OGH 10ObS119/23g

OGH10ObS119/23g16.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber und die fachkundigen Laienrichter Mag. Antonia Oberwalder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Dr. Ingo Riß, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. September 2023, GZ 7 Rs 50/23 h‑44, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 7. März 2023, GZ 25 Cgs 133/22i‑39, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00119.23G.0416.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Mit Bescheid vom 26. 3. 2020 gewährte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der 1960 geborenen Klägerin ab 1. 9. 2019 Pflegegeld der Stufe 3 infolge Annahme einer hochgradigen Sehbehinderung.

[2] Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 14. 7. 2022 entzog die Beklagte der Klägerin das Pflegegeld mit Ablauf des Monats August 2022.

[3] Mit dagegen erhobener Klage begehrte die Klägerin die Weitergewährung des Pflegegelds über den 31. 8. 2022 hinaus.

[4] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren.

[5] Das Erstgericht wies die Klage ab.

[6] Es traf folgende Feststellungen zum Gesundheitszustand und Pflegebedarf der Klägerin aus augenfachärztlicher Sicht:

„Zum Gewährungsstichtag 1. 9. 2019 wurde eine hochgradige Sehbehinderung im Anstaltsverfahren durch das anstaltsärztliche Augenfachgutachten von [...] mit Untersuchung am 4. 3. 2020 diagnostiziert und ist dies medizinisch nachvollziehbar. Schon im Gewährungsgutachten war eine neuroophthalmologische Untersuchung empfohlen worden, damals aber (wahrscheinlich coronabedingt) nicht gemacht worden, sondern es wurde umgehend Stufe 3 mit Bescheid vom 29. 3. 2020 [richtig: 26. 3. 2020] gewährt.

Zum Entziehungsstichtag 1. 9. 2022 gibt es nunmehr keinen Pflege- und Handlungsbedarf mehr. Die Klägerin ist am linken Auge blind (es besteht ein Sehnervenschwund). Rechts besteht keine Blindheit, das rechte Auge ist morphologisch unauffällig, eine Optikusatrophie ist nicht nachweisbar, das Sehvermögen des rechten Auges ist mit 60 % anzunehmen. Die neuroophthalmologische Untersuchung nunmehr ergab, dass die subjektiv behauptete Blindheit rechts mit den objektivierbaren Befunden nicht in Einklang zu bringen ist. Da das rechte Auge nunmehr morphologisch unauffällig ist und objektiv ein gutes Sehvermögen vorliegt, kann eine Besserung festgestellt werden.“

[7] Rechtlich führte es aus, die Beklagte habe Pflegegeld der Stufe 3 aufgrund eines zwar nicht widerspruchsfreien, aber doch nachvollziehbaren augenfachärztlichen Gutachtens gewährt. Das zum Gewährungszeitpunkt vorliegende allgemeinmedizinische Gutachten sei als Grundlage einer funktionsbezogenen Einstufung nicht geeignet, weil es auch den Visus der Klägerin berücksichtigt habe und durch das (spätere) augenfachärztliche Anstaltsgutachten infolge der diagnosebezogenen Mindesteinstufung „overruled“ worden sei. Im vorliegenden Fall stehe die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung des Pflegegelds nicht entgegen, weil aus augenfachärztlicher Sicht eine Besserung stattgefunden habe. Der funktionsbezogene Pflegebedarf betrage nur 61 Stunden monatlich.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es ließ die Revision mangels Vorliegens einer Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu.

[9] Rechtlich ging es davon aus, dass ausreichende Feststellungen zum Gesundheitszustand der Klägerin im Gewährungszeitpunkt getroffen worden seien, weil feststehe, dass das eine hochgradige Sehbehinderung der Klägerin attestierende Gewährungsgutachten medizinisch nachvollziehbar sei und im Vergleich dazu eine Besserung ihres Zustands aus augenfachärztlicher Sicht eingetreten sei. Daraus folge, dass die Klägerin sogar für den Fall, dass ihr das Pflegegeld ursprünglich zu Unrecht zuerkannt worden sei, die Entziehung hinnehmen müsse.

[10] Die Klägerin beantragte in ihrer außerordentlichenRevision die Abänderung und Klagestattgebung; hilfsweise stellte sie einen Aufhebungsantrag.

[11] Die Beklagte beantragte in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision der Klägerin ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[13] 1.1. Für die Entziehung oder Neubemessung des Pflegegelds sind jene Grundsätze heranzuziehen, die auch bei der Entziehung sonstiger Leistungsansprüche nach § 99 ASVG oder bei der Neufeststellung einer Versehrtenrente nach § 183 ASVG angewendet werden (10 ObS 43/22d [Rz 11]; RS0061709 [T4]).

[14] 1.2. Nach diesen Grundsätzen steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung der Leistung entgegen, wenn die objektiven Grundlagen für die Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren haben (RS0106704; vgl RS0110119). Die nachträgliche Erkenntnis, dass die Voraussetzungen für einen Leistungszuspruch zur Zeit der Zuerkennung nicht vorhanden waren, rechtfertigt daher die Entziehung der Leistung nicht (RS0083941; vgl RS0084142).

[15] 1.3. Die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung steht im Fall der irrtümlichen Annahme des Vorliegens der Leistungsvoraussetzungen bei der Gewährung der Leistung einer späteren Entziehung allerdings dann nicht mehr entgegen, wenn sich die objektiven Grundlagen der Leistungsgewährung geändert haben, etwa indem eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt vorliegt und sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen bezieht, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens der Leistungsvoraussetzungen begründet haben (RS0133202; 10 ObS 40/20k DRdA 2021/23, 242 [Naderhirn]; 10 ObS 76/21f [Rehabilitationsgeld]). Diese Grundsätze sind auch auf die Entziehung eines aufgrund einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung gewährten Pflegegeldes anzuwenden (10 ObS 43/22d [Rz 13]).

[16] 2.1. Für den anzustellenden Vergleich sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzugs (oder der Neubemessung) in Beziehung zu setzen (RS0083884 [T2]). Dazu müssen im Verfahren über die Entziehung oder Neubemessung der Leistung unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren getroffenen Feststellungen alle Umstände (neuerlich) festgestellt werden, die für die Beurteilung der Frage notwendig sind, ob die Zuerkennung der Leistung (damals) dem Gesetz entsprach (RS0083884 [T3] = 10 ObS 389/90 SSV‑NF 5/5). Es bedarf daher zunächst der Feststellung des Gesundheitszustands der Klägerin im Zeitpunkt der Gewährungsentscheidung (10 ObS 27/12b [Rz 8]; RS0083884 [T6]).

[17] 2.2. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts fehlen im vorliegenden Fall Feststellungen, aufgrund derer beurteilt werden kann, ob im Zeitpunkt der Gewährung von Pflegegeld der Stufe 3 die tatsächlichen Voraussetzungen für die Annahme einer hochgradigen Sehbehinderung der Klägerin iSd § 4a Abs 4 BPGG vorlagen oder ob dies – wie die Klägerin vorbringt – nicht der Fall war.

[18] Nach § 4a Abs 4 BPGG gilt als hochgradig sehbehindert, wer am besseren Auge mit optimaler Korrektur eine Sehleistung mit

- einem Visus von kleiner oder gleich 0,05 (3/60) ohne Gesichtsfeldeinschränkung hat oder

- einem Visus von kleiner oder gleich 0,1 (6/60) in Verbindung mit einer Quadrantenanopsie hat oder

- einem Visus von kleiner oder gleich 0,3 (6/20) in Verbindung mit einer Hemianopsie hat oder

- einem Visus von kleiner oder gleich 1,0 (6/6) in Verbindung mit einer röhrenförmigen Gesichtsfeldeinschränkung hat.

[19] Erforderlich sind daher im vorliegenden Fall Feststellungen zum Visus und dem Gesichtsfeld bzw den Gesichtsfeldeinschränkungen der Klägerin im Gewährungszeitpunkt. Feststellungen dazu liegen allerdings nicht vor.

[20] 2.3. In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass in der Qualifikation als hochgradige Sehbehinderung (iSd § 4a Abs 4 BPGG) eine rechtliche Beurteilung liegt, die als solche nicht feststellungsfähig ist. Für die Beurteilung der Berechtigung der Entziehung des Pflegegeldes ist auch nicht entscheidend, ob der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren herangezogene Sachverständige davon ausging, dass die Voraussetzungen einer hochgradigen Sehbehinderung vorlagen, und ob diese Einschätzung auf ausreichenden Untersuchungen beruhte. Es bedarf vielmehr der Feststellung, ob die in § 4a Abs 4 BPGG normierten tatsächlichen Voraussetzungen der Einschränkung des Visus und des Gesichtsfelds im Gewährungszeitpunkt vorlagen oder nicht.

[21] Erst auf Grundlage von Feststellungen dazu kann beurteilt werden, ob im Zeitpunkt der Leistungsentziehung gegenüber dem Gewährungszeitpunkt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse stattgefunden hat, aufgrund derer die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung nicht mehr entgegen steht (vgl RS0106704).

[22] 2.4. Das Fehlen der erforderlichen Feststellungen macht die Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Sozialrechtssache an das Erstgericht erforderlich.

[23] 3. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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