VwGH 2011/23/0458

VwGH2011/23/045817.9.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde der S in W, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 16. Oktober 2009, Zl. E1/16.470/2007, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2 Z8;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
FrPolG 2005 §86 Abs2 impl;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2 Z8;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
FrPolG 2005 §86 Abs2 impl;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, reiste zuletzt am 8. Februar 2001 legal mit einem bis 25. März 2001 gültigen Visum C in das Bundesgebiet ein. Sie war zu diesem Zeitpunkt seit 18. Februar 1993 mit dem österreichischen Staatsbürger H. verheiratet. Nachdem diese Ehe mit Beschluss des Bezirksgerichtes Favoriten vom 24. März 2003 geschieden worden war, heiratete die Beschwerdeführerin am 10. November 2006 abermals H.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 16. Oktober 2009 wies die belangte Behörde die Beschwerdeführerin gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet aus.

Begründend führte sie zusammengefasst aus, dass die Beschwerdeführerin erstmals zu einem unbekannten Datum (vor ihrer Eheschließung im Jahr 1993) von Deutschland kommend nach Österreich eingereist sei. Im Jahr 1994 sei sie wegen der Erkrankung ihres Sohnes in die Türkei zurückgekehrt. Nach ihrer Wiedereinreise im Jahr 2001 sei sie seit 27. Februar 2001 fast durchgehend mit Hauptwohnsitz in Wien gemeldet.

Ihr Antrag vom 7. März bzw. vom 17. August 2001 auf Erteilung einer von ihrem Ehegatten abgeleiteten Erstniederlassungsbewilligung sei im Instanzenzug mit Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 15. Juni 2005 rechtskräftig abgewiesen worden. Die dagegen erhobene Beschwerde sei vom Verwaltungsgerichtshof - nachdem ihr zunächst aufschiebende Wirkung zuerkannt worden sei - mit Erkenntnis vom 30. Jänner 2007, Zl. 2005/18/0531, als unbegründet abgewiesen worden. Ihr "Zusatzantrag" auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen vom 24. Juni 2004 sei bereits zuvor im Instanzenzug mit Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 4. Februar 2005 rechtskräftig abgewiesen worden. Auch in diesem Fall sei die Beschwerde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 3. Mai 2005, Zl. 2005/18/0114, abgewiesen worden.

Die Beschwerdeführerin habe - mit einer Unterbrechung - von Jänner 2004 bis Jänner 2007 sowie im März und Juni 2007 in Hotelbzw. Gastgewerbebetrieben gearbeitet. Seit 22. Juni 2007 weise der Versicherungsdatenauszug keine Beschäftigungszeiten mehr aus. Von 8. März 1993 bis 7. März 1998 sei der Beschwerdeführerin ein Befreiungsschein erteilt gewesen; mit 3. Oktober 2002 sei ihr eine Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 Ausländerbeschäftigungsgesetz ausgestellt worden, wonach sie als Ehegattin eines Österreichers den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht unterliege. Nach der Ehescheidung sei ihr eine Arbeitserlaubnis vom 22. Juni 2004 bis zum 21. Juni 2006 erteilt worden. Ihr Antrag vom 1. Juni 2006 auf Ausstellung eines Befreiungsscheins sei mit Bescheid des AMS Wien vom 6. Juni 2006 mangels Aufenthaltstitels rechtskräftig abgewiesen worden.

Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass sich die Beschwerdeführerin zuletzt seit Ablauf ihres Sichtvermerks mit 26. März 2001 unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, sodass die Voraussetzungen für eine Ausweisung nach § 53 Abs.1 FPG - vorbehaltlich der Bestimmungen des § 66 FPG - gegeben seien.

Die Beschwerdeführerin sei seit 10. November 2006 wieder mit demselben österreichischen Staatsbürger, von dem sie 2003 geschieden worden sei, verheiratet. Es bestehe zwischen dem Ehepaar jedoch kein gemeinsamer Wohnsitz mehr, habe sich ihr Ehemann doch am 6. Oktober 2009 vom Hauptwohnsitz der Beschwerdeführerin - an dem er nur einen Nebenwohnsitz gemeldet gehabt habe - abgemeldet. Im Ausweisungsverfahren habe die Beschwerdeführerin lediglich familiäre Beziehungen zu ihrem Ehemann geltend gemacht. Aus dem Verwaltungsgerichtshoferkenntnis vom 3. Mai 2005 ergebe sich jedoch, dass ihre Schwester bzw. ihr Bruder in Wien aufhältig seien, während ihre volljährigen Kinder in der Türkei lebten.

Die belangte Behörde führte weiter aus, dass unter Bedachtnahme auf den mehrjährigen unrechtmäßigen inländischen Aufenthalt und der "zugunsten der (Beschwerdeführerin) getroffenen Annahme", dass trotz getrennter Wohnadressen (noch) ein gemeinsames Familienleben existiere, von einem mit der Ausweisung verbundenen Eingriff in ihr Privat- und Familienleben auszugehen sei. Dieser Eingriff erweise sich jedoch zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, nämlich zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens und des Arbeitsmarkts, als dringend geboten. Gerade der besonders lange unrechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet im Anschluss an mehrere rechtskräftig negativ beschiedene Aufenthaltstitelverfahren verstoße gravierend gegen die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, deren Befolgung aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein besonders hoher Stellenwert zukomme. Wenngleich der Beschwerdeführerin ein gewisses Bestreben, ihren Aufenthalt zu legalisieren, nicht abgesprochen werden könne, zeige sie doch augenscheinlich, dass sie geradezu beharrlich die für sie maßgebenden fremdenrechtlichen Bestimmungen, insbesondere zur notwendigen Auslandsantragstellung, ignoriere. Die Beschwerdeführerin sei derzeit nicht in den Arbeitsmarkt integriert; ihre bisherige Erwerbstätigkeit sei aus fremdenrechtlicher - und auch aus arbeitsmarktrechtlicher - Sicht nicht legal gewesen.

Die Beschwerdeführerin habe nicht behauptet, ihre sozialen Kontakte zu ihren im Heimatland verbliebenen Kindern abgebrochen zu haben. Im Hinblick auf ihren illegalen Aufenthalt zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung im Jahr 2006 habe sie nicht darauf vertrauen dürfen, sich mit ihrem Ehemann im Bundesgebiet niederlassen zu können. Es sei der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann daher zumutbar, dass sie das Bundesgebiet verlasse, um vom Ausland aus einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu stellen, weshalb die Interessenabwägung zu ihren Ungunsten ausfalle.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage bei seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die zu diesem Zeitpunkt (Oktober 2009) geltende Fassung.

Unter der Überschrift "Ausweisung Fremder ohne Aufenthaltstitel" ordnet § 53 Abs. 1 FPG an, dass Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden können, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Unstrittig wurde der Beschwerdeführerin nach Ablauf der Gültigkeit ihres Sichtvermerks im Jahr 2001 ein weiterer Aufenthaltstitel nicht mehr erteilt.

Die belangte Behörde ist somit zutreffend davon ausgegangen, dass der Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 1 FPG erfüllt sei.

Die Beschwerde wendet jedoch ein, dass die Ausweisung nicht auf § 53 Abs. 1 FPG sondern auf die §§ 87, 86 Abs. 2 FPG zu stützen gewesen wäre, weil die Beschwerdeführerin mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet sei.

Diesem Vorbringen ist zu entgegnen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtsgrundlage für die Ausweisung unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Familienangehöriger von Österreichern, die ihr unionsrechtlich zustehendes Recht auf Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen haben, nicht § 86 Abs. 2 FPG, sondern § 53 Abs. 1 FPG ist. Die Ausweisung der Beschwerdeführerin setzt daher nach der - zur hier maßgeblichen Rechtslage ergangenen - Rechtsprechung nicht das Vorliegen der in der Beschwerde angesprochenen qualifizierten Gefährdung voraus (vgl. etwa jüngst das Erkenntnis vom 31. Mai 2012, Zl. 2011/23/0411, mwN). Die Beschwerdeausführungen geben keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzugehen.

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Bei der Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt (vgl. etwa das Erkenntnis vom 31. Mai 2012, Zl. 2011/23/0326, mwN). Die Beschwerdeführerin bringt in diesem Zusammenhang u.a. vor, dass sich die belangte Behörde nicht ausreichend mit ihrer Lebenssituation und der ihres Ehemannes auseinandergesetzt habe. Sie halte sich seit mehr als acht Jahren im Inland auf und sei seit mehr als drei Jahren mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet, mit dem sie schon vor dem Jahr 2003 jahrelang verheiratet gewesen sei. Auch wenn sich ihr Ehemann kurzfristig von der ehelichen Wohnung abgemeldet habe, nächtige er rund fünf Tage pro Woche in dieser. Sie lebe mit ihm seit Jahren ununterbrochen im gemeinsamen Haushalt und es werde auch ihr Unterhalt durch ihren Ehemann gesichert.

Auch wenn der belangten Behörde zuzugestehen ist, dass nach der Z 8 des § 66 Abs. 2 FPG bei der Interessenabwägung auch darauf Bedacht zu nehmen ist, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, greifen die in diesem Zusammenhang im angefochtenen Bescheid angestellten Erwägungen im vorliegenden Fall zu kurz:

Zunächst hat § 66 Abs. 2 Z 8 FPG nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthaltsstatus erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes privates bzw. familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte (vgl. etwa das Erkenntnis vom 26. August 2010, Zl. 2010/21/0009, mwN). Im konkreten Fall durfte vor allem nicht gänzlich unbeachtet bleiben, dass die Ehepartner bereits vor der abermaligen Eheschließung im Jahr 2006 langjährig miteinander verheiratet waren.

Abgesehen davon hätte die belangte Behörde nicht ohne weiteres und ohne dies der Beschwerdeführerin vorzuhalten, nur im Hinblick auf die - erst knapp mehr als eine Woche vor Erlassung des angefochtenen Bescheids - erfolgte Abmeldung des Ehemanns der Beschwerdeführerin von der gemeinsamen Ehewohnung davon ausgehen dürfen, dass ein gemeinsamer Haushalt nicht mehr bestehe. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat sich die Fremdenpolizeibehörde gerade in Konstellationen wie der vorliegenden, also bei aufrechter Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger, eingehend mit den konkreten Auswirkungen einer Ausweisung auf die Situation des Fremden und seiner Familienangehörigen zu befassen und dazu nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners zu treffen (siehe etwa das Erkenntnis vom 21. Februar 2012, Zl. 2011/23/0287, mwN).

Diese nach § 66 FPG gebotene Interessenabwägung hat die belangte Behörde jedoch nur unzureichend vorgenommen. Schon deshalb (vgl. zur Beachtung der Stillhalteklauseln nach dem ARB 1/80 in einer Konstellation wie der vorliegenden das Erkenntnis vom 28. März 2012, Zl. 2009/22/0344, mwN) war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 17. September 2012

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