European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:E133206
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Rekursgericht zur Entscheidung über den Rekurs der Gegnerin der gefährdeten Partei unter Abstandnahme von der angenommenen Nichtigkeit zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Das Erstgericht hielt auf der Grundlage des Vorbringens und der Bescheinigungsmittel der gefährdeten Partei (im Folgenden: Antragstellerin) ohne Anhörung der Gegnerin der gefährdeten Partei (im Folgenden: Antragsgegnerin) folgenden (zusammengefassten) Sachverhalt für bescheinigt:
[2] Die Antragstellerin ist ein italienisches Bauunternehmen, die Antragsgegnerin ist ein im Firmenbuch des Handelsgerichts Wien eingetragenes Bauunternehmen in der Rechtsform einer GmbH. Die Parteien dieses Verfahrens, eine österreichische Schwestergesellschaft der Antragsgegnerin und eine weitere italienische Gesellschaft bildeten eine Bietergemeinschaft, die von der Auftraggeberin des Brenner-Basistunnel-Projekts den Auftrag für ein Baulos des Brenner Basistunnels, nämlich zum Bau eines etwa 9 km langen Erkundungsstollens, erhielt.
[3] Die vier Mitglieder der Bietergemeinschaft bildeten eine Arbeitsgemeinschaft (in der Folge: ARGE) und schlossen am 18. 12. 2017 einen Joint Venture‑Vertrag ab. Nach Punkt 18.2 dieses Vertrags kann eine Partnerfirma aus wichtigen Gründen durch mehrheitlichen Beschluss der anderen Partnerfirmen von der weiteren Teilnahme ausgeschlossen werden. Wichtige Gründe liegen insbesondere vor, wenn eine Partnerfirma mit einem wesentlichen Teil ihrer Verpflichtungen in Verzug geraten ist und diesen nach zweimaliger nachweislich schriftlicher Aufforderung und Nachfristsetzung von je 14 Kalendertagen nicht beseitigt hat.
[4] Seit 11. 9. 2018 sind die Antragstellerin mit 44,99 %, die weitere italienische Gesellschaft mit 0,01 %, die Antragsgegnerin mit 40 % und deren Schwestergesellschaft mit 15 % an der ARGE beteiligt; die österreichischen Gesellschaften haben somit eine Mehrheit von 55 %.
[5] Weil sich die ARGE und die Auftraggeberin über technische Fragen der Durchführung des Projekts nicht einigen konnten, löste die Auftraggeberin den Bauvertrag mit 27. 10. 2020 aus wichtigen Gründen wegen Verzugs auf. Die österreichischen Partner der ARGE begannen in der Folge, die Baustelle abzubauen und deren Schließung in die Wege zu leiten. Dies könnte laut Vorschau der Antragsgegnerin bis Ende 2021 abgeschlossen werden.
[6] Von Oktober 2020 bis Februar 2021 forderte die Muttergesellschaft der österreichischen Partner der ARGE die Antragstellerin wiederholt auf, für verschiedene behauptete Aufwendungen insgesamt 17.321.150 EUR auf ihr Konto einzuzahlen. Da für die Antragstellerin die Höhe der verlangten Zahlungen nicht nachvollziehbar war und sie die Ansicht vertrat, diese Zahlungsaufforderungen hätten keinen Bezug zum Liquiditätsbedarf der ARGE, leistete sie die geforderten Zahlungen nicht.
[7] Am 18. 2. 2021 forderten die österreichischen Partner der ARGE die Antragstellerin unter Hinweis auf Punkt 18.2. des Joint Venture‑Vertrags auf, an Nachschüssen 14.621.750 EUR binnen 14 Tagen an die ARGE zu bezahlen. Ein der Antragstellerin von den österreichischen Partnern der ARGE übermittelter, mit 11. 2. 2021 datierter Finanzplan wies für den Zeitraum 11. 2. 2021 bis 4. 4. 2021 einen Finanzierungsbedarf der ARGE von voraussichtlich 3.362.478 EUR aus.
[8] In der Folge bezahlte die Antragstellerin 8.784.297,50 EUR auf das Konto der ARGE, verweigerte aber eine weitere Zahlung, weil ihrer Ansicht nach die österreichischen Partner der ARGE dazu keine nachvollziehbaren Finanzpläne und Informationen vorgelegt hätten. In weiterer Folge konnten sich die Antragstellerin und die österreichischen Partner der ARGE über die von diesen geforderte Zahlung von weiteren 8.536.852,50 EUR durch die Antragstellerin nicht einigen. Dies führte letztlich dazu, dass die Antragsgegnerin am 24. 3. 2021 an die Mitglieder der ARGE eine Einladung für eine für den 8. 4. 2021 anberaumte Firmenratssitzung aussandte, deren Tagesordnung unter anderem den Ausschluss der Antragstellerin und der weiteren italienischen Partnerin der ARGE aus dem Joint Venture vorsah.
[9] Das Bankkonto der ARGE wies am 29. 3. 2021 einen positiven Saldo von 8.764.723 EUR auf.
[10] Über die durch die österreichischen Partner der ARGE von der Antragstellerin mit den Schreiben vom 18. 2. 2021 und vom 10. 3. 2021 geforderten Zahlungen liegt weder ein Beschluss der Gesellschafter der ARGE noch ein Beschluss des Firmenrats des ARGE vor.
[11] Die Antragstellerin begehrt nach § 382 Z 1 und 2 EO die Erlassung einer einstweiligen Verfügung dahin, dass der Antragsgegnerin zur Sicherung des Anspruchs der Antragstellerin auf Unterlassung von Handlungen, die dazu führen, dass die Antragstellerin aus der ARGE ausgeschlossen wird, verboten werde,
a.) Beschlüsse der Gesellschafter der ARGE zu veranlassen, mit denen die Antragstellerin deshalb ausgeschlossen werden solle, weil diese aufgrund des Schreibens der österreichischen Partner der ARGE vom 10. 3. 2021 keine Zahlung an die ARGE geleistet habe;
b.) in der für 8. 4. 2021 anberaumten Sitzung des Firmenrats der ARGE für den Ausschluss der Antragstellerin aus der ARGE zu stimmen;
c.) sonst etwas zu unternehmen, was dazu führe, dass die Antragstellerin wegen Nichterfüllung von Zahlungsaufforderungen, die nicht durch Beschluss des Firmenrats oder der Gesellschafter gedeckt seien, aus der ARGE ausgeschlossen werde.
[12] Die österreichischen Partner der ARGE verfolgten die Strategie, die Antragstellerin als lästige Gesellschafterin loszuwerden. Die förmlichen Zahlungsaufforderungen ließen keine andere Interpretation zu, als dass die österreichischen Partner der ARGE beabsichtigten, die Antragstellerin mit einem gemeinsamen Beschluss nach Punkt 18.2 des Joint Venture‑Vertrags aus der ARGE auszuschließen. Die Nachschussaufforderungen seien nicht von Gesellschafterbeschlüssen gedeckt, unwirksam und nicht notwendig gewesen, weil die ARGE immer noch über ausreichende Liquidität verfüge. Ein Ausschluss der Antragstellerin führtezum Verlust ihrer Rechte als Gesellschafterin der ARGE. Die österreichischen Partner könnten dann ohne jeden Einfluss und ohne jede Kontrolle durch die Antragstellerin über das Vermögen der ARGE disponieren. Die Antragstellerin müsste jedoch weiterhin das gesamte Haftungsrisiko gegenüber der Auftraggeberin tragen und den anteiligen Verlust der ARGE finanzieren, ohne daraus irgendeinen Vorteil zu erhalten. Sie wäre der Willkür der österreichischen Partner der ARGE vollständig ausgeliefert. Ein wichtiger Grund für einen Ausschluss liege nicht vor. Die dadurch verhinderte Ausübung der Gesellschafterrechte könne später nicht mehr nachgeholt werden; die Antragstellerin würde durch den Ausschluss jegliche Mitwirkungsrechte in der ARGE verlieren.
[13] Das Erstgericht erließ ohne Anhörung der Antragsgegnerin die einstweilige Verfügung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den zu sichernden Unterlassungsanspruch der Antragstellerin durch ein Schiedsgericht nach den ICC‑Schiedsregeln.
[14] Das Rekursgericht hob aus Anlass des Rekurses der Antragsgegnerin den erstinstanzlichen Beschluss als nichtig auf, trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf und ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu. Es vertrat die Ansicht, das Provisorialverfahren sei entgegen früherer Rechtsprechung und überwiegender Lehre nicht grundsätzlich zunächst einseitig. Nach der Entscheidung des EGMR vom 15. 10. 2009, Micallef/Malta, 17056/06, sei Art 6 EMRK anzuwenden, wenn das Recht, um das es im Haupt- und im Provisorialverfahren geht, zivilrechtlich im Sinn der autonomen Bedeutung des Art 6 EMRK und weiters davon auszugehen sei, dass eine vorläufige Maßnahme – ungeachtet der Dauer ihrer Geltung – effektiv über den zivilrechtlichen Anspruch oder die Verpflichtung entscheide. Nur in Ausnahmefällen sei die Erlassung einer einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung des Gegners zulässig. Ein solcher Ausnahmefall liege nicht vor, weil – zusammengefasst – vom Zeitpunkt der Einbringung des Antrags auf Erlassung der einstweiligen Verfügung bis zur Sitzung des Firmenrats am 8. 4. 2021, 14:00 Uhr, genügend Zeit für die Einräumung einer Äußerung der Antragsgegnerin gewesen wäre; deren Anhörung wäre daher geboten gewesen. Die Verletzung des in Art 6 EMRK normierten rechtlichen Gehörs verwirkliche einen Nichtigkeitsgrund, der zur Aufhebung der einstweiligen Verfügung führe.
[15] Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil einerseits in Rechtsprechung und Lehre strittig sei, ob ein Verstoß gegen Art 6 EMRK einen Nichtigkeitsgrund darstelle, und andererseits divergierende Rechtsprechung zur Frage, ob die Einhaltung der Garantien des Art 6 EMRK die Abhaltung einer mündlichen bzw öffentlichen Verhandlung erfordere oder die Einräumung einer schriftlichen Äußerungsmöglichkeit ausreiche, vorliege.
[16] Der Rekurs der Antragstellerin ist zulässig; er ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[17] 1. Grundsätzliches zum rechtlichen Gehör im Sicherungsverfahren
[18] Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 15. 10. 2009, Bsw 17056/06, Micallef gegen Malta (RS0127445), gelten die Verfahrensgarantien des Art 6 Abs 1 EMRK im Allgemeinen auch für das Provisorialverfahren. Dies bedeutet aber nicht, dass das Sicherungsverfahren jedenfalls zweiseitig zu sein hat, sodass in Ausnahmefällen, etwa wenn die Effektivität der Maßnahme von einer raschen Entscheidung abhängt, auch weiterhin die einseitige Erlassung einer einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung des Gegners zulässig ist, weil ja der nachfolgend mögliche Widerspruch das rechtliche Gehör sicherstellt (2 Ob 140/10t; 7 Ob 80/20w; 7 Ob 185/17g; RS0028350 [T8, T9]; RS0074799 [T11, T12]).
[19] 2. Rechtsfolgen einer Gehörverletzung im Sicherungsverfahren
[20] 2.1. Rechtsprechung
[21] 2.1.1. Österreich
[22] Die Entscheidungen, die das Rekursgericht für seine Ansicht, der von ihm bejahte Gehörverstoß bewirke Nichtigkeit, zitiert hat, sind nicht einschlägig, weil dort keine Sicherungsverfahren vorlagen.
[23] Nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung vor der Entscheidung des EGMR in der Sache Micallef, führte der Ausschluss von der Äußerung zum Antrag auf Erlassung der einstweiligen Verfügung nicht zu einer Nichtigkeit, zumal das Provisorialverfahren erster Instanz grundsätzlich als einseitig angesehen wurde (vgl RS0005878).
[24] Zur Rechtslage nach der Entscheidung des EGMR in der Sache Micallef liegt eine ausdrückliche Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs nicht vor.
[25] In dem eine Kartellrechtssache betreffenden Sicherungsverfahren 16 Ok 12/13 hat der Oberste Gerichtshof einen Gehörverstoß bejaht, jedoch (unter Hinweis auf G. Kodek, Einstweilige Verfügungen nach Micallef v Malta – eine Nachlese, in FS Delle Karth 521, 542 f) einen Verfahrensmangel angenommen. Da eine Nichtigkeit auch von Amts wegen aufzugreifen gewesen wäre, lässt diese Beurteilung – auch im Hinblick auf die zitierte Äußerung des genannten Autors – nur den Schluss zu, dass der Kartellsenat nicht von einer Nichtigkeit des Gehörverstoßes ausging.
[26] 2.1.2. Liechtenstein
[27] Jüngst schloss sich der liechtensteinische Fürstliche Oberste Gerichtshof in der Entscheidung vom 10. 9. 2021, 01 CG.2020.246, unter Hinweis auf die Entscheidung 16 Ok 12/13 der Auffassung von G. Kodek und der (hier unter 2.2. dargestellten) herrschenden Meinung in Österreich an, qualifizierte die Verletzung des rechtlichen Gehörs in einem Provisorialverfahren nicht als Nichtigkeit im Sinn des § 446 Abs 1 Z 4 liechtensteinische ZPO (= § 477 Abs 1 Z 4 öZPO) und sah darin (lediglich) einen Verfahrensmangel (ErwGr 7.3.3).
[28] 2.2. Lehre
[29] König (Einstweilige Verfügungen im Zivilverfahren5, Rz 6.93/2, 6.42/1) spricht sich für Nichtigkeit als Rechtsfolge des Gehörverstoßes aus. Da eine Verschiebung der Gehörgewährung auf die Zeit nach der Erlassung der einstweiligen Verfügung nur noch in Ausnahmefällen zulässig, weiters über den Widerspruch nach der Sachlage im Zeitpunkt der Erlassung der einstweiligen Verfügung zu entscheiden sei und dieser nach dem Gesetz auch nicht mit aufschiebender Wirkung ausgestattet werden könne, biete dieser Rechtsbehelf im Fall der rechtsirrigen Annahme eines „Ausnahmefalls“ durch das Gericht zu wenig.
[30] Nach E. Kodek (in Angst/Oberhammer, EO³ § 389 Rz 20/1) ist hingegen eine Nichtigkeit zu verneinen, weil ein Verstoß gegen Art 6 EMRK für sich allein noch nicht unter § 477 Abs 1 Z 4 ZPO subsumiert, sondern nur auf Rüge wahrgenommen werden sollte; ein Verfahrensmangel sei aber zu bejahen.
[31] G. Kodek (Einstweilige Verfügungen im Familienrecht und Art 6 EMRK – Überlegungen aus Anlass der Entscheidung Micallef gegen Malta, EF‑Z 2010/35) vertritt die Auffassung, die Unterlassung der vorherigen Anhörung bilde keinen Nichtigkeitsgrund.
Kodek/Leupold (in Wiebe/Kodek, UWG² § 24 Rz 71), führen aus, es sei ein bloßer Verfahrensmangel anzunehmen; das Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes sei auf Verstöße gegen ein zwingendes (iSv ausnahmsloses) Gehörgebot zu beschränken (ebenso G. Kodek in Burgstaller/Deixler‑Hübner, EO § 390 Rz 8e und § 402 Rz 30b; ders in GedS Koussoulis 213 f).
[32] Mann-Kommenda (Rechtliches Gehör in Sicherungs- und Exekutionsverfahren [2017] 127) verweist auf § 358 Abs 2 EO, wo sich das gleiche Regelungsmodell finde: Demnach „habe“ das Gericht bei der Unterlassungsexekution zwar vor Verhängung von Geldstrafen dem Verpflichteten Gelegenheit zur Äußerung zu den Strafbemessungsgründen zu geben; ein Verstoß dagegen bedeute aber weder eine Nichtigkeit noch einen Verfahrensmangel, sondern habe lediglich zur Folge, dass dem Verpflichteten anschließend der Widerspruch in sinngemäßer Anwendung der §§ 397 f EO zur Verfügung stehe (3 Ob 65/12y; 3 Ob 104/13k).
[33] 2.3. Der erkennende Senat schließt sich der zitierten Rechtsprechung und der herrschenden Lehre an. Somit ist festzuhalten:
[34] Im Provisorialverfahren bildet die Verletzung des rechtlichen Gehörs iSd Art 6 EMRK keinen Nichtigkeitsgrund, sondern einen rügepflichtigen Verfahrensmangel.
[35] 3. Die vom Rekursgericht angenommene Nichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung liegt daher nicht vor, weshalb der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem Rekursgericht die Entscheidung über den Rekurs der Antragsgegnerin aufzutragen war.
[36] Der Kostenvorbehalt gründet auf §§ 78, 402 Abs 4 EO und § 52 ZPO.
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