OGH 5Ob120/21i

OGH5Ob120/21i5.8.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann, die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in den verbundenen Rechtssachen der klagenden und widerbeklagten Parteien 1. P* GmbH, *, 2. S* AG, *, 3. S* AG, *, alle vertreten durch die KESCHMANN Rechtsanwalts‑GmbH, Wien, gegen die beklagte und widerklagende Partei O* GmbH, *, vertreten durch die Hock & Partner Rechtsanwälte GmbH, Wien, wegen 201.108,16 EUR sA im führenden Verfahren und 462.895,10 EUR sA im verbundenen Verfahren, über die außerordentliche Revision der beklagten und widerklagenden Partei gegen das Teil- und Zwischenurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28. April 2021, GZ 1 R 33/21m‑183, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132672

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die klagenden und widerbeklagten Parteien (in der Folge „Klägerinnen“) erhielten als „ARGE [...]“ zwei Bauaufträge im Zusammenhang mit dem Neubau einer Bahnstrecke. Im Auftragsumfang eines der Baulose war auch die Herstellung und Lieferung von Betonfertigteilen (Randwegsabdeckungen) samt Auflagern (Elastomerlagern) enthalten. Mit der Herstellung und Lieferung der Randwegsabdeckungen, und zwar 14.550 Stück der Type 100/55/12, 1.850 Stück der Type 50/105/12, 26 Stück der Type 50/115/12 und 50 Stück der Type 50/71/12, jeweils samt Laminatbrandschutzstreifen und Elastomerlagern, beauftragten sie die beklagte und widerklagende Partei (in der Folge „Beklagte“).

[2] Die Klägerinnen begehrten den Ersatz von 201.108,16 EUR sA an Mehrkosten, die ihnen durch die mangelhafte Leistung und den von der Beklagten erzwungenen Vertragsrücktritt entstanden seien. Die Beklagte habe sich weder in qualitativer noch in terminlicher Hinsicht an die Vereinbarung gehalten. Eine Vielzahl der gelieferten Randwegsabdeckungen sei mangelhaft gewesen und hätte nicht den vereinbarten Abmessungen entsprochen. Bis zum 27. 10. 2011 seien erst 35 % (statt wie vereinbart 85 %) der Gesamtstückzahl geliefert gewesen, weswegen der Beklagten eine Nachfrist bis 30. 11. 2011 gesetzt worden sei. Bei einer Werksbesichtigung habe sich aber ergeben, dass auch diese Frist ungenützt bleiben werde, weswegen sie mit Schreiben vom 24. 11. 2011 den Rücktritt vom Vertrag erklärt hätten.

[3] Die Beklagte bestritt, dass sie sich im Verzug befunden habe und wendete ein, sie habe die geschuldete Leistung ordnungsgemäß erbracht; die Randwegsabdeckungen seien bei der Lieferung mängelfrei gewesen. Zudem hätten die Klägerinnen in ihrer Rücktrittserklärung keine Nachfrist gesetzt. Innerhalb einer angemessenen Nachfrist wäre es ihr möglich gewesen, die geschuldete Leistung vollständig zu erbringen. Mit ihrer Widerklage begehrte sie 462.895,10 EUR sA wegen des unberechtigten Vertragsrücktritts. Sie habe Anspruch auf Zahlung des vereinbarten Werklohns abzüglich der ersparten Aufwendungen.

[4] Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil über Berufung der Klägerinnen ab und wies – soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz – das Begehren der Widerklage zur Gänze und die Klage im führenden Verfahren teilweise ab. Mit seinem Zwischenurteil sprach es aus, dass das Klagebegehren im führenden Verfahren mit 45.446,54 EUR sA dem Grunde nach zu Recht bestehe. Es ging davon aus, dass sich die Beklagte im Verzug befunden habe, und gelangte – zusammengefasst – zum Ergebnis, dass es über die faktisch gewährte Nachfrist hinaus, keiner weiteren Fristsetzung bedurft habe, weil die Beklagte selbst in den vier Wochen zwischen der erstmalig angedrohten Ersatzvornahme und dem Rücktritt noch weiter in Verzug geraten sei.

Rechtliche Beurteilung

[5] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, in der keine Rechtsfragen von der Bedeutung gemäß § 502 Abs 1 ZPO angesprochen werden.

[6] 1.1 Das Berufungsgericht verletzt den Grundsatz der Unmittelbarkeit, wenn es von Feststellungen des Erstgerichts, die auf einer unmittelbaren Beweisaufnahme beruhen, ohne Beweiswiederholung abgeht oder den entscheidungswesentlichen Sachverhalt aufgrund der in erster Instanz aufgenommenen Beweise ohne Beweiswiederholung ergänzt (RIS‑Justiz RS0043193; RS0043461; RS0043057). Gleiches gilt, wenn das Berufungsgericht seiner Entscheidung Tatsachenannahmen zugrunde legt, die auf eine unrichtige Wiedergabe der Feststellungen des Erstgerichts zurückzuführen sind, weil auch dabei eine Feststellung zugrunde gelegt wird, die das Erstgericht nicht getroffen hat (vgl RS0043026 [T5])

[7] 1.2 Die Beklagte behauptet eine solche Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und stellt dazu die vom Erstgericht zu den Themenkomplexen „Verzug“ und „Nachfrist“ getroffenen Feststellungen den rechtlichen Erwägungen des Berufungsgerichts gegenüber. Abgesehen davon, dass die Revisionswerberin insoweit die Feststellungen des Erstgerichts lediglich auszugsweise wiedergibt, liegt nicht schon deshalb ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz vor, weil das Berufungsgericht zu anderen rechtlichen Schlüssen gelangte als das Erstgericht.Seine (rechtlichen) Schlussfolgerungen beruhen aber auf den vom Erstgericht festgestellten Tatsachen, womit der Revisionsgrund nach § 503 Z 2 ZPO nicht verwirklicht wird.

[8] 2.1 Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung wendet sich die Beklagte nur noch gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, den Klägerinnen sei die Setzung einer Nachfrist bei Erklärung ihres Rücktritts nicht zumutbar gewesen, und stellt damit ihren für die Berechtigung zum Vertragsrücktritt durch die Klägerinnen erforderlichen Leistungsverzug nicht mehr grundsätzlich in Frage.

[9] 2.2 Ein Rücktritt wegen Schuldnerverzugs kann grundsätzlich nur unter gleichzeitiger Setzung einer angemessenen Frist zur Nachholung erklärt werden. Der Rücktritt wird erst nach einer angemessenen Nachfrist wirksam (RS0018395). Rücktrittserklärung und Nachfristsetzung bilden eine Einheit, die dem Schuldner eine letzte Chance zur Vertragserfüllung geben soll (RS0018375). Von der Nachfristsetzung kann aber – wie die Revisionswerberin unter Berufung auf die Entscheidung zu 4 Ob 587/87 erkennbar meint – nicht nur dann abgesehen werden, wenn der Schuldner offensichtlich nicht in der Lage ist, die Leistung nachzuholen (RS0018400), oder wenn er die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert (RS0018371; RS0018428). Nach der Judikatur ist die Setzung einer Nachfrist etwa auch dann entbehrlich, wenn das bisherige Scheitern der Erfüllung auf einen Fehler des Vertragspartners zurückgeht, der dessen offensichtliche Unfähigkeit, nicht zu tolerierende Unzuverlässigkeit oder ein generelles Unvermögen dokumentiert (5 Ob 166/07h; 6 Ob 134/18a). In der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs werden über die in den §§ 918, 920 ABGB geregelten Fälle hinaus zudem auch bei Zielschuldverhältnissen Rücktrittsrechte aus wichtigem Grund anerkannt. Sowohl der Werkbesteller als auch der Werkunternehmer haben das Recht zum Rücktritt vom Werkvertrag, wenn sie das Vertrauen in den Vertragspartner wegen dessen treuwidrigen Verhaltens verloren haben, sodass ihm die Aufrechterhaltung des Vertrags nicht mehr zugemutet werden kann (vgl 2 Ob 163/13d; RS0111147).

[10] 2.3 Ob derart wichtige Gründe vorliegen, die den Vertragspartner zu einer sofortigen Vertragsaufhebung berechtigen, kann nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beantwortet werden, sodass damit regelmäßig keine Fragen von der Bedeutung gemäß § 502 Abs 1 ZPO verbunden sind (RS0018286 [T9]; 1 Ob 155/18b ua). Eine allenfalls auch im Einzelfall aus Gründen der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung durch das Berufungsgericht kann die Revisionswerberin nicht aufzeigen.

[11] 3.1 Nach den Feststellungen waren der Produktionsbeginn ab 1. 6. 2011 bei laufender Lieferung, ein Lieferstand von 85 % mit Ende Oktober 2011 und ein Lieferende mit 15. 11. 2011 vereinbart. Nachdem die Beklagte die Produktion von Anfang Juni bis Mitte August ohne Notwendigkeit eingestellt hatte, waren bis zum 27. 10. 2011 statt der vereinbarten 85 % der Gesamtstückzahl erst etwa 35 % geliefert. Die Klägerinnen ersuchten um Vorlage eines Produktions- und Lieferplans, der ein Ende der Gesamtlieferungen bis 30. 11. 2011 sicherstellt, und drohten eine Ersatzvornahme an, worauf die Beklagte bestritt, in Verzug geraten zu sein, und um eine Koordinationsbesprechung ersuchte, die am 11. 11. 2011 stattfand. Dabei wurde zwar kein neuer Fertigstellungstermin vereinbart, aber festgelegt, dass die Beklagte einen neuen Produktions- und Lieferplan mit einem möglichen Endtermin am 10. oder 13. 1. 2012 vorlegt. Obwohl sie eine entsprechende Produktions- und Liefervorschau mit einem Endtermin am 13. 1. 2012 übermittelte, erfüllte die Beklagte bereits in der darauffolgenden Woche die zugesagte und für die Einhaltung ihrer adaptierten Vorschau erforderliche Liefermenge bei weitem nicht. Für die „Sondergrößen“, also die Randwegsabdeckungen der Typen 50/150/12, 50/115/12 und 50/71/12, waren nicht einmal die für die Produktion der Betonsteine notwendigen Schalungen vorhanden. Ausgehend davon gelangte das Berufungsgericht zum Ergebnis, dass die Klägerinnen im Rücktrittszeitpunkt von einem generellen Unvermögen und einer intolerablen Unzuverlässigkeit der Beklagten ausgehen und damit von der Setzung einer Nachfrist Abstand nehmen durften.

[12] 3.2 Dem hält die Beklagte in ihrer Revision auch nichts entgegen, sondern meint unter Verweis auf das vom Erstgericht eingeholte Sachverständigengutachen lediglich, dass es ihr – offensichtlich ausgehend von der theoretischen Werkskapazität – grundsätzlich möglich gewesen wäre, ihrer Lieferverpflichtung in relativ kurzer Zeit nachzukommen. Damit bleibt aber völlig unerklärlich, warum sie bei der festgestellten Sachlage den Lieferrückstand nicht beseitigte, sondern ungeachtet der erfolgten Androhung von Ersatzvornahmen den von ihr selbst angepassten Lieferplan nur etwa zur Hälfte einhielt und dadurch weiter in Verzug geriet. Sie kann mit ihrer Argumentation die ihr vom Berufungsgericht attestierte Unzuverlässigkeit sohin nicht entkräften. Eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung ist vielmehr nicht zu erkennen.

[13] 4. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).

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