European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:009OBA00038.23P.0214.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Arbeitsrecht
Spruch:
Der Oberste Gerichtshof stellt gemäß Art 89 Abs 2 B‑VG (Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B‑VG) an den Verfassungsgerichtshof den
Antrag,
1. § 1159 Abs 1 bis Abs 4 ABGB idF BGBl I 2017/153,
hilfsweise:
2. § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153,
hilfsweise:
3. § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153
als verfassungswidrig aufzuheben.
4. Gemäß § 62 Abs 3 VfGG wird mit der Fortführung des Revisionsverfahrens bis zur Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs inne gehalten.
Begründung:
I. Bisheriges Verfahren:
[1] Der Kläger war bei der Beklagten seit 20. 5. 2021 als Kellner mit einem Lohn von 1.575 EUR brutto monatlich vollzeitbeschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis gelangt der Kollektivvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe (KV) zur Anwendung. Das Arbeitsverhältnis wurde vom Arbeitgeber am 5. 10. 2021 zum 21. 10. 2021 aufgekündigt.
[2] Der Kläger begehrt die Zahlung von 10.420,99 EUR brutto. Darin enthalten sind – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – Ansprüche auf Kündigungsentschädigung für den Zeitraum vom 9. 11. 2021 bis 31. 12. 2021 in Höhe von 2.730,01 EUR brutto (ohne Überstundendurchschnitt), Urlaubsersatzleistung in Höhe von 849,67 EUR brutto (ohne Überstundendurchschnitt) und Jahresremuneration in Höhe von 1.950,40 EUR brutto. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses sei fristwidrig erfolgt. Die Beklagte betreibe keinen „Saisonbetrieb“, weshalb die gesetzliche Kündigungsfrist des § 1159 Abs 2 ABGB zur Anwendung gelange.
[3] Die Beklagte wandte dagegen im Wesentlichen ein, dass die Kündigung unter Einhaltung der gemäß Pkt 21 lit a des anzuwendenden Kollektivvertrags vorgesehenen Frist von 14 Tagen zulässig erfolgt sei.
[4] Das Erstgericht sprach dem Kläger 8.960,77 EUR brutto sA zu. Das Mehrbegehren von 1.460,22 EUR brutto sA wies es unangefochten ab. Mangels entsprechenden Vorbringens der qualifiziert vertretenen Parteien sei davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt der Kündigung des Klägers die Kollektivvertragsparteien keine Einigung darüber erzielt hätten, dass es sich bei den Betrieben im Bereich der Hotellerie und Gastronomie um Saisonbetriebe im Sinn des § 53 Abs 6 ArbVG handle. Daher sei keine kollektivvertragliche Abweichung von § 1159 ABGB vorgelegen, weshalb die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers nach § 1159 Abs 2 ABGB nur zum 31. 12. 2021 auflösen konnte.
[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge. Es bestätigte – soweit hier von Bedeutung – das Urteil des Erstgerichts mit Teilurteil im Umfang des Zuspruchs von 5.530,08 EUR brutto sA. Das Berufungsgericht billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers durch die Beklagte frühestens zum 31. 12. 2021 zulässig gewesen wäre. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[6] Gegen das Teilurteil des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens im Umfang von 5.530,08 EUR brutto anstrebt.
[7] In der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt der Kläger die Zurück‑, hilfsweise die Abweisung der Revision.
[8] Die Revision ist zulässig.
Rechtliche Beurteilung
[9] Der Kläger stützt seine im Revisionsverfahren zu behandelnden Ansprüche auf § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB idF BGBl I 2017/153.
[10] Die Beklagte hält hingegen auch in der Revision daran fest, dass Pkt 21 lit a KV anwendbar sei. Diese Bestimmung gelte gemäß § 11 Abs 1 ArbVG und widerspreche § 1159 Abs 2 ABGB. Inhaltlich beruft sich die Beklagte damit auch in der Revision auf die Anwendbarkeit der Ausnahmebestimmung des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153. Sie zeigt damit im Ergebnis eine erhebliche Rechtsfrage auf, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu dieser Bestimmung und insbesondere auch zur Frage, wer den Nachweis für das Vorliegen der in § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB genannten Voraussetzungen zu erbringen hat, fehlt.
[11] Es bestehen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen des § 1159 Abs 1 bis Abs 4 ABGB idF BGBl I 2017/153, allenfalls gegen die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen des § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153, allenfalls gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153 für sich allein gesehen.
II.1 Gesetzliche Grundlagen:
[12] 1. § 1159 ABGB idF BGBl I 2017/153 lautet:
„§ 1159. (1) Ist das Dienstverhältnis ohne Zeitbestimmung eingegangen oder fortgesetzt worden, so kann es durch Kündigung nach folgenden Bestimmungen gelöst werden.
(2) Mangels einer für den Dienstnehmer günstigeren Vereinbarung kann der Dienstgeber das Dienstverhältnis mit Ablauf eines jeden Kalendervierteljahres durch vorgängige Kündigung lösen. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen und erhöht sich nach dem vollendeten zweiten Dienstjahr auf zwei Monate, nach dem vollendeten fünften Dienstjahr auf drei, nach dem vollendeten fünfzehnten Dienstjahr auf vier und nach dem vollendeten fünfundzwanzigsten Dienstjahr auf fünf Monate. Durch Kollektivvertrag können für Branchen, in denen Saisonbetriebe im Sinne des § 53 Abs. 6 des Arbeitsverfassungsgesetzes BGBl. Nr. 22/1974, überwiegen, abweichende Regelungen festgelegt werden.
(3) Die Kündigungsfrist kann durch Vereinbarung nicht unter die im Absatz 2 bestimmte Dauer herabgesetzt werden; jedoch kann vereinbart werden, dass die Kündigungsfrist am Fünfzehnten oder am Letzten des Kalendermonats endigt.
(4) Mangels einer für ihn günstigeren Vereinbarung kann der Dienstnehmer das Dienstverhältnis mit dem letzten Tage eines Kalendermonats unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist lösen. Diese Kündigungsfrist kann durch Vereinbarung bis zu einem halben Jahr ausgedehnt werden; doch darf die vom Dienstgeber einzuhaltende Frist nicht kürzer sein als die mit dem Dienstnehmer vereinbarte Kündigungsfrist. Durch Kollektivvertrag können für Branchen, in denen Saisonbetriebe im Sinne des § 53 Abs. 6 des Arbeitsverfassungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1974 überwiegen, abweichende Regelungen festgelegt werden.
(5) Ist das Dienstverhältnis nur für die Zeit eines vorübergehenden Bedarfes vereinbart, so kann es während des ersten Monats von beiden Teilen jederzeit unter Einhaltung einer einwöchigen Kündigungsfrist gelöst werden.“
[13] 2. § 1159 ABGB trat (nach Verschiebungen) schließlich mit 1. 10. 2021 in Kraft (§ 1503 Abs 19 ABGB idF BGBl 2021/121) und ist auf Beendigungen anzuwenden, die – wie hier – nach dem 30. 9. 2021 ausgesprochen wurden.
[14] § 53 Abs 6 ArbVG lautet:
„(6) Als Saisonbetriebe gelten Betriebe, die ihrer Art nach nur zu bestimmten Jahreszeiten arbeiten oder die regelmäßig zu gewissen Zeiten des Jahres erheblich verstärkt arbeiten.“
II.2 Kollektivvertragliche Grundlagen:
[15] § 21a des (Rahmen‑)Kollektivvertrags für Arbeiterinnen und Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe abgeschlossen zwischen dem Fachverband Gastronomie und dem Fachverband Hotellerie und der Gewerkschaft vida (in der ab 1. 5. 2019 geltenden Fassung) lautet:
„21. Lösung des Arbeitsverhältnisses
a. Das unbefristete Arbeitsverhältnis kann in den ersten 14 Tagen, die als Probezeit gelten, ohne vorherige Kündigung gelöst werden. Nach Ablauf dieser Zeit kann das unbefristete Arbeitsverhältnis nur nach vorheriger 14 tägiger Kündigung gelöst werden.“
III. Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken:
1. Legalitätsprinzip:
[16] 1.1 Nach Art 18 Abs 1 B‑VG darf die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden. Mit dieser Bestimmung wird der Grundsatz der Gesetzesbindung, das Legalitätsprinzip effektuiert: Das Gesetz ist demnach sowohl Voraussetzung (Vorbehalt des Gesetzes) wie auch Schranke (Vorrang des Gesetzes) der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit (Grabenwarter/Frank, B‑VG [Stand 20. 6. 2020, rdb.at] Art 18 Rz 2).
[17] 1.2 Das Gesetz muss das Verhalten der Behörden – und auch der Gerichte (VfGH G 70/89) – ausreichend vorherbestimmen (VfGH G 178/2019) und bereits die wesentlichen Voraussetzungen und Inhalte des behördlichen Handelns so umschreiben, dass die Übereinstimmung des behördlichen Handelns mit dem Gesetz überprüft werden bzw der Rechtsunterworfene das behördliche Vorgehen vorhersehen kann (vgl Kneihs in Kneihs/Lienbacher, Rill‑Schäffer‑Kommentar Bundesverfassungsrecht, Art 18 B‑VG Rz 54).
[18] 1.3 Angesichts der unterschiedlichen Lebensgebiete, Sachverhalte und Rechtsfolgen, die Gegenstand und Inhalt gesetzlicher und verordnungsrechtlicher Regelungen sein können, ist ganz allgemein davon auszugehen, dass Art 18 B‑VG einen dem jeweiligen Regelungsgegenstand adäquaten Determinierungsgrad verlangt („differenziertes Legalitätsprinzip“, VfGH G 179/2019 mwN), wobei bei der Ermittlung des Inhalts des Gesetzes alle zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden auszuschöpfen sind (VfGH G 146/2019 mwN). Entscheidend ist daher, ob der Anordnungsgehalt einer Regelung unter Heranziehung aller Auslegungsmethoden geklärt werden kann (VfGH G 590/2023 ua).
[19] 1.4 Hervorzuheben ist weiters, dass nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ein gesetzlich vorgesehener Anspruch durchsetzbar sein muss (VfGH KI‑9/94). Besonders schwer verständliche Regelungen widerstreiten dem Rechtsstaatsprinzip (VfGH G 81/90 ua; G 392/96 ua; G 119/03 zu § 22 FremdenG 1997). Ob eine Vorschrift die erforderliche Bestimmtheit aufweist, hängt auch von den mit ihr verbundenen Folgen ab (VfGH G 20/94 ua).
[20] 1.5 Mit der Auslegung des § 1159 ABGB idF BGBl I 2017/153 im Verhältnis zu Pkt 21 lit a KV hatte sich der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungen 9 ObA 116/21f und 9 ObA 137/21v, die jeweils in Verfahren gemäß § 54 Abs 2 ASGG ergingen, auseinanderzusetzen. Ausgeführt wurde, dass die ursprünglich angestrebte Harmonisierung der Kündigungsfristen und -termine von Arbeitern und Angestellten nach dem gesetzlichen Modell nicht durchgehend verwirklicht ist, sondern mit § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB im Sinn einer Ermächtigung der Kollektivvertragspartner kollektivvertragliche Abweichungen vom gesetzlichen Regelmodell ermöglicht wurden, sodass für Branchen, in denen Saisonbetriebe im Sinn des § 53 Abs 6 ArbVG überwiegen, auch kürzere Kündigungsfristen bestehen können. Durch diese soll eine relativ kurzfristige Anpassung des Personalstands ermöglicht werden, wenn und weil (insbesondere witterungsbedingt) branchenspezifisch keine exakt voraussehbare Personalplanung erfolgen kann und auch Befristungsvereinbarungen nicht in jedem Fall ausreichen. Weiters wurde ausgeführt, dass eine bereits vor Inkrafttreten des § 1159 ABGB idF BGBl I 2017/153 geschaffene kollektivvertragliche Regelung – wie Pkt 21 lit a KV – auch nach Inkrafttreten dieses Gesetzes weiter Bestand hat, sofern und soweit mit ihr die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt werden. Die gesetzliche Regelungsermächtigung gilt aber nur unter der Voraussetzung, dass der Kollektivvertrag die Regelung für eine „Branche“ festgelegt hat, in der „Saisonbetriebe“ (§ 53 Abs 6 ArbVG iVm § 1159 Abs 2 und Abs 4 jeweils Satz 3 ABGB) überwiegen. Ist dies der Fall, werden auch Betriebe der Branche, die keine Saisonbetriebe sind, von der Regelungsbefugnis der Kollektivvertragspartner umfasst. Wie weiters ausgeführt wurde, können die Kollektivvertragsparteien das Überwiegen von Saisonbetrieben zwar deklarativ festhalten, jedoch nicht normativ festlegen, weil dieser Umstand tatbestandliche Voraussetzung für ihre Regelungsbefugnis ist. Letztlich gelangte der Oberste Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der für die Geltung der gesetzlichen Regelungsermächtigung erforderliche Nachweis des (quantitativen) „Überwiegens“ der Saisonbetriebe den jeweiligen Antragstellern dieser beiden Verfahren – trotz Vorlage umfangreichen Datenmaterials – nicht gelungen sei. Ein individueller Anspruch eines Arbeitnehmers, wie er im vorliegenden Verfahren geltend gemacht wird, war nicht zu beurteilen.
[21] 1.6 Der Oberste Gerichtshof geht vor dem Hintergrund des nunmehrigen Verfahrens aus folgenden Gründen von einem Verstoß der angefochtenen Norm(en) gegen das Rechtsstaatsprinzip aus:
[22] 1.6.1 Der Gesetzgeber normiert in § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB Fristen und Termine für die Arbeitgeberkündigung. Die sich daraus für den Dienstnehmer ergebenden Rechte dürfen nicht – weder durch Dienstvertrag oder durch Kollektivvertrag – aufgehoben oder beschränkt werden (§ 1164 Abs 1 ABGB). In § 1159 Abs 4 Satz 1 ABGB sind Fristen und Termine für die Arbeitnehmerkündigung vorgesehen. Grundsätzlich sind (jeweils) nur für den Arbeitnehmer günstigere Vereinbarungen zulässig (§ 1159 Abs 2 Satz 1, Abs 3 und Abs 4 Satz 2 ABGB).
[23] 1.6.2 Mit den (Ausnahme‑)Bestimmungen des § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB ermächtigt der Gesetzgeber die Kollektivvertragsparteien für bestimmte Branchen abweichende Regelungen zu treffen. Die gesetzliche Ermächtigung reicht aber nur soweit, als es um Branchen geht, in denen Saisonbetriebe im Sinn des § 53 Abs 6 ArbVG überwiegen. Allen anderen Branchen, in denen Saisonbetriebe nicht überwiegen, wurde mit der Neuregelung die Grundlage zur kollektivvertraglichen Regelungsbefugnis abweichend vom gesetzlichen Regelungsmodell entzogen.
[24] 1.6.3 Die Voraussetzungen, unter denen die Übertragung der Regelungsbefugnis des § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB wirksam wird, sind von der Auslegung unbestimmter Begriffe abhängig („Überwiegen von Saisonbetrieben“). Selbst bei Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Auslegungsmöglichkeiten und Heranziehung aller Interpretationsmethoden kann aber der Anordnungsgehalt der Regelung nicht beurteilt werden, weil es sich bei diesem Umstand um eine tatbestandliche Voraussetzung für die Regelungsbefugnis der Kollektivvertragsparteien handelt. Auch dass § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB für „Saisonbetriebe“ auf die Legaldefinition des § 53 ArbVG verweist, schafft keine Klarheit, weil die dort verwendeten Begriffe in gleicher Weise an weitere (unbestimmte) tatbestandliche Voraussetzungen anknüpfen („Als Saisonbetriebe gelten Betriebe, die ihrer Art nach nur zu bestimmten Jahreszeiten arbeiten oder die regelmäßig zu gewissen Zeiten des Jahres erheblich verstärkt arbeiten“, Hervorhebungen durch den Senat). Zum Nachweis der Geltung der kollektivvertraglichen Abweichung vom gesetzlichen Regelungsmodell bedarf es somit vorerst der Erhebung und Auswertung des entsprechenden Datenmaterials. Dabei wird eine lediglich punktuelle Betrachtungsweise (etwa bezogen auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Kollektivvertrags) nicht genügen, weil das „Überwiegen von Saisonbetrieben“ eine gewisse längere zeitliche Dimension erfordert. Diese Voraussetzungen können sich zudem jederzeit – und für die Rechtsunterworfenen in nicht vorhersehbarer Weise – ändern, wie etwa durch die Schließung oder Neueröffnung von „Saisonbetrieben“ einer „Branche“. Hängt aber die Übertragung der Regelungsbefugnis an die Kollektivvertragsparteien vom Vorliegen bestimmter Sachverhaltselemente ab, deren Vorliegen sich ständig ändern kann und deren Voraussetzungen – wie sich aus den Ergebnissen der Verfahren 9 ObA 116/21f und 9 ObA 137/21v ergibt – auch anhand des von den zuständigen Fachverbänden vorgelegten umfangreichen Datenmaterials nicht erweislich waren, so wird den Parteien des Arbeitsvertrags die Möglichkeit genommen, die Rechtmäßigkeit des Ausspruchs einer Arbeitgeberkündigung (im Anwendungsbereich des § 1159 Abs 4 ABGB: einer Arbeitnehmerkündigung) in Bezug auf die einzuhaltende Kündigungsfrist und den Kündigungstermin zu überprüfen und ausgehend davon allfällige Ansprüche gerichtlich durchzusetzen.
[25] 1.6.4 Aus diesen Gründen bleibt in – nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs – verfassungswidriger Weise für die Parteien des Arbeitsvertrags im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsvertrags zweifelhaft, ob für die Auflösung eines Arbeitsvertrags die gesetzlichen Regelungen oder jene eines Kollektivvertrags heranzuziehen sind. Die Folge der fehlenden Determiniertheit der angefochtenen Bestimmungen ist, dass allfällige im Zusammenhang mit der Beendigung eines Arbeitsvertrags entstehende gesetzliche Ansprüche (wie etwa jener auf Kündigungsentschädigung) im Widerspruch zu dem sich aus Art 18 B‑VG ergebenden Rechtsstaatsgebot als nicht durchsetzbar anzusehen sind.
2. Gleichheitsgrundsatz:
[26] 2.1 Der in Art 2 StGG und Art 7 Abs 1 B‑VG verankerte Gleichheitsgrundsatz verpflichtet den Gesetzgeber, an gleiche Tatbestände gleiche Rechtsfolgen zu knüpfen, aber andererseits bei entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen auch unterschiedliche Regelungen vorzusehen (RS0053509; zur verfassungsrechtlichen Judikatur etwa Muzak, B‑VG6 [Stand 1. 10. 2020, rdb.at] Art 2 StGG Rz 21 ff). Der dem Gesetzgeber grundsätzlich zustehende Gestaltungsspielraum wird durch das Gleichheitsgebot nur insofern beschränkt, als es ihm verwehrt ist, Regelungen zu treffen, für die eine sachliche Rechtfertigung nicht besteht (vgl RS0053889 [T15]).
[27] 2.2 Mit dem Wortlaut der angefochtenen Bestimmung(en) ist darauf abzustellen, dass die gesetzliche Regelungsermächtigung nur gilt, wenn in der Branche „Saisonbetriebe“ überwiegen, in diesem Fall also auch jene Betriebe der Branche von der Regelungsbefugnis der Kollektivvertragspartner umfasst sind, die keine Saisonbetriebe sind. Können aber Betriebe die Ausnahmeregelung für sich in Anspruch nehmen, bei denen das Belastungsargument mangels Saisonabhängigkeit gar nicht greift, so ist für diese generalisierende Betrachtung keine sachliche Rechtfertigung zu erkennen. Einerseits fehlt es Betrieben, die keine „Saisonbetriebe“ sind an jener „typischen“ saisonal unterschiedlichen Auslastung, die eine raschere Auflösung von Arbeitsverhältnissen als im Interesse beider Arbeitsvertragsparteien gelegen erscheinen lassen. Andererseits ist nicht zu erkennen, aus welchen Gründen Betriebe, die keine „Saisonbetriebe“ sind, nur deshalb, weil sie einer „Branche“ angehören, in der „Saisonbetriebe im Sinn des § 53 Abs 6 ArbVG“ „überwiegen“, einem anderen Regime der Kündigungsfristen und -termine unterliegen, als solche Betriebe, die keiner vergleichbaren „Branche“ angehören.
[28] 2.3 Der Oberste Gerichtshof verkennt nicht, dass nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs Regelungen, die als Resultat von Verhandlungen zwischen Interessenvertretungen, die einander widerstreitende Interessen zu vertreten haben zustande kommen, Ausdruck eines erzielten Interessenausgleichs sind und damit die Vermutung der Sachlichkeit für sich haben (VfGH B 334/06 mwH). Der Gleichheitsgrundsatz setzt dem Gesetzgeber jedoch wie ausgeführt insofern inhaltliche Schranken, als er verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen (VfGH G 207/2018 mwH). Zudem lässt sich nicht (bzw wenn überhaupt nur nach Erhebung des entsprechenden Datenmaterials und jeweils nur bezogen auf einen bestimmten Zeitraum) bestimmen, ob die Voraussetzungen für die Ausnahmeregelung des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB (und ebenso § 1159 Abs 4 Satz 3) erfüllt sind, sodass auch dieser Umstand ihre Sachlichkeit gemäß Art 7 B‑VG in Frage stellt.
IV. Präjudizialität und Anfechtungsumfang:
[29] 1. Ein Gesetzesprüfungsverfahren dient der Herstellung einer verfassungsrechtlich einwandfreien Rechtsgrundlage für das Anlassverfahren. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mitder aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden (VfGH G 146/2019). Im Gesetzesprüfungsverfahren darf deshalb der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrags nicht zu eng gewählt werden (vgl VfGH G 311/2016 mwN). Das antragstellende Gericht hat all jene Normen anzufechten, die für seine Entscheidung präjudiziell sind und vor dem Hintergrund der Bedenken für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofs, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des antragstellenden Gerichts teilen – beseitigt werden kann. Der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Gesetzesstelle darf nicht als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar werden (VfGH G 146/2019; G 179/2019 mwN). Unzulässig ist der Antrag darüber hinaus auch dann, wenn durch die Aufhebung bloßer Teile eines Gesetzes oder einer Verordnung diesem bzw dieser ein völlig veränderter, dem Verordnungsgeber bzw Gesetzgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (vgl VfGH G 168/2023 Pkt 2.1.1 mwH).
[30] 2. Die auf Art 18 und Art 7 B‑VG gegründeten Bedenken des Obersten Gerichtshofs richten sich gegen die Verfassungskonformität des § 1159 Abs 1 bis Abs 4 ABGB, sodass der Hauptantrag in Richtung der Aufhebung dieser Bestimmungen zu stellen ist:
[31] Für ohne Zeitbestimmung eingegangene und fortgesetzte Dienstverhältnisse verfolgte der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 1159 Abs 1 bis Abs 4 ABGB idF BGBl I 2017/153 die Absicht, die bislang für Arbeiter geltenden Kündigungsbestimmungen des ABGB und der GewO 1859 mit den Rechten der Angestellten zu harmonisieren und an diese anzupassen. In diesem Sinn sollten auch für Arbeiter die bislang für Angestellte geltenden Kündigungsbestimmungen Anwendung finden (IA 2306/A, 25. GP 8). Dem Umstand, dass in bestimmten Branchen die Abwägung durch die beteiligten Kreise in Bezug auf die Kündigungstermine und Kündigungsfristen zu einem anderen Ergebnis führen könnte, hat der Gesetzgeber durch die (als Ausnahmeregelung anzusehende) Ermächtigung der Kollektivvertragspartner in § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153 Rechnung getragen. In § 1159 Abs 3 ABGB idF BGBl I 2017/153 wird festgelegt, dass die Kündigungsfrist durch Vereinbarung nicht unter die im Abs 2 bestimmte Dauer herabgesetzt werden kann.
[32] 3.1 Die Ausnahmebestimmung des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153 ist im vorliegenden Fall (unmittelbar) präjudiziell, weil von der Anwendung dieser Bestimmung die Berechtigung der im Revisionsverfahren zu behandelnden Ansprüche des Klägers abhängt. Mit dieser Regelung in untrennbarem Zusammenhang steht die „parallele“ Ausnahmebestimmung des § 1159 Abs 4 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153. Durch die Aufhebung nur dieser beiden Teile des § 1159 ABGB könnte § 1159 ABGB möglicherweise aber ein völlig veränderter, dem Gesetzgeber nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben werden, indem die für bestimmte Branchen geschaffene Ausnahmeregelung wegfiele. Erläuterungen in Gesetzesmaterialien bestehen dazu nicht (2306/A 25. GP 8; AA‑243 25. GP und 1698/A 27. GP 2). Dies zu beurteilen muss daher der Kognitionsbefugnis des Verfassungsgerichtshofs überlassen bleiben. Der Hauptantrag ist demnach auf die Anfechtung der Regelungen des § 1159 Abs 1, Abs 2, Abs 3 und Abs 4 ABGB (insgesamt) gerichtet.
[33] 3.2 Hilfsweise war der erste Eventualantrag in Richtung der Aufhebung des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153 sowie der damit in einem untrennbaren Regelungszusammenhang stehenden Bestimmung des § 1159 Abs 4 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153 zu stellen. Beide Bestimmungen regeln den „Ausnahmebereich“ von den gesetzlichen Kündigungsregelungen des § 1159 ABGB in identer Weise, sodass die behauptete Verfassungswidrigkeit nur durch Aufhebung beider Bestimmungen beseitigbar ist. Bei Wegfall dieser Ausnahmeregelungen können die verbleibenden gesetzlichen Regelungen in § 1159 Abs 1 bis Abs 4 ABGB sprachlich und nach ihrem Regelungsinhalt weiter bestehen bleiben, sofern dies dem Gesetzgeber zusinnbar sein sollte.
[34] 3.3 Allerdings könnte infolge der hier bestehenden (unmittelbaren) Präjudizialität nur des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB auch davon ausgegangen werden, dass diese Bestimmung von § 1159 Abs 4 Satz 3 ABGB doch trennbar ist (siehe VfGH V 19/2017), weshalb hilfsweise § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153 allein anzufechten ist.
V. Anträge:
[35] Der Oberste Gerichtshof stellt daher an den Verfassungsgerichtshof die Prüfungsanträge in Bezug auf § 1159 Abs 1 bis Abs 4 ABGB idF BGBl I 2017/153, hilfsweise in Bezug auf § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153, hilfsweise in Bezug auf § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB idF BGBl I 2017/153.
[36] VI. Die Anordnung der Innehaltung des Verfahrens beruht auf § 62 Abs 3 VfGG.
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