European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0100OB00018.22B.0913.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie unter Einschluss des bestätigten Ausspruchs insgesamt zu lauten haben:
„1. Dem Kind wird von 1. September 2020 bis 28. Februar 2021 gemäß § 7 1. COVID-19-JuBG iVm § 3 UVG ein monatlicher Unterhaltsvorschuss von 170 EUR, jedoch höchstens in der Höhe des jeweiligen Richtsatzes für pensionsberechtigte Halbwaisen gemäß § 293 Abs 1 Buchstabe c bb erster Fall, § 108f ASVG gewährt.
Der Präsident des Oberlandesgerichts Linz wird um Auszahlung der Vorschüsse an die Mutter als Zahlungsempfängerin ersucht.
Dem Unterhaltsschuldner wird aufgetragen, alle Unterhaltsbeträge an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger als gesetzlichen Vertreter des Kindes zu zahlen, ansonsten ihnen keine schuldbefreiende Wirkung zukommt.
Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger wird ersucht, die bevorschussten Unterhaltsbeiträge einzutreiben und soweit eingebracht, monatlich dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz zu überweisen.
2. Der Antrag vom 4. Februar 2021 auf Weitergewährung der Vorschüsse über den 28. Februar 2021 hinaus wird abgewiesen.“
Begründung:
[1] Das Kind ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Iran (künftig: Iran). Seine Eltern sind ebenfalls iranische Staatsangehörige und leben getrennt; das Kind lebt im Haushalt der Mutter. Aufgrund der Unterhaltsvereinbarung vom 5. Oktober 2020 (ON 9) ist der Vater zu Unterhaltsleistungen von monatlich 170 EUR an das Kind verpflichtet.
[2] Dem Vater wurde mit Bescheid vom 24. Februar 2016 Asyl gewährt. Mit Bescheiden vom 5. Oktober 2017 wurden der Mutter und dem Kind, die beide am 16. September 2017 nach Österreich einreisten, der Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 5 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 als Familienangehörige (des Vaters) zuerkannt. Eigene Fluchtgründe brachten sie nicht vor.
[3] Mit (in der Folge eingeschränktem) Antrag vom 11. September 2020 begehrte das Kind die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß § 7 1. COVID-19-JuBG in Titelhöhe von 170 EUR (ON 6).
[4] Mit Beschluss vom 11. Dezember 2020 (ON 14) gewährte das Erstgericht dem Kind Unterhaltsvorschüsse in Höhe von 170 EUR monatlich gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG (iVm § 7 1. COVID-19-JuBG) für den Zeitraum von 1. September 2020 bis 28. Februar 2021. Sowohl dem Kind als auch seinem Vater sei in Österreich Asyl zuerkannt worden. Zwar lägen keine eigenen Fluchtgründe des Kindes vor, allerdings sei der Vater im Iran politisch verfolgt worden. Rückkehrer in den Iran, die – wie der Vater – im Ausland zum Christentum konvertiert seien, und ihren Glauben offen auslebten, würden Repressalien wie Verhaftung, Folter und die Beschneidung wirtschaftlicher Rechte drohen. Würde der Vater in den Iran zurückkehren, wäre er neben seiner Apostasie auch wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Minderheit und seiner damit in Zusammenhang stehenden politischen Tätigkeiten gefährdet.
[5] Am 4. Februar 2021 (ON 25) beantragte das Kind die Weitergewährung der mit Beschluss vom 11. Dezember 2020 gewährten Unterhaltsvorschüsse nach §§ 3, 4 Z 1, 18 UVG.
[6] Mit Beschluss vom 14. April 2021 (ON 26) hob das vom Bund angerufene Rekursgericht den Gewährungsbeschluss auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Das Erstgericht habe sich nur mit der Flüchtlingseigenschaft des Vaters auseinandergesetzt, ohne dabei auf die individuelle Situation des Kindes selbst Bedacht zu nehmen. Zwar habe das Erstgericht festgestellt, dass eigene Fluchtgründe des Kindes nicht vorlägen. Das beziehe sich aber erkennbar bloß darauf, dass es seinen Flüchtlingsstatus vom Vater ableite, sodass nicht abschließend beurteilt werden könne, ob ihm die Flüchtlingseigenschaft selbst (weiterhin) zukomme. Im fortgesetzten Verfahren sei daher zu prüfen, ob das Kind aus konkreten, es selbst betreffenden Gründen befürchten müsse, bei einer Rückkehr in den Iran verfolgt zu werden.
[7] Im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht sowohl den Antrag vom 15. September 2020 auf Gewährung von Titelvorschüssen gemäß § 7 1. COVID‑19‑JuBG als auch den Antrag vom 4. Februar 2021 auf Weitergewährung der Vorschüsse ab. Es stellte ergänzend fest, dass konkrete, das Kind selbst betreffende Gefahren einer Verfolgung im Fall seiner Rückkehr in den Iran nicht feststellbar seien und folgerte daraus rechtlich, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nicht vorliegen.
[8] Das Rekursgericht gab dem dagegen vom Kind erhobenen Rekurs nicht Folge. Nach den als unbedenklich zu übernehmenden Feststellungen des Erstgerichts lägen weder beim Kind selbst noch bei seiner Mutter persönliche Fluchtgründe vor. Der Nachweis seiner Flüchtlingseigenschaft sei dem Kind daher nicht gelungen, weshalb es österreichischen Staatsbürgern nicht iSd § 2 Abs 1 UVG gleichgestellt sei und keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse habe. Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die Flüchtlingseigenschaft aus rechtlichen Gründen bejaht werden könne, wenn diese bei einem Elternteil bestehe, mit dem das Kind nicht im gemeinsamen Haushalt lebe.
[9] Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Kindes mit dem Antrag auf Abänderung, dass dem Gewährungsantrag und dem Weitergewährungsantrag stattgegeben wird.
[10] Der Bund und der Vater beteiligten sich nicht am Revisionsrekursverfahren.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Revisionsrekurs ist zulässig und teilweise auch berechtigt.
[12] 1. Im Verfahren ist nicht strittig, dass Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, BGBl 1955/55 (GFK), und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) österreichischen Staatsbürgern iSd § 2 Abs 1 UVG gleichgestellt sind und demnach Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse haben (10 Ob 55/20s; 10 Ob 11/20w ua). Streitpunkt ist hier nur, ob dieser Status dem Rekurswerber zukommt.
[13] 2. Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht im Verfahren über die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen die Flüchtlingseigenschaft selbständig als Vorfrage zu prüfen (RIS‑Justiz RS0110397; RS0037183). Das folgt aus dem Umstand, dass sie nicht vom Vorliegen der (nur deklarativ wirkenden) Feststellung durch eine Behörde abhängig ist, sondern sich unmittelbar aus Art 1 A Z 2 GFK ergibt, wonach Flüchtling ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“ (10 Ob 6/21m; 10 Ob 30/20i ua).
[14] 3. Eine der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft iSd Art 1 A GFK ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen den genannten Gründen der Verfolgung und den Verfolgungshandlungen oder dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen. Es bedarf daher einer individuellen Prüfung der Flüchtlingseigenschaft, deren Ziel es ist, festzustellen, ob unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellers die Voraussetzungen für die Qualifikation als Flüchtling vorliegen (10 Ob 55/20s; 10 Ob 52/20z ua).
[15] 3.1. In Fällen, in denen dem Kind der Status als Asylberechtigter im Rahmen eines Familienverfahrens (§ 34 AsylG 2005) zuerkannt wurde, hat der Oberste Gerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung stets darauf verwiesen, dass nicht nur die persönlichen, das Kind selbst betreffenden Fluchtgründe zu prüfen sind: Zu 10 Ob 6/21m (Rz 24) und 10 Ob 40/18g (ErwG 6.1) wurde betont, dass es auch auf die Flüchtlingseigenschaft des Elternteils ankommt, von dem das Kind seine Flüchtlingseigenschaft ableitet. Nach der Entscheidung 10 Ob 3/18s besteht ein Fluchtgrund des Kindes auch dann, wenn im Herkunftsstaat die Verfolgung eines Elternteils – dort der Mutter, von der das Kind seine Flüchtlingseigenschaft ableitete – durch den russischen Sicherheitsdienst droht. Zu 10 Ob 30/20i (Rz 35) wurden die Fluchtgründe der antragstellenden Kinder sowie ihrer beider Eltern, denen jeweils wegen eigener Fluchtgründe Asyl nach § 3 Abs 1 AsylG 2005 gewährt worden war, als maßgeblich erachtet. Zu 10 Ob 52/20z (Rz 24) führte der Oberste Gerichtshof zwar aus, dass insbesondere die Fluchtgründe des Elternteils, in dessen Pflege und Erziehung sich die Kinder befinden, zu prüfen sind. Das ging aber darauf zurück, dass – so wie zu 10 Ob 30/20i – beiden Eltern Asyl nach § 3 Abs 1 AsylG 2005 gewährt worden war, der Vater aber in den Herkunftsstaat zurückgekehrt und unbekannten Aufenthalts war. Eine Einschränkung nur auf den betreuenden Elternteil, ergibt sich daraus nicht. Dementsprechend wurden in einer mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren Konstellation, bei der die Mutter ihren Asylstatus ihrerseits im Familienverfahren zuerkannt erhalten hatte, Erhebungen zur Situation der Familie und der (antragstellenden) Kinder für erforderlich erachtet (10 Ob 55/20s [Rz 20]).
[16] Diese Grundsätze entsprechen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, wonach Familienangehörigen der Status als Asylberechtigter dann abzuerkennen ist, wenn die Umstände, wegen deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und überdies auch beim Familienangehörigen selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 – also wegen einer ihm drohenden Verfolgung – nicht vorliegen (VwGH Ra 2021/20/0389, Ra 2020/18/0491, Ra 2019/19/0059 ua).
[17] 3.2. Angesichts dessen ist die vom Rekursgericht als erheblich iSd § 62 Abs 1 AußStrG erachtete Frage in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geklärt. Sie lässt sich dahin beantworten, dass es für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft von Kindern, denen Asylstatus im Familienverfahren nach § 34 Abs 2 AsylG 2005 zuerkannt wurde, darauf ankommt, ob das Kind oder ein Elternteil, von dem es seine Flüchtlingseigenschaft ableitet, aus konkreten, sie betreffenden Gründen befürchten müssen, bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt zu werden und wegen dieser Furcht nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Staates zu bedienen.
[18] 3.3. Der Umstand, dass das Kind – wie hier – nicht im gemeinsamen Haushalt mit diesem Elternteil lebt, ist dabei nicht relevant, weil er nichts daran ändert, dass das Kind (weiterhin) Familienangehöriger im Sinn der Definition des § 2 Abs 1 Z 22 lit c AsylG 2005 sowie des Art 2 lit j Status-RL ist. Die besonders geschützte Verbindung zwischen Eltern und Kindern kann mit Blick auf Art 8 EMRK auch nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden, wofür eine nicht (mehr) bestehende Hausgemeinschaft in der Regel nicht ausreicht (EGMR 24. 4. 1996, 22070/93, Boughanemi gegen Frankreich;RS0124877; VwGH Ra 2021/19/0209).
[19] 4. Im vorliegenden Fall war – nach dem entgegen der Ansicht des Revisionsrekurswerbers in dritter Instanz nicht bekämpfbaren Sachverhalt (RS0007236 [T2, T4, T7]) – eine konkrete, das Kind selbst betreffende Gefahr der Verfolgung im Fall seiner Rückkehr in den Iran nicht feststellbar. Zwar geht dies zu Lasten des Kindes (RS0008752 [T1]). Allerdings wurde schon im ersten Rechtsgang abschließend geklärt, dass seinem Vater im Iran sowohl als politischer Aktivist einer Minderheit als auch als Apostat Repressalien wie Verhaftung, Folter und die Beschneidung wirtschaftlicher Rechte drohen. Auf Grundlage dieser Feststellungen, von denen der Oberste Gerichtshof auszugehen hat, ist die (vom Vater abgeleitete) Flüchtlingseigenschaft des Kindes weiterhin zu bejahen.
[20] 5.1. Die begehrte Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 7 1. COVID-19-JuBG setzt (nur) voraus, dass für den gesetzlichen Unterhaltsanspruch ein im Inland vollstreckbarer Exekutionstitel besteht und der Unterhaltsschuldner den laufenden Unterhalt nach Eintritt der Vollstreckbarkeit des Titels nicht zur Gänze leistet. Dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist im Verfahren nicht strittig; es kommt auch nicht darauf an, ob der Unterhaltsschuldner aufgrund der COVID-19-Pandemie der Gefahr eines Einkommensverlustes ausgesetzt ist (RS0133417). Dem Antrag vom 11. September 2020 ist daher – beginnend mit dem Monat der Antragstellung – für die Dauer von sechs Monaten in der beantragten Höhe (§ 5 Abs 1 UVG) stattzugeben. Pauschalgebühren sind nach § 15 2. COVID‑19‑JuBG idF BGBl I Nr 72/2022 nicht zu entrichten.
[21] 5.2. Der Antrag auf Weitergewährung der Vorschüsse vom 4. Februar 2021 ist hingegen nicht berechtigt. Zwar ist ein neuer Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 7 1. COVID-19-JuBG nach Ablauf der Periode, für die bereits Vorschüsse nach diesem Gesetz gewährt wurden, zulässig (RS0133602). Die vom Rekurswerber angestrebte Weitergewährung der begehrten COVID-19-Vorschüsse nach § 18 UVG scheidet hingegen generell und damit auch für die in § 7 1. COVID‑19‑JuBG vorgesehene Dauer von sechs Monaten aus (10 Ob 16/21g; 10 Ob 8/21f; Kronthaler, Wie wirkt sich § 7 des 1. COVID‑19-JuBG auf die Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen aus? iFamZ 2020, 142 [143]; Garber/Neumayr in Resch, Corona-HB1.06 Kap 13 Rz 97/1). Insofern haben die Vorinstanzen die Anspruchsvoraussetzungen ab 1. März 2021 im Ergebnis zu Recht verneint.
[22] 6. Dem Revisionsrekurs ist daher teilweise Folge zu geben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind dahin abzuändern, dass dem Kind Unterhaltsvorschüsse in Höhe von 170 EUR monatlich vom 1. September 2020 bis 28. Februar 2021 zu gewähren sind. Sein Antrag auf Weitergewährung der Vorschüsse über diesen Zeitraum hinaus ist dagegen abzuweisen.
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