wäre die Durchführung einer mündlichen Verhandlung jedenfalls erforderlich gewesen. Sodann wird in der Beschwerde näher dargestellt, was der Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung an entscheidungserheblichen Sachverhaltselementen hätte darlegen können.
Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.
§ 67d AVG lautet:
"§ 67d. (1) Der unabhängige Verwaltungssenat hat auf Antrag oder, wenn er dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn
1. der verfahrenseinleitende Antrag der Partei oder die Berufung zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Berufung angefochtene Bescheid aufzuheben ist;
- 2. der Devolutionsantrag zurückzuweisen oder abzuweisen ist;
- 3. die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Verwaltungsakt für rechtswidrig zu erklären ist.
(3) Der Berufungswerber hat die Durchführung einer Verhandlung in der Berufung zu beantragen. Etwaigen Berufungsgegnern ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
(4) Der unabhängige Verwaltungssenat kann ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn er einen verfahrensrechtlichen Bescheid zu erlassen hat, die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Sache nicht erwarten lässt, und dem nicht Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, entgegensteht."
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass hier der zur Abstandnahme von einer mündlichen Verhandlung berechtigende § 9 Abs. 7 FPG im Hinblick auf den - wenn auch unrechtmäßigen - Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet nicht zur Anwendung gelangt (vgl. zur Anwendbarkeit des § 9 Abs. 7 FPG nur auf im Ausland befindliche Fremde das hg. Erkenntnis vom 20. März 2012, Zl. 2011/21/0298).
Die belangte Behörde hat im angefochtenen Bescheid ihre Erwägungen, weshalb sie von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen hat, nicht offengelegt. Eine Gegenschrift zur Beschwerde hat sie nicht erstattet.
Es ist nicht ersichtlich, dass im vorliegenden Fall einer der Gründe des § 67d AVG vorgelegen wäre, der die belangte Behörde ermächtigt hätte, von der Durchführung einer Verhandlung abzusehen. Der Beschwerdeführer (wenn er auch keinen ausdrücklichen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung gestellt hat) hat in seiner Berufung ein sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet und ist den diesbezüglichen Annahmen der erstinstanzlichen Behörde entgegengetreten. Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem bereits festgehalten, dass solche Gesichtspunkte, wie sie auch im gegenständlichen Verfahren zu prüfen waren, insbesondere die Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich, nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden können (vgl. nochmals das bereits erwähnte Erkenntnis Zl. 2011/21/0298). Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichtshof auch betont, dass im fremdenpolizeilichen Berufungsverfahren, soweit - was (auch) hier zutrifft - im Sinn des Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta (GRC) in Durchführung von Unionsrecht gehandelt wird, jedenfalls nach Maßgabe des § 67d AVG (und allenfalls auch des § 9 Abs. 7 FPG) grundsätzlich ein Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung nicht zuletzt im Hinblick auf die Bestimmung des Art. 47 Abs. 2 GRC besteht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 14. Juni 2012, Zl. 2011/21/0278).
Des Weiteren kann auch im Anwendungsbereich des Art. 47 Abs. 2 GRC (ebenso wie im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK) bei einer unvertretenen Partei - den vorgelegten Verwaltungsakten zufolge trifft dies im gegenständlichen Fall für das Verwaltungsverfahren zu - nur dann vom Vorliegen eines schlüssigen Verzichts auf die Durchführung einer Verhandlung ausgegangen werden, wenn diese über die ihr nach § 67d AVG eingeräumte Möglichkeit einer Antragstellung auf Durchführung einer solchen Verhandlung belehrt wurde oder wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie von dieser Möglichkeit hätte wissen müssen (vgl. auch dazu das bereits erwähnte Erkenntnis Zl. 2011/21/0278). Im vorliegenden Fall des im Verwaltungsverfahren noch unvertretenen Beschwerdeführers ist weder das eine noch das andere ersichtlich.
Die belangte Behörde ist aber auch darauf hinzuweisen, dass § 61 Abs. 2 Z 8 FPG schon vor dem Hintergrund der nach § 61 FPG gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz hat, dass der während unsicheren Aufenthaltsstatus erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes privates bzw. familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung führen könnte (vgl. aus der diesbezüglichen ständigen hg. Rechtsprechung etwa das zur früheren Rechtslage des § 66 Abs. 2 Z 8 FPG ergangene, aber insoweit auch für die hier maßgebliche inhaltsgleiche Rechtslage relevante hg. Erkenntnis vom 17. September 2012, Zl. 2011/23/0458, mwN).
Abschließend ist für das fortzusetzende Verfahren festzuhalten, dass die belangte Behörde im Weiteren auch zu berücksichtigen haben wird, dass der Beschwerdeführer sich mittlerweile mehr als zehn Jahre im Bundesgebiet aufhält und dem bei der Interessenabwägung unter Bedachtnahme auf die für die Integration sprechenden Umstände eine gebührende Bedeutung beizumessen sein wird (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 19. Juni 2012, Zl. 2012/18/0027, mwN).
Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und Z 5 VwGG abgesehen werden.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am 7. November 2012
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