OGH 4Nc11/22p

OGH4Nc11/22p25.3.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. E* M*, 2. M* M*, vertreten durch Skribe Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei S* A.S., *, Türkei, wegen 800 EUR sA, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0040NC00011.22P.0325.000

 

Spruch:

Der Ordinationsantrag wird abgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Kläger streben – gestützt auf die Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 2. 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr 295/91 (in der Folge kurz „Fluggastrechte-VO“) – die Verpflichtung des beklagten Luftfahrtunternehmens mit Sitz in der Türkei zur Zahlung von 800 EUR an. Der von den Klägern bei der Beklagten gebuchte Flug von Wien nach Antalya habe sich aufgrund eines von der Beklagten zu verantwortenden Umstands um mehr als drei Stunden verspätet. Den Klägern stünde daher gemäß Art 5 iVm Art 7 Abs 2 Fluggastrechte‑VO eine Ausgleichsleistung von 800 EUR zu.

[2] Das Bezirksgericht Schwechat wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit zurück und das Landesgericht Korneuburg als Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung.

[3] Nach Rechtskraft des Zurückweisungsbeschlusses legte das Bezirksgericht Schwechat den Akt zur Entscheidung über den von den Klägern hilfsweise gestellten Ordinationsantrag nach § 28 JN vor.

Rechtliche Beurteilung

[4] Die Voraussetzungen für eine Ordination liegen nicht vor.

[5] 1.1. Die in Österreich wohnhaften Kläger stützen ihren Ordinationsantrag auf § 28 JN. Nach Abs 1 Z 2 dieser Bestimmung hat der Oberste Gerichtshof, wenn für eine bürgerliche Rechtssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre.

[6] 1.2. Die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Z 2 JN sind in streitigen bürgerlichen Rechtssachen vom Antragsteller zu behaupten und zu bescheinigen (§ 28 Abs 4 zweiter Satz JN; RS0124087).

[7] 2.1. An die in Rechtskraft erwachsene Zurückweisungsentscheidung ist der Oberste Gerichtshof gebunden (RS0046568 [T5]). Die bereits erfolgte Zurückweisung der Klage steht dem Ordinationsantrag nicht grundsätzlich entgegen, weil im Fall seiner Stattgebung die Klage neu beim ordinierten Gericht einzubringen wäre (RS0046568 [T4]).

[8] 2.2. Die behauptete Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland begründen die Kläger damit, dass die Republik Österreich aufgrund des im Anwendungsvorrang stehenden Gemeinschaftsrechts verpflichtet sei, sicherzustellen, dass ein Fluggast seine Rechte nach der Fluggastrechte‑VO wirksam wahrnehmen und auch effektiv (gerichtlich) durchsetzen könne. Verneinte man die inländische Gerichtsbarkeit, so führte dies zur praktischen Undurchsetzbarkeit der Fluggastrechte‑VO. Türkische Gerichte wendeten nämlich nicht EU‑Gemeinschaftsrecht, sondern türkisches nationales Recht und die „Verordnung über Fluggastrechte des türkischen Generaldirektorats für Zivilluftfahrt“ (kurz „SHY‑Verordnung“) an. Diese SHY‑Verordnung sei zwar der Fluggastrechte-VO nachempfunden, jedoch gebe es wesentliche Unterschiede. Insbesondere unterliege die Auslegung der SHY‑Verordnung nicht der Rechtsprechung des EuGH. Soweit bekannt, werde nach der türkischen SHY‑Verordnung eine Ausgleichszahlung auch nur im Falle einer Überbuchung gewährt, nicht jedoch für andere Fälle der Beförderungsverweigerung. Eine Durchsetzung der Ansprüche der Kläger aufgrund der Fluggastrechte‑VO sei daher ausschließlich in Österreich möglich, weil die Türkei diese VO nicht anwende.

[9] 3.1. Die Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN soll dem Obersten Gerichtshof nicht die Möglichkeit bieten, grundsätzlich jede Rechtssache, zu deren Entscheidung die Zuständigkeitsvorschriften kein österreichisches Gericht berufen, der österreichischen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen und damit einen allgemeinen Klägergerichtsstand zu etablieren (RS0046322). § 28 Abs 1 Z 2 JN soll Fälle abdecken, in denen trotz Fehlens eines Gerichtsstands im Inland bei den genannten Anknüpfungspunkten (Staatsbürgerschaft, Wohnsitz, Aufenthalt, Sitz) ein Bedürfnis nach Gewährung inländischen Rechtsschutzes vorhanden ist, weil im Einzelfall eine effektive Klagemöglichkeit im Ausland fehlt (RS0057221 [T4]). Ist im Ausland ausreichender Rechtsschutz gewährleistet und würde die ausländische Entscheidung im Inland auch vollstreckt werden, so besteht bei Fehlen einer inländischen Zuständigkeit kein Anlass zur Bejahung der inländischen Gerichtsbarkeit (RS0046159).

[10] 3.2. § 28 Abs 1 Z 2 1. HS JN ist hier wegen des Wohnsitzes der Klägerin in Österreich erfüllt. Zur weiteren Voraussetzung der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland entspricht es der Rechtsprechung, dass eine unterschiedliche Ausgestaltung der materiellen Rechtslage allein für eine Ordination nicht ausreichen kann. Eine günstigere oder ungünstigere materielle Rechtslage allein kann nicht die Begründung einer ansonsten nicht gegebenen inländischen Gerichtsbarkeit bewirken (10 Nc 38/19y; RS0117751). Der Ansicht, eine wirksame Durchsetzung der Ansprüche nach der Fluggastrechte‑VO sei nur dann gewährleistet, wenn diese vor einem Gericht eines Mitgliedstaats geltend gemacht werden, ist daher nicht zu folgen (RS0117751 [T5]).

[11] 3.3. Der Oberste Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen zu ähnlich gelagerten Sachverhalten (beklagt waren jeweils Flugunternehmen mit Sitz in der Türkei) die Voraussetzungen für eine Ordination iSd § 28 Abs 1 Z 2 JN verneint (9 Nc 14/19m; 9 Nc 39/19p; 10 Nc 38/19y; 5 Nc 11/21v; vgl auch 4 Nc 20/21k, wonach die in 4 Nc 9/21t vertretene Rechtsansicht nicht mehr aufrecht erhalten wird). Die diese Entscheidungen tragenden Erwägungen treffen auch auf den vorliegenden Fall zu.

[12] 4.1. Eine Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung in der Türkei ist nicht anzunehmen, weil die Türkei eine eigene Fluggastverordnung („SHY‑Passenger“, Regulation on Air Passenger Rights from the Directorate General of Civil Aviation) kennt, die in Art 6 iVm Art 8–10 auch Regelungen für die Annulierung eines Flugs („Cancellation of flights“) enthält.

[13] 4.2. Eine Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland liegt nicht vor, weil zwischen Österreich und der Türkei ein Abkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Vergleichen in Zivil‑ und Handelssachen besteht (BGBl 1992/571).

[14] 4.3. Es kann hier auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der effektiven Umsetzung von Unionsrecht nicht davon die Rede sein, dass die Abweisung eines Ordinationsantrags im Ergebnis einer Rechtsschutzverweigerung gleichkommt (vgl 5 Nc 11/21v; 4 Nc 20/21k mwN).

[15] 5. Die Voraussetzungen für eine Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN sind daher nicht gegeben.

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