European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0050NC00011.21V.0413.000
Spruch:
Der Ordinationsantrag wird abgewiesen.
Begründung:
[1] Die Klägerin strebt – gestützt auf die Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 2. 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr 295/91 (in der Folge kurz „Fluggastrechte-Verordnung“) – die Verpflichtung des beklagten Luftfahrtunternehmens zur Zahlung von 250 EUR an. Der von der Klägerin bei der Beklagten gebuchte Flug von Wien nach Istanbul sei aufgrund eines von der Beklagten zu verantwortenden Umstands annulliert worden. Die Bekanntgabe sei weniger als zwei Wochen vor dem planmäßigen Abflugzeitpunkt erfolgt und die Beklagte habe der Klägerin auch nicht innerhalb der Zeitgrenzen der Art 5 Abs 1c Fluggastrechte-Verordnung eine anderweitige Beförderung angeboten. Der Klägerin stehe daher gemäß Art 5 iVm Art 7 Abs 2 Fluggastrechte-Verordnung eine Ausgleichsleistung von 250 EUR zu.
[2] Das Bezirksgericht Schwechat wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit zurück. Das Landesgericht Korneuburg als Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung.
[3] Nach Rechtskraft des Zurückweisungsbeschlusses legte das Bezirksgericht Schwechat den Akt zur Entscheidung über den von der Klägerin im Rekurs hilfsweise gestellten Ordinationsantrag nach § 28 JN vor.
Rechtliche Beurteilung
[4] Die Voraussetzungen für eine Ordination liegen nicht vor.
[5] 1. Die in Österreich wohnhafte Klägerin stützt ihren Ordinationsantrag auf § 28 Abs 1 Z 2 JN. Danach hat der Oberste Gerichtshof, wenn für eine bürgerliche Rechtssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre.
[6] 2. Die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Z 2 JN sind in streitigen bürgerlichen Rechtssachen vom Antragsteller zu behaupten und zu bescheinigen (§ 28 Abs 4 zweiter Satz JN; RIS‑Justiz RS0124087).
[7] 3. Das Bezirksgericht Schwechat hat die internationale Zuständigkeit verneint und die Klage zurückgewiesen. An diese in Rechtskraft erwachsene Entscheidung ist der Oberste Gerichtshof gebunden (RS0046568 [T5]). Die bereits erfolgte Zurückweisung der Klage steht dem Ordinationsantrag nicht grundsätzlich entgegen, weil im Fall seiner Stattgebung die Klage neu beim ordinierten Gericht einzubringen wäre (RS0046568 [T4]).
[8] 4.1. Die behauptete Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland begründet die Klägerin damit, dass die Republik Österreich aufgrund des im Anwendungsvorrang stehenden Gemeinschaftsrechts verpflichtet sei, sicherzustellen, dass ein Fluggast seine Rechte nach der FluggastrechteVO wirksam wahrnehmen und auch effektiv (gerichtlich) durchsetzen könne. Verneinte man die inländische Gerichtsbarkeit, so führte dies zur praktischen Undurchsetzbarkeit der Fluggastrechte-Verordnung. Türkische Gerichte wendeten nämlich nicht EU-Gemeinschaftsrecht, sondern türkisches nationales Recht und die „Verordnung über Fluggastrechte des türkischen Generaldirektorats für Zivilluftfahrt“ (kurz „SHY‑Verordnung“) an. Diese SHY‑Verordnung sei zwar der Fluggastrechte-Verordnung nachempfunden, jedoch gebe es wesentliche Unterschiede. Insbesondere unterliege die Auslegung der SHY‑Verordnung nicht der Rechtsprechung des EuGH. Soweit bekannt werde nach der türkischen SHY‑Verordnung eine Ausgleichszahlung auch nur im Falle einer Überbuchung gewährt, nicht jedoch für andere Fälle der Beförderungsverweigerung. Selbst wenn türkische Gerichte die FluggastrechteVO anwenden würden, wäre dennoch von einer übermäßigen Erschwernis für Verbraucher auszugehen, wenn diese ihre Rechte nur in einem Drittstaat wahrnehmen könnten und nicht innerhalb der EU.
[9] 4.2. Die Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN soll dem Obersten Gerichtshof nicht die Möglichkeit bieten, grundsätzlich jede Rechtssache, zu deren Entscheidung die Zuständigkeitsvorschriften kein österreichisches Gericht berufen, der österreichischen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen und damit einen allgemeinen Klägergerichtsstand zu etablieren (RS0046322). § 28 Abs 1 Z 2 JN soll Fälle abdecken, in denen trotz Fehlens eines Gerichtsstands im Inland ein Bedürfnis nach Gewährung inländischen Rechtsschutzes vorhanden ist, weil ein Naheverhältnis zum Inland besteht und im Einzelfall eine effektive Klagemöglichkeit im Ausland fehlt (RS0057221 [T4]). Ist im Ausland ausreichender Rechtsschutz gewährleistet und würde die ausländische Entscheidung im Inland auch vollstreckt werden, so besteht bei Fehlen einer inländischen Zuständigkeit kein Anlass zur Bejahung der inländischen Gerichtsbarkeit (RS0046159).
[10] 4.3. Das Naheverhältnis zum Inland ist hier insofern zu bejahen, als die Klägerin ihren Wohnsitz in Wien hat und der Abflugort im Inland lag. Zur weiteren Voraussetzung der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland entspricht es der Rechtsprechung, dass eine unterschiedliche Ausgestaltung der materiellen Rechtslage allein für eine Ordination nicht ausreichen kann. Eine günstigere oder ungünstigere materielle Rechtslage allein kann nicht die Begründung einer ansonsten nicht gegebenen inländischen Gerichtsbarkeit bewirken (10 Nc 38/19y; RS0117751). Der Ansicht, eine wirksame Durchsetzung der Ansprüche nach der Fluggastrechte-Verordnung sei nur dann gewährleistet, wenn diese vor einem Gericht eines Mitgliedstaats geltend gemacht werden, ist daher nicht zu folgen (RS0117751 [T5]).
[11] 4.4. Der Oberste Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen zu ähnlich gelagerten Sachverhalten (Beklagte waren jeweils Flugunternehmen mit Sitz in der Türkei) die Voraussetzungen für eine Ordination iSd § 28 Abs 1 Z 2 JN verneint (9 Nc 14/19m; 9 Nc 39/19p, 10 Nc 38/19y; vgl auch 8 Nc 29/19k).
[12] Die diese Entscheidungen tragenden Erwägungen treffen auch auf den vorliegenden Fall zu:
[13] Eine Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung in der Türkei ist nicht anzunehmen, weil die Türkei eine eigene Fluggastverordnung („SHY‑ Passenger“, Regulation on Air Passenger Rights from the Directorate General of Civil Aviation) kennt, die in Art 6 iVm Art 8–10 auch Regelungen für die Annulierung eines Flugs („Cancellation of flights“) enthält.
[14] Eine Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland liegt nicht vor, weil zwischen Österreich und der Türkei ein Abkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Vergleichen in Zivil- und Handelssachen besteht (BGBl 1992/571).
[15] Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz bietet keine Grundlage dafür, eine allenfalls fehlende (generelle) Zuständigkeitsvorschrift des Verfahrensrechts nur im Hinblick auf diesen Grundsatz generell und unabhängig vom Einzelfall zu ersetzen. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Z 2 JN ist vielmehr in jedem einzelnen Fall zu beurteilen. Darauf, dass die Rechtsverfolgung in der Türkei kostspieliger wäre oder dass in Österreich Exekution geführt werden sollte und die Beklagte in Österreich über Vermögen verfügt, hat sich die Klägerin gar nicht berufen.
[16] 5. Die Voraussetzungen für eine Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN sind daher nicht gegeben.
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