OGH 6Ob177/23g

OGH6Ob177/23g21.2.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. A*, vertreten durch Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, wider die beklagten Parteien 1. P*, vertreten durch Raits Dalus Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, 2. M*, Deutschland, vertreten durch Univ.‑Prof. Mag. Dr. Franz Pegger und andere Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen 71.215,38 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 30. Juni 2023, GZ 12 R 15/23x‑53, womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom 28. März 2023, GZ 2 Cg 41/20m‑47, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0060OB00177.23G.0221.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

I. Die Revision im Verfahren gegen die erstbeklagte Partei wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der erstbeklagten Partei die mit 2.733,54 EUR (darin 455,59 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

II. Der Revision im Verfahren gegen die zweitbeklagte Partei wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden im Umfang der Abweisung des Hauptbegehrens gegenüber der zweitbeklagten Partei unter Vorbehalt der Kostenentscheidung als Teilurteil bestätigt und im Übrigen aufgehoben. Die Rechtssache wird insoweit zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger erwarb von der erstbeklagten Händlerin mit Kaufvertrag vom 9. 2. 2015 ein am 8. 9. 2015 übergebenes Neufahrzeug, in dem ein Dieselmotor der Type OM 651 EU 6b (2.143 cm3, 140 kW/190 PS) verbaut ist.

[2] Die Zweitbeklagte ist die Herstellerin dieses Fahrzeugs.

[3] Das Fahrzeug war von einem (bekämpften) Rückrufbescheid des deutschen Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) betroffen. In der „KBA-Liste“ ist für das streitgegenständliche Fahrzeug vermerkt „unzulässige Abschalteinrichtung (Zulässigkeit noch im Rechtsbehelfs Gerichtsverfahren)“. In der Rückrufdatenbank finden sich für das Fahrzeugmodell zwei „Rückrufcodes“. Noch vor Einbringung der Klage wurde am Fahrzeug ein vom KBA freigegebenes Software‑Update aufgespielt. Es steht nicht fest, „dass das verbaute Thermofenster über die überwiegende Zeit des Jahres inaktiv ist“.

[4] Mit seiner am 3. 4. 2020 eingebrachten Klagebegehrt der Kläger Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs die Lieferung eines neuen Fahrzeugs „aus der aktuellen Produktion“ mit im Detail angeführten technischen (Mindest-)Merkmalen und der Serienausstattung „M*“ (Hauptbegehren), in eventu die Aufhebung des Kaufvertrags und Zahlung von 58.300,38 EUR sA Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs, in eventu dazu Zahlung von 10.000 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten zur ungeteilten Hand für jeden aus dem Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung zukünftig entstehenden Schaden.

[5] Der Kläger stützt sich auf eine Mangelhaftigkeit des Fahrzeugs (auch aufgrund von nach dem Software‑Update weiterhin vorhandenen unzulässigen Abschalteinrichtungen). Gegenüber der Erstbeklagten sei das Klagebegehren wegen Geschäftsirrtums, List sowie Gewährleistung und Schadenersatz ex contractu berechtigt. Die Zweitbeklagte nehme er wegen Schadenersatz ex delicto aufgrund listiger Irreführung und Schutzgesetzverletzung in Anspruch.

[6] Die Beklagten bestritten und wandten ein, das Klagebegehren sei unschlüssig, die Ansprüche verjährt und das Fahrzeug mängelfrei übergeben bzw allfällige Mängel vor Klagseinbringung behoben worden.

[7] Das Erstgericht wies die Klage ab. Die Geltendmachung bloßer Sachmängel im Rahmen der Gewährleistung gegenüber der Erstbeklagten sei ebenso verjährt wie die Irrtumsanfechtung. Hinsichtlich der Zweitbeklagten verneinte es die Berechtigung der Klage, weil sich eine Mangelhaftigkeit des Fahrzeugs letztlich nicht habe feststellen lassen.

[8] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Nach Verneinung von Verfahrens- und Beweisrügen pflichtete es dem Erstgericht bei, dass dem Kläger der Beweis eines Mangels – und damit auch eines Schadens – insgesamt nicht gelungen sei. Schon weil es eine Klarstellung zum Umfang der Behauptungs- und Beweislast im Zusammenhang mit Abschalteinrichtungen für geboten hielt, erklärte es die ordentliche Revision für zulässig.

[9] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 2 ZPO) – Zulassungsausspruch ist die gegen diese Entscheidung erhobene und von den Beklagten beantwortete Revision des Klägers im Verfahren gegen die Erstbeklagte mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[10] Im Verfahren gegen die Zweitbeklagte ist sie zulässig und teilweise berechtigt.

I. Verfahren gegen die Erstbeklagte (Händlerin)

[11] I.1. Die in der Zulassungsbegründung aufgeworfenen Fragestellungen berühren die Qualifikation der Ansprüche als verjährt nicht.

[12] I.2. Der Beurteilung der Vorinstanzen stellt der Kläger die Behauptung entgegen, es sei von der Anwendung der „langen Verjährungsfrist“ auszugehen, weil das listige Verhalten der Herstellerin der Händlerin zurechenbar sei.

[13] Diese Rechtsfrage wurde aber in der Zwischenzeit in anderen Verfahren bereits beantwortet (vgl RS0112921 [T5]). Die Zurechenbarkeit eines behaupteten (und im vorliegenden Verfahren noch gar nicht näher untersuchten) arglistigen Verhaltens der Fahrzeugherstellerin zum Vertragshändler wird nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs verneint, weil sich der Vertragshändler beim Verkauf eines Fahrzeugs nicht der Herstellerin bedient (9 Ob 21/22m [Rz 30, 31 ff]; 9 Ob 55/23p [Rz 31]).

[14] I.3. Solange die EG‑Typengenehmigung aufrecht ist (also bei deren bloß befürchteter mangelnden Rechtsbeständigkeit) liegt kein Rechtsmangel vor (9 Ob 53/23v [Rz 17]; 6 Ob 116/23m [Rz 10]; 1 Ob 104/23k [Rz 23]). Die Beurteilung, dass für einen Sachmangel die Gewährleistungsfrist bereits abgelaufen ist, greift der Kläger zu Recht nicht an. Die Revision kann daher insgesamt keine erhebliche Rechtsfrage aufwerfen.

[15] I.4. Die Erstbeklagte hat Anspruch auf Kostenersatz nach §§ 41 iVm 50 ZPO. Die in den Punkten I.2. zitierten Entscheidungen wurden zwar erst nach Einbringung der Revisionsbeantwortung veröffentlicht. Die Erstbeklagte hat sich in ihrer Revisionsbeantwortung aber ohnehin nicht nur inhaltlich gegen eine Zurechnung der behaupteten Arglist der Herstellerin ihr gegenüber als Händlerin gewendet und das Bestehen eines Rechtsmangels in Abrede gestellt, sondern auch beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Verfahren gegen die Zweitbeklagte (Herstellerin)

II.1. Zum Teilurteil:

[16] II.1.1. Der gegenüber der Zweitbeklagten geltend gemachte Anspruch auf „Neulieferung“ aus der aktuellen Produktion kann unabhängig von der Frage des Vorliegens einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht zu Recht bestehen.

[17] II.1.2. Der Kläger stützt sich dafür auf Schadenersatz durch Naturalrestitution. Im Rahmen der Naturalrestitution soll der Geschädigte primär so gestellt werden, wie er ohne das schädigende Ereignis stünde (RS0022818; RS0030228 [T7]). Dabei ist zuerst einmal zu beachten, um welchen Schaden es hier geht.

[18] Im Fall des Erwerbs eines mit einer im Sinn des Art 5 VO 715/2007/EG unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs liegt das – den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechend einen Schaden im Sinn des § 1293 ABGB bildende – geringere rechtliche Interesse eines Käufers in der (objektiv) eingeschränkten Nutzungsmöglichkeit (siehe bloß 6 Ob 122/23v [Rz 16]).

[19] II.1.3. Wenn § 1323 ABGB (auf welche Bestimmung sich der Kläger bezieht) vorrangig fordert, dass alles „in den vorigen Stand zurückversetzt“ werden muss, ist der Grundfall der Beschädigung einer zuvor „unbeschadeten“ Sache angesprochen. Für den hier vorliegenden Fall einer (schon ursprünglich) durch den Hersteller eingebauten unzulässigen Abschalteinrichtung wäre – im Sinn des Prinzips der Naturalrestitution – primär an die Beseitigung des „geringen Interesses“ durch Beseitigung der unzulässigen Abschalteinrichtung im erworbenen Fahrzeug zu denken. Die (vom Kläger für sich in Anspruch genommene) „Verschaffung des Zustands, wie er ohne schädigendes Ereignis bestünde“, läge also in einer solchen „Reparatur“. Jedenfalls in dem Fall, dass eine (geeignete) Beseitigung der unzulässigen Abschalteinrichtung durch Reparatur des Fahrzeugs nicht angeboten wird (oder fehlschlägt), hat der Kläger, der das Fahrzeug bei Kenntnis des Vorliegens einer unzulässigen Abschalteinrichtung nach Art 5 VO 715/2007/EG nicht erworben hätte (und es auch nicht behalten will), nach gefestigter Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Anspruch auf Zug-um-Zug-Abwicklung. Es ist aber auch die Geltendmachung eines Minderwerts des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs möglich (RS0134498).

[20] II.1.4. Der Kläger fordert hier etwas anderes, nämlich einen „Ersatz“ durch „Austausch“ gegen ein Neufahrzeug „aktueller Produktion“. Dies scheitert schon am Erfordernis der („Wieder“-)Herstellung einer „im Wesentlichen“ gleichen Lage oder eines gleichartigen, wirtschaftlich gleichwertigen Zustands („Ersatzlage“ RS0030228; RS0060539), nur ohne das schädigende Ereignis. Mit der vom Kläger begehrten „Auswechslung“ mit einem Jahre später hergestellten Neufahrzeug aus der „aktuellen Produktion“ (womit der Kläger implizit auch die Ausführung des Fahrzeugs in der nun gegebenen, neuesten [anderen] technischen Ausstattung [offenbar auch in Bezug auf ein nunmehriges Fehlen von unzulässigen Abschalteinrichtungen] unterstellt) im „Austausch“ gegen das (schon bis zur Klage) über viele Jahre gebrauchte, bauältere Fahrzeug des Klägers (anderer technischer Ausstattung) käme es nicht zur Leistung einer „im Wesentlichen gleichen Sache“ (vgl Harrer/Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB4 [2016] § 1323 Rz 5, 11).

II.2. Zum Aufhebungsbeschluss:

[21] Mit seinem Begehren auf Aufhebung des Kaufvertrags mit der Händlerin (Erstbeklagten) zielt der Kläger nicht auf die Erlassung eines solchen Urteils gegenüber der Zweitbeklagten ab. Neben der Aufhebung der Kostenentscheidungen der Vorinstanzen umfasst die Aufhebung im Verfahren gegenüber der Zweitbeklagten in der Hauptsache demnach (nur) die Punkte 2b) (Schadenersatz in Form der Zug‑um‑Zug‑Abwicklung als erstes Eventualbegehren) sowie 3) und 4) (Ersatz des Minderwerts neben der Feststellung der Haftung als zweites Eventualbegehren) des Ersturteils.

[22] II.2.1. Schon das Berufungsgericht hat zu Recht bemängelt, dass das Ersturteil unter der Überschrift „Sachverhalt“ gleichermaßen Tatsachen wie auch rechtliche Ausführungen enthält. So ist beispielsweise die „Feststellung“ des Erstgerichts „nach dem Software‑Update entspricht das streitgegenständliche Fahrzeug jedenfalls den entsprechenden Verordnungen“ rechtliche Beurteilung und enthält kein (überprüfbares) Tatsachensubstrat. Maßgebliche Beurteilungsgrundlage können die Feststellungen zur Thematik Abschalteinrichtungen nur insoweit sein, als sie Tatsachen über die Ausstattung des konkreten Fahrzeugs enthalten oder denklogisch zulassen (weshalb auch in diesem Abschnitt des Ersturteils angestellte Vermutungen [vgl etwa: „angeblich“, „dürfte“] oder Ausführungen über Entdeckungen von Ermittlern in den USA bei den für den amerikanischen Markt bestimmten Modellen ohne Belang sind). Bei neuerlicher Entscheidung nach Verfahrensergänzung (deren Notwendigkeit im Weiteren dargestellt wird) wird darauf Rücksicht zu nehmen sein.

[23] II.2.2. Eine Abschalteinrichtung ist nach der Legaldefinition des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird (10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 [Rz 33]).

[24] Gemäß Art 5 Abs 2 Satz 1 VO 715/2007/EG ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig, wobei Satz 2 leg cit von diesem Verbot – unter bestimmten Bedingungen – Ausnahmen normiert.

[25] II.2.3. Die Parteien waren im Verfahren uneins darüber, wer von ihnen – wie weit – das Vorliegen (der Unzulässigkeit) einer Abschalteinrichtung zu behaupten und zu beweisen hätte.

[26] Grundsätzlich hat jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu behaupten und zu beweisen (siehe nur RS0106638). Nach mittlerweile gesicherter Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist der (jeweilige) Kläger für das Vorliegen einer „Abschalteinrichtung“ im Sinn von Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG behauptungs- und beweispflichtig. Ist dieser Nachweis im Verfahren gelungen, ist angesichts des grundsätzlichen Verbots in Art 5 Abs 2 Satz 1 VO 715/2007/EG fürs Erste von der Unzulässigkeit der Abschalteinrichtung auszugehen. Dann liegt es an der Beklagten (als Herstellerin), soweit sie sich auf eine Ausnahme von diesem Verbot stützt, die für die Verbotsausnahme erforderlichen Voraussetzungen (zuletzt 4 Ob 171/23k [ErwGr 3.1. f]) zu behaupten und nachzuweisen (6 Ob 155/22w [Rz 65 ff]; 8 Ob 90/22a [Rz 21]; 1 Ob 146/22k [Rz 23]; 1 Ob 149/22a [Rz 27 ff, 42 ff zur Gewährleistung]; vgl auch BGH VIa ZR 335/21 [Rz 53 ff]).

[27] Neben diesen Grundsätzen zur Behauptungs- und Beweislast ist daran zu erinnern, dass im Zivilprozess die nach § 184 ZPO befragte Partei eine Mitwirkungspflicht an der Erforschung der Wahrheit trifft (vgl 9 Ob 12/05p). Insbesondere bei nicht leicht zu überwindenden Beweisschwierigkeiten bzw Informationsdefiziten kann diese Mitwirkungspflicht nutzbar gemacht werden (zuletzt ausführlich 4 Ob 78/22g; Rassi, Kooperation und Geheimnisschutz bei Beweisschwierigkeiten im Zivilprozess [2020] Rz 100; ders [zu allfälligen Auswirkungen der Verweigerung der Mitwirkung im Rahmen der Beweiswürdigung] aaO Rz 268 ff, 356; ders in Fasching/Konecny³ § 184 ZPO Rz 13 ff; vgl auch RS0119925).

[28] Der Kläger hat seine Behauptungen über die Unzulässigkeit der im Fahrzeug verbauten Abschalteinrichtungen nicht „ins Blaue hinein“, also ohne greifbare Anhaltspunkte, aufgestellt (vgl BGH VIII ZR 57/19 [Rz 8 ff]). Er hat sich dafür auf den (ihm nicht bekannten und von der Herstellerin bekämpften, aber nicht offengelegten) Rückruf(bescheid) des KBA gestützt. Nach dessen „Liste“ ist dem verbauten Motor die Mangelbeschreibung „Unzulässige Abschalteinrichtung“ zugeordnet, und es finden sich in der „Rückrufdatenbank“ für das Fahrzeugmodell zwei „Rückrufcodes“. In einer solchen Situation kann von einem Kläger, dem als Käufer eines Fahrzeugs naturgemäß die genaue Wirkungsweise des Emissionskontrollsystems unbekannt ist, insbesondere dann, wenn dessen Funktionsweise durch ein Software-Update nachträglich verändert wurde (und das Fahrzeug damit gar nicht mehr den Ursprungszustand zeigt), mangels eigener Sachkunde nicht verlangt werden, dass er die konkrete Funktionsweise der Abschalteinrichtungen bis ins Einzelne darlegt (oder detaillierter, als dies hier zur Abschalteinrichtung bei der Abgasnachbehandlung erfolgt ist, Vorbringen erstattet; siehe sogleich Pkt II.2.4.).

[29] Es mag zwar bei der (Verweigerung der) Beantwortung etwa auch der Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen zu berücksichtigen sein. Rechtswidriges Verhalten fällt aber nicht unter den Schutz des Geschäftsgeheimnisses. Warum schon bei bloß grundsätzlicher Aufklärung durch den Hersteller über jene Konstruktionsteile, die im konkreten Fahrzeug auf die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems Einfluss nehmen, und bei Auskunft (etwa nur) über die Art (und äußersten Grenzen) der dafür herangezogenen Parameter die Interessen des Herstellers höher zu bewerten wären als das Interesse des Erwerbers, überprüfen zu können, ob sein Fahrzeug den Rechtsvorschriften entspricht, wäre erst darzulegen.

[30] II.2.4. Der Kläger hat im vorliegenden Verfahren das Bestehen von unzulässigen Abschalteinrichtungen wie folgt behauptet:

„- Erkennung des Prüfstands (in Amerika bekannt als Funktion 'Bit 13', 'Bit 14', 'Bit 15') – abhängig von Umgebungsdruck und Umgebungstemperatur kommen unterschiedliche Abgasstrategien zum Einsatz, die

- sich auf das AGR‑System auswirken (temperaturabhängige Abschalteinrichtung, die außerhalb des Temperaturbereichs von 11 Grad Celsius bis 30 Grad Celsius Umgebungstemperatur die Funktionsweise vermindert), sowie zeitabhängige bzw wegabhängige Abschalteinrichtung (nach Verstreichen der Prüfdauer bzw deren Wegstrecke)

- sich auf das SCR‑System auswirken (sog 'Slipguard‑Funktion') und eine Minderung des Systems temperatur-, geschwindigkeits- (über 120 km/h) und beschleunigungsabhängig (über 1.04 m/s²) bewirkt.“

[31] Die Zweitbeklagte hat das Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen (auch schon vor dem Software-Update) dagegen bestritten und zu dem (nach dem Software-Update unstrittig bestehenden) Thermofenster entgegnet, dieses sei im vorliegenden „klagsgegenständlichen Fahrzeug […] deutlich größer und erstreckt sich nach dem bereits durchgeführten Software-Update zumindest auf den Temperaturbereich von - 10 Grad Celsius und + 40 Grad Celsius, dies ohne Korrekturen. Auch außerhalb dieses Bereichs erfolgt jedenfalls zunächst lediglich eine Abrampung und ist die Abgasrückführung sohin auch abseits dieses Temperaturfensters jeweils aktiv“.

[32] II.2.5. Warum der Kläger meint, es sei die Untergrenze des Thermofensters mit + 11 Grad Celsius zugestanden, bleibt angesichts des Vorbringens der Gegenseite und der ausführlich begründeten Auseinandersetzung des Berufungsgerichts mit dem wechselseitigen Bestreitungsvorbringen schlicht unverständlich.

[33] Allerdings besteht (sogar) nach dem Zugeständnis der Zweitbeklagten für die volle Wirksamkeit der Abgasrückführung (nach dem Software‑Update) ein Thermofenster zwischen - 10 Grad Celsius und + 40 Grad Celsius. Trotz der Verwendung des Wortes „zumindest“ können die daran anschließenden Ausführungen der Zweitbeklagten nur dahin verstanden werden, dass außerhalb dieses Bereichs die Abrampung (Reduktion) beginnt. Dies bedeutet, dass –gleich, ob das Vorbringen der Zweitbeklagten zum Thermofenster bei der Abgasrückführung zutrifft, oder ob dieses tatsächlich näher an der Ausgestaltung wie sie vom Kläger behauptet wird, liegt,– die Abschalteinrichtung jedenfalls ab - 10,1 Grad Celsius und + 40,1 Grad Celsius aktiv ist.

[34] Im vorliegenden Verfahren ist damit angesichts der von der Zweitbeklagten genannten Temperaturen (vgl RS0039941 [T6]; RS0040101) – ohne dass es eines weiteren Vorbringens des Klägers bedürfte –vom Vorliegen einer „Abschalteinrichtung“ im Sinn der Legaldefinition des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG im Fahrzeug des Klägers auszugehen, zumal (wenn auch nicht zu häufig) höhere, jedenfalls aber tiefere Temperaturen (im gesamten Unionsgebiet und nicht bloß in einem Mitgliedstaat oder gar nur in bestimmten Regionen von Mitgliedstaaten; vgl BGH VIa ZR 335/21 [Rz 50]) auch noch bei normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind. Anders als die Zweitbeklagte meint, kommt es für diese Betrachtung nicht auf einen Jahresdurchschnittswert an. Es mögen daher zwar bisher Feststellungen darüber fehlen, ob nun im Fahrzeug des Klägers derzeit ein Thermofenster implementiert ist, das die Abgasrückführung erst außerhalb von - 10 Grad Celsius und + 40 Grad Celsius reduziert, oder ob dies häufiger der Fall ist (behauptet doch der Kläger ein engeres Thermofenster von + 11 Grad Celsius bis + 30 Grad Celsius). Für die Frage, ob von einer Abschalteinrichtung iSd der Legaldefinition des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG auszugehen ist, spielt dies keine entscheidungswesentliche Rolle. Es liegt damit (erst einmal) eine dem grundsätzlichen Verbot unterfallende Abschalteinrichtung vor.

[35] II.2.6. Damit wäre es an der Zweitbeklagten gelegen, eine ausnahmsweise Zulässigkeit der Abschalteinrichtung im Sinne des Art 5 Abs 2 Satz 2 VO 715/2007/EG zu behaupten und zu beweisen.

[36] Nach den – das konkrete Fahrzeug betreffenden – Tatsachen steht aber (schon jetzt) nicht fest, „dass das verbaute Thermofenster über die überwiegende Zeit des Jahres inaktiv ist“. Gemeint ist mit der Wendung „dass das verbaute Thermofenster über die überwiegende Zeit des Jahres inaktiv ist“ erkennbar der Inhalt, es stehe nicht fest, dass die die Abgasrückführung regelnde Abschalteinrichtungunter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres (nicht eingeschaltet bzw) inaktiv ist.

[37] Die Zweitbeklagte hat diese (Negativ-)Feststellung zwar bekämpft; das Berufungsgericht hat jedochdie in der Berufungsbeantwortung enthaltene Tatsachenrüge der Zweitbeklagten behandelt und als nicht berechtigt erkannt.

[38] Die getroffene (Negativ-)Feststellung besagt nun weder, dass diese Abschalteinrichtung während der überwiegenden Zeit des Jahres inaktiv ist, noch das Gegenteil, dass sie über die überwiegende Zeit des Jahres aktiv ist. Sie drückt – was angesichts des Umstands nachvollziehbar ist, dass der Bereich des Thermofensters, in dem die volle Abgasrückführung stattfindet, noch nicht feststeht und nach dem Vorbringen der Parteien zwischen -10 Grad Celsius und + 11 Grad Celsius als unterste Temperatur und + 30 Grad Celsius und + 40 Grad Celsius als oberste Temperatur liegen könnten – nur die Unsicherheit aus, dass die (für die Beklagte relevante) Tatsache nicht mit ausreichender Sicherheit erweislich war. Dies geht nach der zuvor aufgezeigten Beweislast zur Ausnahme vom Verbot zu Lasten der dafür beweispflichtigen (und wohl über den vollen Kenntnisstand hinsichtlich der Wirkungsweise ihrer Abschalteinrichtung verfügenden) Herstellerin.

[39] Es ist daher bereits im derzeitigen Verfahrensstadium vom Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen. Dies und die Frage, ob die Beklagte objektiv rechtswidrig gehandelt hat, sind abschließend erledigte Streitpunkte, die auch aufgrund neuer Tatsachen nicht mehr in Zweifel gezogen werden können (RS0042031).

[40] II.2.7. Dennoch ist das Verfahren ergänzungsbedürftig:

II.2.7.1. Eine Haftung wegen einer Schutzgesetzverletzung setzt nämlich ein „Verschulden“ im Sinn (zumindest) einer vorzuwerfenden Sorgfaltswidrigkeit voraus (RS0026351), wobei es aber zu einer Beweislastumkehr kommt (RS0026351 [T7]): Der Schädiger hat nachzuweisen, dass ihn an der Übertretung kein „Verschulden“ trifft (RS0112234 [T1]; RS0026351 [T1]). Allfällige Negativfeststellungen gehen daher zu seinen Lasten (10 Ob 27/23b [Rz 32]).

[41] Damit bedarf es an erster Stelle einer Erörterung mit der Zweitbeklagten zu ihrer Behauptung, sie habe aufgrund einer vertretbaren Rechtsauffassung gehandelt.

[42] Ein Rechtsirrtum ist nach der Rechtsprechung dann nicht vorwerfbar, wenn eine Behörde demselben Rechtsirrtum unterlag und die Beteiligten auf Richtigkeit dieser Entscheidung vertrauen durften (RS0008651 [T9]). Im gegebenen Zusammenhang wäre überdies erforderlich, dass der relevante Sachverhalt (hier: die konkrete Abschalteinrichtung) der Behörde – aus der Sicht der Zweitbeklagten – bekannt war (vgl 2 Ob 152/21y [Rz 57]), und zwar ungeachtet allfälliger Offenlegungspflichten vor ihrer Entscheidung, weil nur dann ein schutzwürdiges Vertrauen auf die Richtigkeit ihrer Entscheidung bestehen kann (vgl 10 Ob 27/23b [Rz 34]).

[43] Die Zweitbeklagte brachte nur vor, die zuständige Behörde habe „die Temperaturabhängigkeit der AGR-Steuerung gekannt und genehmigt“. Die bisherigen Behauptungen der Zweitbeklagten lassen daher nicht ausreichend erkennen, in Kenntnis welcher Fakten die zuständige Typengenehmigungsbehörde – allenfalls rechtsirrig – welche vorhandene Einrichtung konkret gebilligt haben und ob die Zweitbeklagte einem der Rechtsansicht der Behörde entsprechenden Rechtsirrtum unterlegen sein soll. Sie wird ihr in erster Instanz vage und pauschal gebliebenes Vorbringen und Beweisanbot dahin zu konkretisieren haben, zu welchem Zeitpunkt (bis zum Inverkehrbringen des gegenständlichen Fahrzeugs und in Bezug auf das Software-Update) aufgrund welcher konkreten Prüfschritte und/oder Ereignisse welche ihr zurechenbare Person legitimerweise darauf hätte vertrauen dürfen und auch konkret darauf vertraut habe, dass und warum die konkrete verbaute Abschalteinrichtung nach den unionsrechtlichen Normen ausnahmsweise zulässig gewesen wäre (eingehend 10 Ob 27/23b [Rz 34 ff]; 6 Ob 155/22w [Rz 71 ff]), und es wären entsprechende Feststellungen nachzutragen (vgl auch 4 Ob 171/23k [Rz 42]).

[44] Ließe sich das Vorliegen eines entschuldbaren Rechtsirrtums zur nach dem Software-Update verbliebenen Abschalteinrichtung nicht erweisen, wäre (nach dem derzeitigen Verfahrensstand) dem ersten Eventualbegehren – unter Anrechnung des linear zu berechnenden Benutzungsentgelts auf Basis der (zu ermittelnden) aktuellen Kilometerlaufleistung im Rahmen des Vorteilsausgleichs – stattzugeben (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 [Rz 38 f]).

[45] II.2.7.2. Wäre Ergebnis des fortgesetzten Verfahrens, dass die Zweitbeklagte einem entschuldbaren Rechtsirrtum hinsichtlich der nach dem Software-Update verbliebenen Abschalteinrichtung bei der Abgasrückführung unterlägen wäre, bedürfte es einer umfangreicheren Verfahrensergänzung.

[46] Der Kläger hat sein Begehren nämlich nicht nur auf diese nach dem Software-Update verbliebene unzulässige Abschalteinrichtung bei der Abgasrückführung gestützt, sondern das Vorhandensein von mehreren und zudem arglistig eingebauten („ursprünglichen“) Abschalteinrichtungen („Manipulationssoftware“) bei Auslieferung behauptet. Soweit er dazu in der Revision über weite Strecken von der (erst zu beweisenden) Richtigkeit seines Vorbringens ausgeht, ist er an die zuvor dargestellte Verteilung der Behauptungs- und (vor allem die ihn treffende) Beweislast zu erinnern. Er wird demgemäß (zum Auslieferungszustand allenfalls unter Mitwirkung des Gegners nach § 184 ZPO) sein Vorbringen zum Vorwurf des Vorliegens einer Abschalteinrichtung im Zusammenhang mit der Abgasnachbehandlung zu konkretisieren haben. Es wird von ihm zudem klarzustellen sein, vom Vorhandensein welcher Abschalteinrichtung(en) als ursprünglich eingebaut und/oder noch immer bestehend er konkret in welcher Gestalt und/oder Wirkungsweise ausgeht, was sich bisher nicht ausreichend klar nachvollziehen lässt. Deren Vorliegen wird er – bis zur Grenze des Nachweises einer Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG unterliegenden Abschalteinrichtung – auch zu belegen haben. Ausgenommen davon ist nur die nach dem Software‑Update verbliebene Abschalteinrichtung bei der Abgasrückführung, deren Unzulässigkeit – wie zuvor dargelegt (ErwGr II.2.6.) – abschließend erledigter Streitpunkt ist.

[47] Eine Beurteilung dahin, ob und welche ursprünglich unzulässige(n) Abschalteinrichtung(en) („Manipulationssoftware“) vorlag(en) und in welchem Umfang diese abseits des bereits geklärten Thermofensters bei der Abgasrückführung nach dem Software-Update vorlagen und immer noch vorliegen, kann derzeit auf Basis der (bisher) getroffenen Feststellungen (noch) nicht vorgenommen werden. So hat schon das Berufungsgericht (zur Abgasnachbehandlung) zu Recht darauf verwiesen, dass Feststellungen dazu fehlen, „aufgrund welcher Umstände – also aufgrund ermittelter Parameter oder auf anderer Grundlage“ – eine Einflussnahme auf die Wirkungsweise des Emissionskontrollsystems erfolgt. Sollte vom Erstgericht gemeint gewesen sein, dass die Wirksamkeit der Abgasnachbehandlung über die Einspritzung von Harnstoffmittel im konkreten Fahrzeug nur davon abhängt, ob es sich auf dem Prüfstand befindet, sie daher im Realbetrieb (regelmäßig) verringert wird (also eine „Umschaltlogik“ hinsichtlich der Abgasnachbehandlung vorläge), wäre dies klarzustellen, insbesondere aber auch, ob sich diese Feststellung auf den Zustand vor oder nach dem Software-Update bezieht.

[48] Gelänge dem Kläger der Nachweis eines ursprünglich verbauten engeren Thermofensters (als des mit  ‑10 Grad Celsius bis +40 Grad Celsius von der Zweitbeklagten eingeräumten) und wäre dazu nicht nur von einer objektiven Schutzgesetzverletzung, sondern auch von deren Vorwerfbarkeit (oder von Arglist) auszugehen, entfiele die Haftung der Zweitbeklagten nicht wegen eines entschuldbaren Rechtsirrtums in Bezug auf die seit dem Software-Update wirksame Abschalteinrichtung bei der Abgasrückführung. Dann wäre ihr Versuch der Schadensbeseitigung durch das Software‑Update fehlgeschlagen und dabei unbeachtlich, ob dieser Versuch verschuldet oder unverschuldet fehlgeschlagen ist (6 Ob 84/23f [Rz 32 f]; 6 Ob 149/23i [Rz 16]).

[49] Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren diese Fragen sowie die Beweislast mit den Parteien zu erörtern und sein Beweisverfahren und seine Feststellungen in diesem Sinne zu ergänzen und klarzustellen haben.

[50] II.2.8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.

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