OGH 4Ob143/22s

OGH4Ob143/22s25.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi als Vorsitzenden sowie den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch die Heinisch Weber Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei * AG, *, vertreten durch die Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 19.168,36 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 7. Juli 2021, GZ 2 R 81/21a‑13, womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom 26. April 2021, GZ 36 Cg 8/21k-8, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00143.22S.0625.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Konsumentenschutz und Produkthaftung

 

Spruch:

I. Das mit Beschluss vom 16. Dezember 2021 zu 4 Ob 168/21s bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über den vom Obersten Gerichtshof am 17. März 2020 zu 10 Ob 44/19x gestellten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochene Verfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Zu I.

[1] Der Senat hat das vorliegende Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über den vom Obersten Gerichtshof zu 10 Ob 44/19x gestellten Antrag nach Art 267 AEUV unterbrochen und angeordnet, dass das Verfahren nach Einlangen der Vorabentscheidung von Amts wegen fortgesetzt wird.

[2] Nunmehr liegt die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14. 7. 2022, C‑145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen, vor.

[3] Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen.

Zu II.

[4] Der Kläger erwarb am 30. 5. 2018 durch einen Privatkauf einen gebrauchten, von der Beklagten hergestellten Pkw VW Tiguan Sky TDI BMT 4Motion mit einem Dieselmotor des Typs EA189 samt Abgasmanipulationssoftware; Erstzulassung 31. 10. 2013, Kilometerstand 4.200 km, Kaufpreis 21.000 EUR. Bereits vor dem Kauf durch den Kläger war beim Fahrzeug ein Software‑Update durchgeführt worden. Ab September 2015 wurde in den Medien über den „Dieselskandal“ berichtet. Somit war auch dem Kläger der „VW-Abgasskandal“ vor dem Ankauf bekannt.

[5] Der Kläger begehrt, gestützt vor allem auf Schutzgesetzverletzung, arglistige Täuschung (§ 874 ABGB) und absichtliche sittenwidrige Schädigung (§ 1295 Abs 2 ABGB), die Zahlung von 19.168,36 EUR (Kaufpreis minus Benützungsentgelt) sA Zug um Zug gegen die Rückstellung des Pkw, in eventu Zahlung von 6.300 EUR (Wertminderung von 30 %) und Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche weitere Schäden des Klägers. Hätte er im Zeitpunkt des Ankaufs gewusst, dass das Fahrzeug nicht einmal den Mindeststandard – nämlich die Euro-Abgasnorm 5 – erfülle, hätte er es, falls überhaupt, nicht um den bezahlten Preis erworben. Trotz des Software-Updates bestünde am Fahrzeug weiterhin eine unzulässige Abschalteinrichtung mit einer temperaturgestützten Überlistungsfunktion („Thermofenster“).

[6] Die Beklagte wandte ein, angesichts der großflächigen und lang andauernden Medienberichterstattung müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger das Fahrzeug in Kenntnis der (vermeintlichen) Tatsache erworben habe, dass die in Rede stehende Software ursprünglich installiert gewesen sei. Jedenfalls könne wegen der von der Beklagten erfolgten Aufklärung der Öffentlichkeit nach Bekanntwerden der EA189-Thematik kein Vorsatz und kein sittenwidriges Verhalten angenommen werden. Beim „Thermofenster“ handle es sich im Übrigen um eine zulässige Abschalteinrichtung im Sinn des Ausnahmetatbestands nach Art 5 Abs 2 lit a VO (EG) 715/2007 .

[7] Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Wegen der vorgenommenen Aufklärung der Öffentlichkeit liege keine sittenwidrige Verursachung des Kaufs durch die Beklagte vor. Auch könne sich der Kläger nicht auf eine Schutzgesetzverletzung berufen, weil vermögensrechtliche Dispositionen nicht im Schutzbereich der VO (EG) 715/2007 lägen.

[8] Der Kläger beantragt mit seiner – von der Beklagten beantworteten – Revision, der Klage stattzugeben; in eventu stellte er einen Aufhebungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[10] 1.1. Der Oberste Gerichtshof hat, gestützt auf die Rechtsprechung des EuGH, in vergleichbaren Konstellationen bereits mehrfach ausgesprochen, dass es sich bei der VO (EG) 715/2007 um ein Schutzgesetz handelt (RS0112234 [T35]; RS0134616 [T3]) und der beklagte Fahrzeughersteller dem Käufer bei einer unzulässigen Abschalteinrichtung iSd Art 3 Z 10 und Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG auch für reine Vermögensschäden haftet (zB 10 Ob 2/23a [vom 25. 4. 2023], Rz 28 ff; 8 Ob 109/23x, Rz 46; 9 Ob 2/23v, Rz 19; uva).

[11] 1.2. Das Berufungsgericht ist daher zu Unrecht davon ausgegangen, dass sich der Kläger im Zusammenhang mit den von ihm behaupteten (reinen) Vermögensschäden nicht auf eine Schutzgesetzverletzung berufen könne.

[12] 2.1. Die Tatsacheninstanzen haben festgestellt, dass dem Kläger aufgrund der medialen Berichterstattung der „VW-Abgasskandal“ zum Zeitpunkt des Ankaufs bekannt war. Der bloße Umstand, dass der Kläger, weil er gelegentlich fernsieht, von der Thematik (allgemein) Kenntnis erlangt hat, bedeutet aber nicht, dass er konkret gewusst hat, ein mit einer Abgasmanipulationssoftware versehenes Fahrzeug zu kaufen. Nur wenn der Kläger im Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses gewusst hätte, dass er ein Fahrzeug mit (trotz Software‑Update) abgasmanipuliertem Motor kauft, läge keine Irreführung durch die Beklagte vor (5 Ob 141/23f, Rz 16; 6 Ob 114/23t, Rz 13; vgl auch 6 Ob 197/23y, Rz 20). Dies wird aber auch von der Beklagten nicht konkret behauptet.

[13] 2.2. Somit sind die Feststellungen zum Medienkonsum des Klägers nicht geeignet, eine Irreführung durch die Beklagte zu verneinen.

[14] 3.1. Die Rechtssache ist aber noch nicht spruchreif, weil sich anhand der bloß rudimentären Feststellungen der Vorinstanzen (ausgehend von ihrer korrekturbedürftigen Rechtsansicht) noch nicht beurteilen lässt, ob im konkreten Fall eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegt. Seit der Entscheidung des EuGH zu C‑145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen und der im Anschluss daran ergangenen Entscheidung zu 10 Ob 2/23a (vom 21. 2. 2023) entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass ein Thermofenster, das eine volle Abgasrückführung nur bei Außentemperaturen zwischen 15 und 33 Grad Celsius gewährleistet, jedenfalls eine iSd Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG unzulässige Abschalteinrichtung darstellt, weil die Abgasrückführung aufgrund der in Österreich herrschenden klimatischen Verhältnisse nur in vier oder fünf Monaten im Jahr voll aktiv ist (10 Ob 36/23a, Rz 16). Dass das gegenständlich eingebaute Thermofenster diese Eigenschaften haben soll, wurde zwar vom Kläger behauptet, es fehlen dazu aber jegliche Feststellungen.

[15] Sofern im fortgesetzten Verfahren auch die Höhe des Anspruchs zu beurteilen ist, sind noch Feststellungen über die Parameter zwecks Ermittlung des Benützungsentgelts (vgl RS0134263) zu treffen.

[16] 3.2. Der Revision des Klägers ist daher Folge zu geben, die Entscheidungen der Vorinstanzen sind aufzuheben und dem Erstgericht ist aufzutragen, Feststellungen im oben genannten Sinn nachzutragen.

[17] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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