European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0030OB00049.24P.0703.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Beklagte erstattete als vom Pflegschaftsgericht bestellte Sachverständige ein Gutachten zu Obsorge- und Kontaktrechtsfragen betreffend den minderjährigen Sohn der nunmehrigen Klägerin.
[2] Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung für künftige Schäden, die ihr infolge des (ihrer Auffassung nach) unrichtigen Gutachtens entstanden seien.
[3] Das Erstgericht wies die Klage ohne Durchführung eines Beweisverfahrens ab.
[4] Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung.
[5] Auf die Fragen, ob das Gutachten der Beklagten lege artis erstellt worden sei und ob die Klägerin dadurch die geltend gemachten Schäden erlitten habe, komme es nicht an, weil der Haftungsprozesses vor Beendigung des Hauptverfahrens und daher verfrüht angestrengt worden sei.
[6] In ihrer dagegen erhobenen außerordentlichen Revision beantragt die Klägerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie die Zurückverweisung an das Erstgericht.
[7] Die Beklagte beantragt in ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revision ist zulässig und berechtigt.
[9] 1.1 Nach ständiger Rechtsprechung haftet ein vom Gericht bestellter Sachverständiger, der in einem Zivilprozess schuldhaft ein unrichtiges Gutachten abgibt, den Parteien für den dadurch verursachten Schaden (vgl RS0026360 [T1, T5]). Er kann aufgrund eigener deliktischer Haftung direkt belangt werden (RS0026353 [T3]; RS0026337 [T4, T5]). Der Schadenersatzanspruch setzt unter anderem voraus, dass die Unrichtigkeit des Gutachtens ausschlaggebend für die die Prozesspartei beschwerende Entscheidung war; entscheidend ist daher (im Sinn einer Kausalitätsprüfung), welchen Einfluss ein sachlich richtiges Gutachten des Sachverständigen auf die Entscheidung gehabt hätte (vgl RS0026360 [T6]).
[10] 1.2 Eine solche schadenersatzrechtliche Haftung des gerichtlich bestellten Sachverständigen kann – wie die Vorinstanzen zutreffend ausführten – vor der rechtskräftigen Beendigung des jeweiligen Verfahrens nicht geltend gemacht werden (8 Ob 76/22t mwN). Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass eine solche Klageführung im Ergebnis darauf abzielt, die Beweisergebnisse des Anlassverfahrens im Haftungsprozess zu überprüfen und das Anlassverfahren dadurch zu „überholen“ (RS0026373 [T4, T5]). Angesichts der Möglichkeit, derartige Klagen als Druckmittel zu missbrauchen, geht es dabei nicht nur um den Schutz der Person des Sachverständigen, sondern auch der Funktionsfähigkeit der Justiz insgesamt (8 Ob 76/22t; 1 Ob 181/18a; vgl auch RS0031981 zu Unterlasssungs- und Widerrufsansprüchen gegen den Sachverständigen). Bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens besteht grundsätzlich die Möglichkeit, das Sachverständigengutachten mit den Mitteln des Prozessrechts zu entkräften.
[11] 2. Die Bestimmung des § 24 Abs 2 JN schließt nach ständiger Rechtsprechung jedes weitere Rechtsmittel gegen eine Entscheidung der zweiten Instanz über die Zurückweisung eines Ablehnungsantrags aus (vgl RS0122963 [T2]). Die Erhebung eines jedenfalls unzulässigen Rechtsmittels kann nach ständiger Rechtsprechung den Eintritt der Rechtskraft und damit auch der Rechtskraftwirkung nicht hindern (RS0041838; vgl auch RS0049521; RS0041841).
[12] 3.1 Im Verfahren des Pflegschaftsgerichts über Fragen der Obsorge und des Kontaktrechts, in dem die Beklagte als Sachverständige tätig war und von der Klägerin abgelehnt wurde, blieb die Sachentscheidung (des Rekursgerichts) vom 31. Juli 2023 letztlich unbekämpft (der Oberste Gerichtshof wies den nur gegen die Ablehnungsentscheidung erhobenen absolut unzulässigen Revisionsrekurs zu 3 Ob 176/23p zurück). Im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Streitverhandlung erster Instanz am 27. September 2023 war daher – entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen – die Schadenersatzklage nicht verfrüht, war doch zu diesem Zeitpunkt die Obsorgeentscheidung bereits in Rechtskraft erwachsen.
[13] 3.2 Im fortzusetzenden Verfahren wird daher zu der von der Klägerin behaupteten Unrichtigkeit des Gutachtens der Beklagten ein Beweisverfahren durchzuführen, die Ursächlichkeit eines allenfalls unrichtigen Gutachtens für die Sachentscheidung zu prüfen und auf dieser Grundlage eine inhaltliche Entscheidung über das Klagebegehren zu treffen sein.
[14] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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