OGH 10ObS40/20k

OGH10ObS40/20k24.6.2020

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Johannes Schuster und Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Entziehung des Rehabilitationsgelds, über 1.) die Revision und den Rekurs der klagenden Partei und 2.) den Rekurs der beklagten Partei gegen das Teilurteil und den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 17. Dezember 2019, GZ 9 Rs 122/19 f‑22, mit dem infolge der Berufungen der klagenden und der beklagten Partei das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 15. Juli 2019, GZ 17 Cgs 19/19m‑17, teilweise (als Teilurteil) bestätigt und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt und beschlossen:

 

I. Der Revision und dem Rekurs der klagenden Partei wird nicht Folge gegeben.

II. Dem Rekurs der beklagten Partei wird Folge gegeben.

Der Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts wird aufgehoben und in der Sache zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00040.20K.0624.000

 

Spruch:

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil wie folgt zu lauten hat:

„1. Das Klagebegehren, es werde festgestellt, dass bei der klagenden Partei über den 31. 3. 2019 hinaus vorübergehende Invalidität von zumindest sechs Monaten vorliege und Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe, wird abgewiesen.

2. Das Eventualbegehren, es werde festgestellt, dass bei der klagenden Partei dauerhafte Invalidität vorliege und die beklagte Partei schuldig sei, der klagenden Partei eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 4. 2019 zu zahlen, wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

Die 1969 geborene Klägerin erwarb insgesamt 294 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach dem ASVG. Sie war von 2005 bis Anfang 2015 als Kindergartenassistentin berufstätig.

Mit – rechtskräftigem – Bescheid vom 14. 11. 2016 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 19. 7. 2016 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab, weil dauerhafte Invalidität nicht vorliege. Bei der Klägerin wurde jedoch ab 1. 8. 2016 vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten angenommen, weshalb als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin das Ergebnis weiterer Therapiemaßnahmen abzuwarten sei. Berufliche Maßnahmen der Rehabilitation waren nicht zweckmäßig. Ab dem 1. 8. 2016 bestand für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, das die Klägerin auch ab 1. 8. 2016 bezog. Für diese Einschätzung war nach den Feststellungen und dem unstrittigen Inhalt des im Verfahren verwendeten Gewährungsgutachtens vom 12. 10. 2016 (Blg ./5) ein Zustand nach Bandscheibenoperation L4/L5 im September 2014, MRT‑gesicherte Protrusionen der gesamten Lendenwirbelsäule mit Nervenwurzeltangierung L3, L4 und L5 beidseits und S1 links, sowie ua eine Kniegelenksabnützung links maßgeblich.

Damals wäre die Klägerin jedoch trotz ihrer – im Einzelnen vom Erstgericht festgestellten – leidensbedingten Einschränkungen in der Lage gewesen, ganztägig leichte körperliche Arbeiten zu verrichten. Mit dieser Leistungsfähigkeit hätte die Klägerin noch als Tagportierin arbeiten können. Österreichweit waren dafür ausreichend Arbeitsplätze vorhanden. Eine Tätigkeit als Kindergartenassistentin war der Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 13. 2. 2019 sprach die Beklagte aus, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 31. 3. 2019 entzogen werde.

Die Klägerin ist über den Ablauf des 31. 3. 2019 hinaus zwar in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt; sie ist jedoch weiterhin in der Lage, ganztägig leichte körperliche Arbeiten zu verrichten. Die vom Erstgericht auch für den Entziehungszeitpunkt im Einzelnen festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin entsprechen jenen im Gewährungszeitpunkt, dies aber mit zwei Ausnahmen:

Verbessert hat sich im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt ihre Steh‑ und Gangleistung. Im Gewährungszeitpunkt waren der Klägerin ganztägig leichte körperliche Arbeiten bei maximal drittelzeitigem Gehen und/oder Stehen (maximal 20 Minuten ununterbrochen) möglich. Im Entziehungszeitpunkt war es der Klägerin möglich, bis maximal zweidrittelzeitig im Stehen und/oder Gehen zu arbeiten (maximal 40 Minuten ununterbrochen). Insbesondere hat sich, wie sich aus den dislozierten Feststellungen des Erstgerichts in seiner Beweiswürdigung ergibt, zwar nicht die Beweglichkeit des linken Kniegelenks der Klägerin gebessert, allerdings dessen Belastbarkeit. Denn im Herbst 2016 bestanden Abnützungen des Kniegelenks und mittlerweile wurde ein künstliches Kniegelenk implantiert.

Verschlechtert hat sich im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt die Feinstmotorik bei der Klägerin. Während diesbezüglich im Gewährungszeitpunkt keine Einschränkungen bestanden, sind der Klägerin im Entziehungszeitpunkt feinstmotorische Arbeiten nur mehr bis zu drittelzeitig und maximal fünf Minuten am Stück zumutbar.

Der Klägerin ist nach wie vor eine Arbeitstätigkeit als Tagportierin zumutbar, ein ausreichender Arbeitsmarkt ist vorhanden. Die Tätigkeit als Tagportierin erfordert keine feinstmotorische Manipulationen. Eine Tätigkeit als Kindergartenassistentin wäre der Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nach wie vor nicht möglich.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Feststellung, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten über den 31. 3. 2019 hinaus vorliege und über diesen Zeitpunkt hinaus ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe. Hilfsweise begehrt die Klägerin die Feststellung, dass bei ihr dauerhafte Invalidität vorliege und die Beklagte schuldig sei, ihr ab 1. 4. 2019 eine Invaliditätspension zu gewähren. Der Zustand der Klägerin habe sich nicht verbessert, sie sei nicht in der Lage, einer auf dem Arbeitsmarkt noch bewerteten Tätigkeit nachzugehen. Die Entziehung von Rehabilitationsgeld sei nicht rechtmäßig.

Die Beklagte wandte dagegen ein, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin durch medizinische Maßnahmen der Rehabilitation derart verbessert habe, dass die Klägerin, die keinen Berufsschutz genieße, wieder in der Lage sei, einer auf dem Arbeitsmarkt bewerteten Tätigkeit nachzugehen.

Das Erstgericht wies das Begehren auf Feststellung des Vorliegens vorübergehender Invalidität über den 31. 3. 2019 hinaus ab. Hingegen stellte es fest, dass die Klägerin über den 31. 3. 2019 hinaus weiterhin Anspruch auf Rehabilitationsgeld habe. Die Klägerin sei nie (vorübergehend) invalid gewesen. Ihr Gesundheitszustand habe sich bei den Geh‑ und Stehleistungen zwar verbessert, bei den feinstmotorischen Leistungen jedoch verschlechtert, sodass nicht von einer wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustands ausgegangen werden könne. Die Rechtskraft des Zuerkennungsbescheids stehe daher der Entziehung des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld entgegen. Hingegen liege keine vorübergehende Invalidität vor, weshalb das darauf gerichtete Feststellungsbegehren nicht berechtigt sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin gegen den klageabweisenden Teil des Urteils des Erstgerichts nicht Folge und bestätigte die Abweisung des Begehrens auf Feststellung, dass über den 31. 3. 2019 hinaus vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliege, mit Teilurteil. Hingegen gab es der Berufung der Beklagten gegen den klagestattgebenden Teil des Urteils des Erstgerichts Folge, hob das Urteil im Umfang der Stattgebung des Begehrens auf Feststellung des Weiterbestehens des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung über den 31. 3. 2019 hinaus auf und verwies die Rechtssache insofern zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück.

Der Berufung der Klägerin sei nicht Folge zu geben, weil im Entziehungsverfahren die Gewährung von Rehabilitationsgeld aus Rechtskraftgesichtspunkten nicht untrennbar mit der Frage des Vorliegens vorübergehender Invalidität verknüpft sei. Im konkreten Fall sei die Klägerin weder im Gewährungs‑ noch im Entziehungszeitpunkt invalid gewesen, sodass das darauf gerichtete Feststellungsbegehren nicht berechtigt sei. Die Revision an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, da zur Frage, ob die Feststellung des Vorliegens vorübergehender Invalidität mit der Feststellung des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld im Entziehungsverfahren untrennbar verknüpft sei, höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

Zur Berufung der Beklagten sei das Verfahren ergänzungsbedürftig. Ob eine für die Entziehung des Rehabilitationsgelds wesentliche Änderung eingetreten sei, hänge nicht bloß davon ab, ob sich das Leistungskalkül des Versicherten bessere, sondern auch davon, ob dies Einfluss auf das Verweisungsfeld habe und sich dieses aufgrund der Verbesserung des Leistungskalküls vergrößert habe. Es fehlten Feststellungen, ob die Klägerin trotz der verbesserten Geh‑ und Stehleistungen nur auf den Beruf der Tagportierin verwiesen werden könne. Vergrößere sich das Verweisungsfeld trotz dieser Verbesserung nicht, sei die Entziehung des Rehabilitationsgelds nicht gerechtfertigt. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob eine bloße Besserung des Leistungskalküls eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gemäß § 99 ASVG darstelle. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei wegen des Fehlens höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage zulässig, ob eine (bloße) Besserung des Leistungskalküls eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 99 ASVG darstelle.

Gegen das Teilurteil des Berufungsgerichts richtet sich die von der Beklagten nicht beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die Feststellung des Weiterbestehens vorübergehender Invalidität über den 31. 3. 2019 hinaus begehrt.

Gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet sich zum einen der von der Beklagten nicht beantwortete Rekurs der Klägerin, mit dem sie die Weitergewährung von Rehabilitationsgeld anstrebt, und zum anderen der von der Klägerin beantwortete Rekurs der Beklagten, mit der diese die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision und der Rekurs der Klägerin sind aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig, nicht jedoch berechtigt.

Der Rekurs der beklagten Pensionsversicherungsanstalt ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und berechtigt.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die Rechtsmittel der Parteien gemeinsam behandelt.

Die Klägerin beruft sich für ihren Standpunkt darauf, dass die Rechtskraft des Zuerkennungsbescheids einer Entziehung des Rehabilitationsgelds entgegenstehe. Mit dem Anspruch auf Rehabilitationsgeld sei die Feststellung, dass vorübergehende Invalidität weiterhin bestehe, untrennbar verbunden. Eine wesentliche, die Entziehung des Rehabilitationsgelds rechtfertigende Änderung der Verhältnisse liege nicht vor, weil infolge der ursprünglich unrichtigen Zuerkennung die Verbesserung des Gesundheitszustands der Klägerin nicht zur Folge habe, dass sie nunmehr wieder am Arbeitsmarkt verweisbar sei. Die Klägerin sei vielmehr immer verweisbar gewesen. Es genüge die beispielhafte Verweisbarkeit auf eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit. Zu Unrecht verlange das Berufungsgericht eine „Erweiterung des Verweisungsfelds“ gegenüber dem Gewährungszeitpunkt.

Die Beklagte verweist demgegenüber in ihrem Rechtsmittel auf die Rechtsprechung zum Unfallversicherungs‑ und Pflegegeldrecht. Bewirke eine konkrete Verbesserung (zB der Erwerbsfähigkeit), dass eine Person, der die Leistung ursprünglich zu Recht zuerkannt wurde, deren Entziehung in Kauf nehmen müsste, so müsse dies auch für eine Person gelten, der – wie der Klägerin – eine Leistung zu Unrecht zuerkannt wurde. Die Klägerin habe ihre Arbeitsleistung im Stehen und/oder Gehen von 20 Minuten auf 40 Minuten (pro Stunde) verdoppelt. Die Verschlechterung des Leistungskalküls sei nicht relevant, weil feinstmanipulative Arbeiten bei der Verweisungstätigkeit einer Tagportierin nicht erforderlich seien. Überdies sei das diese Einschränkung bewirkende Karpaltunnelsyndrom der Klägerin operabel. Eine umfänglich gleiche Verbesserung des Leistungskalküls hätte die Entziehung der Leistung auch gegenüber einer Person gerechtfertigt, die diese Leistung zu Recht erhalten habe.

Dazu wurde erwogen:

1.1 Die Entziehung des Rehabilitationsgelds als laufende Geldleistung aus der Krankenversicherung (§ 143a ASVG) ist nach § 99 Abs 1 ASVG zu beurteilen. Sind nach dieser Bestimmung die Voraussetzungen des Anspruchs auf eine laufende Leistung nicht mehr vorhanden, so ist die Leistung zu entziehen, sofern nicht der Anspruch gemäß § 100 Abs 1 ASVG ohne weiteres Verfahren erlischt.

1.2 Gemäß § 100 Abs 1 lit a ASVG erlischt ein Anspruch ohne weiteres Verfahren in der Krankenversicherung, wenn die Voraussetzungen für den Anspruch weggefallen sind (etwa durch Zeitablauf beim Krankengeld, § 139 ASVG). Der Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung erlischt gemäß § 100 Abs 3 ASVG mit dem Anfall einer (vorzeitigen) Alterspension nach dem ASVG oder einem anderen Bundesgesetz. Ein solcher Fall ist hier nicht zu beurteilen.

1.3 Rehabilitationsgeld soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein Ersatz für den Wegfall der befristeten Invaliditätspension sein (ErläutRV 2000 BlgNR 24. GP  20; 10 ObS 133/15d SSV‑NF 30/79 ua). Allerdings erlischt eine befristet zuerkannte Invaliditätspension durch Zeitablauf gemäß § 100 ASVG ohne weiteres Verfahren. Beim Rehabilitationsgeld handelt es sich jedoch um eine unbefristete Dauergeldleistung (10 ObS 123/19i). Eine – wie hier von der Beklagten behauptete – wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands bewirkt nicht das Erlöschen des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld ohne weiteres Verfahren, sondern ist Voraussetzung dafür, dass es mit Bescheid gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG entzogen werden kann. Der Unterschied zeigt sich verfahrensrechtlich durch eine andere Verteilung der Beweislast: Nach Ablauf einer Befristung liegt die Beweislast für das (weitere) Vorliegen von Invalidität bei der versicherten Person, während bei einer Entziehung der Versicherungsträger die wesentliche Besserung des Gesundheitszustands bzw des Leistungskalküls beweisen muss (Atria in Sonntag, ASVG10 § 99 ASVG Rz 7).

2.1 Die Entziehung einer laufenden Leistung wie des Rehabilitationsgelds ist nach § 99 Abs 1 ASVG nur zulässig, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist (10 ObS 50/15y SSV‑NF 29/48); ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RIS‑Justiz RS0106704; RS0083941 [T1]). Der für den Vergleich maßgebliche Zeitpunkt der ursprünglichen Leistungszuerkennung ist die Erlassung des Gewährungsbescheids. Es ist der Zustand im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheids über das Vorliegen vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG dem Zustand im Zeitpunkt der Entziehung gegenüberzustellen (RS0083876; Schramm in SV‑Komm [221. Lfg] § 99 ASVG Rz 6 mzwN).

2.2 Rehabilitationsgeld wird zwar aus dem Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit in der Krankenversicherung gewährt (§ 117 Z 3 ASVG). Es müssen jedoch die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 255b ASVG erfüllt sein. Der in § 255b ASVG verwendete Begriff der Invalidität gehört – auch wenn sie nur „vorübergehend“ im Sinn dieser Bestimmung vorliegen muss – zu den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit in der Pensionsversicherung (§ 222 Abs 1 Z 2 lit b ASVG). Zum Begriff der Änderung kann daher auch für die Beurteilung der Entziehung von Rehabilitationsgeld auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, wonach eine solche Änderung im Fall einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit etwa in der Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden bestehen kann (RS0083884). Ist der Leistungsbezieher durch diese Änderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist die Entziehung der Leistung sachlich gerechtfertigt (RS0083884 [T5], zuletzt zum Rehabilitationsgeld 10 ObS 123/19i).

3.1 Das Rehabilitationsgeld ist durch Bescheid (des Pensionsversicherungsträgers, § 143a Abs 1 ASVG) unter anderem dann zu entziehen, wenn – wie die Beklagte hier geltend macht – vorübergehende Invalidität von voraussichtlich mindestens sechs Monaten (§ 255b ASVG) nicht mehr vorliegt (§ 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG).

3.2 Im vorliegenden Fall lag allerdings nach den Feststellungen bei der Klägerin im Gewährungszeitpunkt keine vorübergehende Invalidität vor, sodass ihr das Rehabilitationsgeld materiell unrichtig zuerkannt wurde. Zwar hat sich der körperliche und geistige Zustand der Klägerin verändert; er hat sich in einem Teilbereich (Arbeiten im Stehen und Gehen) verbessert, in einem anderen Teilbereich (Feinstmotorik) verschlechtert. Diese Veränderung führt allerdings nicht dazu, dass die Klägerin im Entziehungszeitpunkt wieder am Arbeitsmarkt einsetzbar wäre: sie war dies vielmehr immer. Damit stellt sich die Frage, ob diese Veränderung des Gesundheitszustands der Klägerin unter Beachtung der materiellen Rechtskraft des Gewährungsbescheids eine Entziehung der Leistung rechtfertigt.

4.1 Der zentrale Gesichtspunkt bei der Auslegung der Voraussetzungen des § 99 Abs 1 ASVG liegt in der Rechtskraft der Gewährungsentscheidung (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 567). Aus der formellen Rechtskraft eines Bescheids erwächst grundsätzlich auch seine materielle Rechtskraft. Dabei handelt es sich um die mit dem Bescheid verbundene Bindungswirkung für die Behörden und Parteien, und zwar nicht nur hinsichtlich der normativen Aussagen, sondern auch hinsichtlich der Unabänderlichkeit und Unwiederholbarkeit. Auch rechtswidrige Bescheide erwachsen in materieller Rechtskraft (Hengstschläger/Leeb, AVG [Stand 1. 3. 2018, rdb] § 68 Rz 12 ff).

4.2 Ihre ursprüngliche Identität verliert eine Sache erst durch eine Änderung der entscheidungsrelevanten Fakten. Wesentlich ist eine Änderung des Sachverhalts nur dann, wenn sie für sich allein oder im Verein mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgeblich erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann, und daher die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheids zumindest möglich ist (Hengstschläger/Leeb, § 68 AVG Rz 26 mzN). Liegt daher eine wesentliche, entscheidende Änderung in den Verhältnissen vor, greift der Bescheid des Sozialversicherungsträgers, mit dem der Leistungsanspruch entzogen wird, nicht in die materielle Rechtskraft des Gewährungsbescheids ein. Die materielle Rechtskraft eines Bescheids stellt zwar immer auf die Situation zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ab; nachträgliche Änderungen der Verhältnisse werden von ihr nicht erfasst (Rechberger/Oberhammer, Bestandskraft der Bescheide im Leistungsverfahren vor dem Sozialversicherungsträger und sukzessive Kompetenz, ZAS 1993, 85 [88]).

4.3 Nach ständiger Rechtsprechung in Sozialrechtssachen ist ein Leistungsentzug nicht gerechtfertigt, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben sich nämlich die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung nicht wesentlich geändert, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung der Leistung entgegen. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (10 ObS 20/92, SSV‑NF 6/17 mwH; RS0083941 [T6]). § 99 ASVG bietet keine Grundlage für die Korrektur einer fehlerhaften Zuerkennung von Pensionen (vgl nur die Nachweise bei Jabornegg, Die Entziehung von Leistungsansprüchen nach § 99 ASVG, DRdA 1983, 1 [3 f]), da diese Vorschrift kein Abgehen vom Grundsatz der materiellen Rechtskraft zulässt (10 ObS 89/87 SSV‑NF 1/43). Der Sozialversicherungsträger darf daher nicht unter dem „Mantel“ dieser Bestimmung eine Korrektur bereits ursprünglich verfehlter Entscheidungen vornehmen (Fink, Sukzessive Zuständigkeit 567 mzwH in FN 16).

4.4 Für den vorliegenden Fall folgt daraus als Zwischenergebnis, dass die Rechtskraft des Gewährungsbescheids der Entziehung aus dem Grund, dass die Klägerin wieder am Arbeitsmarkt einsetzbar ist, entgegensteht, weil sich dieses entscheidungsrelevante Merkmal nicht verändert hat.

5.1 Allerdings hat sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin dennoch gegenüber dem Gewährungsbescheid verändert, insbesondere auch teilweise verbessert. Da somit kein gegenüber dem Gewährungsbescheid unveränderter Sachverhalt vorliegt, stellt sich die Frage, ob diese Änderung vor dem Hintergrund der ursprünglich fehlerhaften Zuerkennung von Rehabilitationsgeld eine Durchbrechung der (materiellen) Rechtskraft des Gewährungsbescheids rechtfertigen kann, ob also Rechtmäßigkeit ausnahmsweise vor Rechtssicherheit zu reihen ist, weil der Schutz des Vertrauens des Leistungsempfängers auf die Rechtsrichtigkeit des Gewährungsbescheids geringeres Gewicht hat als die Rechtsrichtigkeit der Gewährungsentscheidung und damit die Wahrung der Interessen der Versichertengemeinschaft.

5.2 Das ASVG selbst sieht zwar an mehreren Stellen eine „echte“ Durchbrechung der Rechtskraft von Bescheiden vor (so ist gemäß § 360b Abs 1 ASVG insbesondere die Wiederaufnahme auch des Verfahrens in Leistungssachen gemäß §§ 69, 70 AVG zulässig, weiters die Rückforderung zu Unrecht erbrachter Leistungen gemäß § 107 ASVG). Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch vor allem die Bestimmung des § 101 ASVG von Bedeutung, denn die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld an die Klägerin erfolgte aufgrund eines wesentlichen Irrtums der Beklagten über den Sachverhalt oder aufgrund eines offenkundigen Versehens im Sinn dieser Bestimmung. Tatsächlich sah § 101 Abs 1 ASVG bis zur 9. Novelle des ASVG, BGBl 1962/13, die Möglichkeit vor, einen Zuerkennungsbescheid über eine Geldleistung auch dann zu berichtigen, wenn diese infolge eines Irrtums über den Tatbestand oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht zuerkannt, zu hoch bemessen oder nicht oder mit einem zu niedrigen Betrag zum Ruhen gebracht wurde (vgl zu dieser Bestimmung Haberschrek, DRdA 1958, 91). Allerdings erhielt § 101 ASVG mit der 9. Novelle zum ASVG seine auch heute noch geltende Gestalt, wonach die in dieser Bestimmung angeordnete Durchbrechung der Rechtskraft des Zuerkennungsbescheids nur mehr zu Gunsten des Versicherten möglich ist. Der Gesetzgeber brachte damit deutlich seinen Willen zum Ausdruck, Eingriffe in die Rechtskraft des Gewährungsbescheids nur nach Maßgabe der Bestimmungen der §§ 69, 70 AVG als zulässig zu erachten, sodass der Wert der Rechtssicherheit vor dem der Rechtsmäßigkeit deutlich betont wurde (IA 147/A 9. GP  65 f).

5.3 Nach der bis zur 9. Novelle des ASVG geltenden Rechtslage wäre daher in einem Fall wie dem vorliegenden gar kein Entziehungsverfahren gemäß § 99 ASVG einzuleiten gewesen, sondern hätte nach § 101 ASVG aF vorgegangen werden müssen (Haberschrek, DRdA 1958, 92). Auch nach der Novellierung dieser Bestimmung hielt die Rechtsprechung zu § 99 ASVG gerade auch in Fällen einer irrtümlichen Zuerkennung der Leistung wie ausgeführt am Grundsatz „Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit“ fest. Wesentliches Argument dafür war und ist, dass derjenige, dem eine laufende Leistung zuerkannt wurde, darauf vertrauen können soll, dass ihm diese tatsächlich zusteht und er auch in Zukunft weiter damit rechnen kann (Jabornegg, DRdA 1983, 4; Schrammel, Rückforderung und Entziehung von zu Unrecht erbrachten Sozialversicherungsleistungen, ZAS 1990, 73 [80]). Dies spielt verständlicherweise gerade bei existenzsichernden Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit eine große Rolle.

5.4 Allerdings hat Jabornegg (DRdA 1983, 4 f) das Spannungsverhältnis, das sich bei einer irrtümlich oder versehentlich zuerkannten Geldleistung zwischen der gebotenen Rechtssicherheit und der fehlenden materiellen Richtigkeit der Entscheidung ergibt, an folgendem Beispiel dargestellt: „Man stelle sich nur zwei Personen vor, denen jeweils mit gleicher Begründung eine Invaliditätspension zuerkannt worden ist: der einen zu Recht, der anderen auf Grund einer Fehleinschätzung des Sachverständigen zu Unrecht. Zu einem späteren Zeitpunkt ergibt eine Nachuntersuchung für beide einen gleichartigen Befund, der aber die Voraussetzungen für die Weitergewährung der Invaliditätspension nicht erfüllt. Dem einen kann nun die Pension nach § 99 Abs 1 ASVG entzogen werden, bei ihm ist im Sinn des Gesetzes eine wesentliche Änderung eingetreten. Der andere macht dagegen geltend, dass der jetzt festgestellte Zustand in Wahrheit genau jenem entspreche, der schon ursprünglich vorhanden war, weshalb eine Änderung im Leidenszustand nicht eingetreten sei und eine Entziehung nach § 99 Abs 1 ASVG nicht erfolgen könne. Auf den ersten Blick ist kaum einzusehen, dass jemand, der ohne Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen eine Invaliditätspension zuerkannt bekommen hat, diese gerade deshalb auch für die Zukunft soll beanspruchen können. Fast drängt sich ein Größenschluss auf: Wenn schon bei Wegfall der Voraussetzungen die Entziehung möglich ist, dann müsste sie doch um so mehr zum Tragen kommen, wenn die Voraussetzungen ohnehin nie bestanden haben.“ Er befürwortet zwar in weiterer Folge die Formel, dass Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen ist, hält aber einschränkend fest: „Wann immer dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes Rechnung getragen wird, gilt dies selbstverständlich nur für wirklich schutzwürdiges Vertrauen.“

5.5 Ähnlich weist auch Schrammel darauf hin, dass sich auf das Argument des Vertrauensschutzes zumindest derjenige nicht gut berufen kann, der erkannt hat, dass ihm die Leistung gar nie zustand (ZAS 1990, 73 [80]). Diese Wertung übernimmt der Gesetzgeber etwa in § 107 Abs 1 ASVG, wonach eine zu Unrecht erbrachte Geldleistung vom Versicherungsträger ua dann zurückzufordern ist, wenn der Zahlungsempfänger (§ 106 ASVG) bzw der Leistungsempfänger erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte (vgl näher Atria in Sonntag, ASVG10 § 107 ASVG Rz 28 ff).

6.1 Auch in der Rechtsprechung wurde in bestimmten Fällen – und zu Sondernormen gegenüber § 99 ASVG – eine Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eines Bescheids bejaht, mit dem eine Leistung aufgrund einer Fehleinschätzung gewährt wurde:

6.2 Als wesentlich gilt eine Änderung der Verhältnisse gemäß § 183 Abs 1 ASVG im Unfallversicherungsrecht nur, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens 10 vH geändert wird, durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§ 203, 210 Abs 1 ASVG) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§ 205 Abs 4 ASVG). Zum zweiten Tatbestand dieser Bestimmung hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass hier jeder Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit  etwa um 5 % – wesentliche Bedeutung zukommen kann (10 ObS 15/11w SSV‑NF 25/27; R. Müller in SV‑Komm [219. Lfg] § 183 ASVG Rz 23). Wird daher einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von bloß 5 bis 10 vH aufgrund einer Fehlbeurteilung eine Dauerrente gewährt, rechtfertigt auch eine geringfügige Verbesserung seines Zustands, die zu einer etwa im Bereich von rund 5 bis 10 vH liegenden Änderung des Maßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit führt, im Sinne einer Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eine Entziehung der zu Unrecht gewährten Dauerrente (10 ObS 87/16s SSV‑NF 30/49). Denn es ist ein schwer vertretbares Ergebnis, wenn ein Versehrter, dem eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente zu Recht gewährt wurde, bei einer geringfügigen Verbesserung seines Zustands die Entziehung der Rente in Kauf nehmen muss, während einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von lediglich 5 bis 10 vH die aufgrund einer Fehleinschätzung gewährte Dauerrente trotz Vorliegens einer umfänglich gleichen Verbesserung nicht entzogen werden könnte (10 ObS 65/18h SSV‑NF 32/62).

6.3 Gemäß § 9 Abs 4 BPGG ist das Pflegegeld zu entziehen, wenn eine Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld wegfällt; wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt, ist das Pflegegeld neu zu bemessen. Für die Entziehung oder Neubemessung des Pflegegeldes sind jene Grundsätze heranzuziehen, die auch bei der Entziehung sonstiger Leistungsansprüche nach § 99 ASVG oder bei der Neufeststellung einer Versehrtenrente nach § 183 ASVG angewendet werden (RS0061709 [T4]). Auch im Anwendungsbereich des § 9 Abs 4 BPGG wurde der Grundsatz der Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eines Bescheids, der aufgrund einer Fehleinschätzung zu Unrecht eine Leistung gewährte, im Fall der Entziehung eines ursprünglich zu Unrecht zuerkannten Pflegegelds (es bestand kein Pflegebedarf von mehr als 65 Stunden) bejaht, weil sich der tatsächliche Pflegebedarf im Zeitpunkt der (ungerechtfertigten) Gewährung von 46 Stunden pro Monat auf 40,5 Stunden pro Monat in zwei Bereichen, die für die Zuerkennung des Pflegegelds maßgeblich waren, reduziert hatte (10 ObS 78/17v SSV‑NF 31/43). Denn auch in diesem Fall soll die pflegebedürftige Person nicht besser gestellt sein als eine vergleichbare Person, die bei rechtmäßiger Zuerkennung von Pflegegeld bei einem Pflegebedarf von beispielsweise 70 Stunden im Fall der Reduktion des Pflegebedarfs um 5,5 Stunden pro Monat die Entziehung des Pflegegelds hinnehmen müsste, weil der Pflegebedarf nur mehr 64,5 Stunden betrüge.

6.4 In beiden Fällen liegt kein schutzwürdiges Vertrauen des Leistungsempfängers vor allem auf die Weitergewährung der Leistung vor: Denn sie wurde ihm einerseits zu Unrecht zuerkannt. Andererseits hat sich in beiden Fällen der Sachverhalt im Zeitpunkt der Entziehung gegenüber demjenigen im Zeitpunkt der Gewährung geändert: einmal verringerte sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit, das andere Mal der Pflegebedarf. Mag diese Änderung auch nur geringfügig gewesen sein, so hätte dennoch eine vergleichbare Änderung zur Entziehung einer ursprünglich zu Recht zuerkannten Leistung führen können. Diesem Wertungswiderspruch kann nicht das Argument des Vertrauensschutzes auf die (materielle) Rechtskraft des Bescheids entgegengehalten werden.

7.1 Diese Grundsätze sind, wie dies bereits in der Entscheidung 10 ObS 65/18h SSV‑NF 32/62 ausgesprochen wurde, auch auf die Entziehung des Rehabilitationsgelds anzuwenden, wenn – wie auch im vorliegenden Fall – der Entziehungsgrund des Wegfalls der vorübergehenden Invalidität (Berufsunfähigkeit) gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 lit b sublit aa ASVG geltend gemacht wird.

7.2 Rehabilitationsgeld unterscheidet sich unter dem hier zu prüfenden Aspekt des Vertrauensschutzes des Leistungsempfängers auf eine ihm aufgrund eines Fehlers des Pensionsversicherungsträgers zu Unrecht zuerkannte Leistung in mehreren Merkmalen deutlich von der Invaliditätspension (Berufsunfähigkeitspension), zu der die ältere schon dargestellte Rechtsprechung zu § 99 ASVG ergangen ist:

7.2.1 Anders als eine Pension verfolgt das Rehabilitationsgeld nicht den Zweck der Existenzsicherung nach der Beendigung des Erwerbslebens, sondern bezweckt, den krankheitsbedingten Einkommensausfall auszugleichen, und wird gerade deshalb gewährt, weil keine dauernde Arbeitsunfähigkeit besteht (10 ObS 133/15d SSV‑NF 30/79). Sobald die vorübergehende Invalidität infolge erfolgreicher medizinischer Maßnahmen der Rehabilitation beendet ist, endet der Anspruch auf Rehabilitationsgeld. Der Gesetzgeber sanktioniert die Verletzung von Mitwirkungspflichten der Versicherten an Rehabilitationsmaßnahmen durch die Androhung, dass das Rehabilitationsgeld in solchen Fällen ruht (§ 143a Abs 5 ASVG) oder entzogen wird (§ 99 Abs 1a ASVG). Schon nach dieser gesetzlichen Konzeption kann der Bezieher von Rehabilitationsgeld zwar auf die Richtigkeit der Zuerkennung dieser Leistung, nicht aber uneingeschränkt auf deren zukünftige Gewährung vertrauen.

7.2.2 Rehabilitationsgeld wird nur für die Dauer „vorübergehender Invalidität“ gewährt (§ 255b ASVG), daher schon begrifflich nicht auf unbegrenzte Dauer. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Begriff der „vorübergehenden Invalidität“ nach der bis zum StrukturanpassungsG 1996, BGBl 1996/201, geltenden Rechtslage (vgl § 254 Abs 1 ASVG idF BGBl 1993/335; § 256 ASVG idF BGBl 1987/609) nicht zur Gewährung einer „vorübergehenden“ Leistung führte, sondern zur Gewährung einer befristeten Invaliditätspension (so schon § 256 ASVG in der StF BGBl 1955/189; die Gewährung einer befristeten Invaliditätspension war seit dem StrukturanpassungsG 1996 der Regelfall, vgl Sonntag in Sonntag, ASVG10 § 256 ASVG Rz 19). Eine befristete Leistung wird aber, wie bereits ausgeführt, in der Regel nicht gemäß § 99 ASVG entzogen, sondern sie erlischt durch Zeitablauf gemäß § 100 ASVG. Bestand nach Ablauf der Befristung Invalidität weiter und wurde die Weitergewährung der Invaliditätspension spätestens innerhalb eines Monats nach deren Wegfall beantragt, so war die Pension „für die weitere Dauer der Invalidität“ – damit aber unbefristet – zuzuerkennen (vgl zu § 256 ASVG idF des SRÄG 1987, BGBl 1987/609, 10 ObS 20/92 SSV‑NF 6/17). Dass der Schutz des Vertrauens des Leistungsempfängers auf die Weitergewährung einer derart unbefristet gewährten (existenzsichernden) Leistung einen höheren Stellenwert hatte als jener des Beziehers von Rehabilitationsgeld nach nunmehriger Rechtslage hat, ist gut begründbar.

7.2.3 Auf den zukünftigen Weiterbezug von Rehabilitationsgeld darf der Leistungsempfänger auch deshalb nicht schon aufgrund der einmal gewährten Zuerkennung vertrauen, weil das weitere Vorliegen der vorübergehenden Invalidität (Berufsunfähigkeit) vom Krankenversicherungs-träger gemäß § 143a Abs 1 Satz 2 ASVG jeweils bei Bedarf, jedenfalls aber nach Ablauf eines Jahres nach der Zuerkennung des Rehabilitationsgelds oder der letzten Begutachtung im Rahmen des Case Management (§ 143b ASVG) zu überprüfen ist, und zwar unter Inanspruchnahme des Kompetenzzentrums Begutachtung (§ 307g ASVG). Auch darin unterscheidet sich das Rehabilitationsgeld vom Bezug einer (nicht befristet zuerkannten) Invaliditätspension nach der bis zum StrukturanpassungsG 1996 geltenden Rechtslage: Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pension“ wurde im Bereich der Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit erst mit den Bestimmungen des Strukturanpassungsgesetzes 1996 verankert (RS0113672 [T1]). Ein dem Case Management vergleichbares Kontrollsystem zur Überprüfung der Leistung der Invaliditätspension „für die weitere Dauer der Invalidität“ war nicht vorgesehen.

7.3 Aus diesen Gründen mag das Vertrauen des Leistungsempfängers darauf, dass ihm Rehabilitationsgeld rechtmäßig zuerkannt wurde, schützenswert sein. Ein – im Sinne Jaborneggs und Schrammels – schützenswertes Vertrauen darauf, dass der Leistungsbezieher diese Leistung auch in Zukunft erwarten kann, besteht jedoch nur in geringerem Ausmaß.

7.4 Ergebnis:

7.4.1 Die (materielle) Rechtskraft des Bescheids über die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld steht im Fall einer irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität gemäß § 255b ASVG bei der Gewährung dieser Leistung einer späteren Entziehung gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann entgegen, wenn der Sachverhalt im Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt unverändert ist.

7.4.2 Ist jedoch im Fall eines aufgrund der irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG zuerkannten Rehabilitationsgelds eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt feststellbar und bezieht sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG begründet haben (vgl zum Pflegegeld 10 ObS 78/17v SSV‑NF 31/43), so ist eine Entziehung des Rehabilitationsgelds gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann gerechtfertigt, wenn im Entziehungszeitpunkt vorübergehende Invalidität nicht vorliegt.

Daraus folgt für den vorliegenden Fall:

8.1 Der Oberste Gerichtshof kann gemäß §

 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts nach §

 519 Abs 1 Z 2 ZPO durch Urteil in der Sache selbst erkennen, wenn die Sache zur Entscheidung reif ist, wobei diese Entscheidung auch zum Nachteil des Rekurswerbers ausfallen kann. Eine derartige Sachentscheidung des Obersten Gerichtshofs verstößt nicht gegen das Verschlechterungsverbot (RS0043853; RS0043939).

8.2 Die Klägerin war im Zeitpunkt der Zuerkennung von Rehabilitationsgeld am 1. 8. 2016 nicht vorübergehend invalid, sodass die Zuerkennung zu Unrecht erfolgte.

8.3 Im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt hat sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin im Entziehungszeitpunkt dahin gebessert, dass sie mittlerweile bis maximal zweidrittelzeitig (maximal 40 Minuten ununterbrochen) im Stehen und Gehen Arbeiten verrichten kann, während dies im Gewährungszeitpunkt nur bis maximal drittelzeitig (maximal 20 Minuten ununterbrochen) möglich war. Diese Verbesserung betrifft einen Bereich – Arbeiten im Stehen und Gehen – der für die Einschätzung der fehlenden Arbeitsfähigkeit der Klägerin im Gewährungszeitpunkt maßgeblich war, weil die Einschränkung insbesondere auch auf die Abnützung des linken Kniegelenks der Klägerin zurückzuführen war.

8.4 Hingegen betrifft die Verschlechterung des Zustands der Klägerin die (neue) Einschränkung der Feinstmotorik. Diese spielte im Gewährungszeitpunkt keine Rolle. Sie führt auch im Entziehungszeitpunkt nicht zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin vorübergehende Invalidität bestünde.

8.5 Hätte die Klägerin Rehabilitationsgeld im Gewährungszeitpunkt zu Recht erhalten, weil insbesondere auch die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin bei Arbeiten im Gehen und Stehen vorübergehende Invalidität entscheidend (mit‑)begründet hätte, so hätte die Verbesserung ihres körperlichen Gesundheitszustands in diesem Bereich und die dadurch wiedererlangte Arbeitsfähigkeit zur Entziehung des Rehabilitationsgelds gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG geführt, dies ungeachtet der Verschlechterung im Bereich der feinstmotorischen Tätigkeiten. Nach den dargestellten Grundsätzen muss daher auch eine vergleichbare Verbesserung des körperlichen Gesundheitszustands der Klägerin zur Entziehung des ursprünglich zu Unrecht zuerkannten Rehabilitationsgelds führen.

9. Ausgehend davon erweist sich aber zusammenfassend die Rechtssache im klageabweisenden Sinn bereits als entscheidungsreif, ohne dass es einer Ergänzung der Tatsachengrundlage bedarf, sodass dem Rekurs der Beklagten stattzugeben und das Klagebegehren mit Urteil zur Gänze abzuweisen ist. Hingegen erweisen sich die Revision und der Rekurs der Klägerin als nicht berechtigt.

10. Infolge der Abweisung des Klagehauptbegehrens ist über das Eventualbegehren zu entscheiden. Nach dem in Sozialrechtssachen geltenden Grundsatz der sukzessiven Kompetenz kann das Gericht in einer Leistungssache – abgesehen vom Fall des § 65 Abs 1 Z 3 ASGG und vorbehaltlich des § 68 ASGG – das Gericht nur angerufen werden, wenn vom Versicherungsträger entweder „darüber“, das heißt über den der betreffenden Leistungssache zugrundeliegenden Anspruch des Versicherten, bereits ein Bescheid erlassen wurde oder der Versicherungsträger mit der Bescheiderlassung säumig geworden ist (§ 67 Abs 1 ASGG; RS0085867). Insofern ist der mögliche Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens durch Antrag, Bescheid und Klagebegehren in dreifacher Weise eingegrenzt (RS0105139 [T1]). Gegenstand des Verfahrens vor der Beklagten und deren Entscheidung waren nur der Anspruch der Klägerin auf Rehabilitationsgeld und die Voraussetzungen für dessen Entziehung gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG. Für das Begehren der Klägerin auf Feststellung dauerhafter Invalidität und Zuerkennung einer Invaliditätspension fehlt es daher an der Zulässigkeit des Rechtswegs, sodass das Eventualbegehren mit Beschluss zurückzuweisen ist (§ 73 ASGG; 10 ObS 116/16f, SSV‑NF 30/57 ua).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage (RS0085829 [T1]).

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