OGH 1Ob189/20f

OGH1Ob189/20f27.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch die Peissl & Partner Rechtsanwälte OG, Köflach, gegen die beklagte Partei *****anstalt, *****, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, wegen 4.681,98 EUR sowie Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 6. Februar 2020, GZ 3 R 112/19s‑29, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Graz‑West vom 19. April 2019, GZ 2 C 444/18x‑25, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00189.20F.1127.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger erlitt am 19. 3. 2016 bei einem Sturz einen komplexen intraartikulären Speichenbruch seiner linken Hand, der noch an der Unfallstelle eingerichtet wurde. Nachdem er im Krankenhaus erstversorgt worden war, erfolgte die weitere Behandlung in einem von der Beklagten betriebenen Krankenhaus. Es entwickelte sich eine zunehmende Fehlstellung des Bruchs, die den behandelnden Ärzten aber nicht auffiel, obwohl sie spätestens anhand der am 2. 5. 2016 bei einer Kontrolluntersuchung erstellten Röntgenbilder – bei einem Vergleich mit früheren Röntgenaufnahmen – erkennbar gewesen wäre. Aufgrund der zunächst unerkannt gebliebenen und letztlich von einem nicht der Beklagten zuzurechnenden Arzt diagnostizierten Komplikation musste sich der Kläger am 9. 8. 2016 einer Operation unterziehen, bei der sein Handgelenk durch Einsatz einer Metallplatte versteift wurde.

[2] Der Kläger begehrte von der Beklagten Schadenersatz für jene Schäden, die ihm durch die fehlerhafte Diagnose (das Nichterkennen des verschobenen Bruchs) entstanden seien. Er begehrt auch die Feststellung der Haftung der Beklagten „für alle zukünftigen Schäden aus dem Behandlungsvertrag vom 20. 3. 2016, mit welchem eine Speichenfraktur am linken Handgelenk des Klägers behandelt wurde“. Sein Feststellungsinteresse leitet er daraus ab, dass aufgrund der Versteifung seines Handgelenks auch in Zukunft eine Bewegungseinschränkung bestehe und weitere Schäden aufgrund der eingesetzten Metallplatte nicht auszuschließen seien. Wäre die Fehlstellung rechtzeitig erkannt worden, hätte eine weniger invasive – mit keiner Versteifung des Handgelenks verbundene – Operationsmethode gewählt werden können.

[3] Die Beklagte bestritt den behaupteten Behandlungs‑(Diagnose‑)fehler und wandte unter anderem ein, dass der bestehende Zustand (die Versteifung der Hand durch die implantierte Metallplatte) eine Folge des Unfalls und nicht der behaupteten Fehlbehandlung sei.

[4] Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren teilweise statt und wies das Feststellungsbegehren ab. Es ging davon aus, dass die Behandlung des Klägers insoweit fehlerhaft erfolgt sei, als der untypische Heilungsverlauf (die Fehlstellung des Bruchs) zumindest bei der Kontrolle am 2. 5. 2016 erkannt werden hätte müssen. In diesem Fall wäre das Handgelenk ebenfalls zu operieren gewesen. Da nicht festgestellt werden habe können, dass dessen Funktionsfähigkeit bei einer lege artis erfolgten Diagnose des verschobenen Bruchs erhalten werden hätte können, und auch nicht feststehe, welche (sonstigen) Auswirkungen die dann vorgenommene Operation gehabt hätte und ob die tatsächlich erfolgte Operation samt den mit ihr verbundenen Dauerfolgen eine Folge des ärztlichen Behandlungsfehlers war, komme dem Feststellungsbegehren keine Berechtigung zu.

[5] Das Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung über das Zahlungsbegehren und änderte das Urteil insoweit ab, als es dem Feststellungsbegehren stattgab. Wenngleich das Erstgericht nicht feststellen habe können, ob nicht auch bei einer früheren Diagnose des verschobenen Bruchs eine gelenksversteifende Operationsmethode zu wählen gewesen wäre, welche (sonstigen) Auswirkungen eine solche Operation gehabt hätte und ob es bei dieser zu einem „günstigeren Verlauf“ gekommen wäre, könne nach den Feststellungen nicht ausgeschlossen werden, dass bei richtiger Diagnose eine „gelenkserhaltende“ Operation möglich gewesen wäre. Da an den Kausalitätsbeweis bei einer ärztlichen Fehlbehandlung nur geringe Anforderungen zu stellen seien, könne davon ausgegangen werden, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch den ärztlichen Kunstfehler nicht bloß unwesentlich erhöht wurde. Dem Kläger sei sohin der Anscheinsbeweis hinsichtlich der Kausalität des ärztlichen Behandlungsfehlers für die mit der tatsächlich erfolgten Operation einhergehende Teilversteifung des Handgelenks gelungen, den die Beklagte nicht entkräften habe können. Da mit dieser Operationsmethode verbundene Spät- und Dauerfolgen nach den erstinstanzlichen Feststellungen nicht auszuschließen seien, komme dem Feststellungsbegehren Berechtigung zu.

[6] Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nachträglich zur Frage zu, ob die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch den ärztlichen Kunstfehler schon deshalb nicht bloß unwesentlich erhöht wurde, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass ohne den Behandlungsfehler eine „gelenkserhaltende“ Operation möglich gewesen wäre, wobei aber nicht feststehe, dass es dann zu einem „günstigeren Heilungsverlauf“ gekommen wäre.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die von der Beklagten erhobene Revision ist zulässig, weil die erstinstanzlichen Feststellungen nicht ausreichen, um die Verursachung der Gelenksversteifung, aus welcher der Kläger die Befürchtung zukünftiger Spät- und Dauerfolgen ableitet, durch den ärztlichen Kunstfehler abschließend beurteilen zu können; das Rechtsmittel ist mit seinem Aufhebungsantrag auch berechtigt.

[8] 1. Die Revisionswerberin kritisiert, dass das Berufungsgericht die erstinstanzlichen Feststellungen zur Frage der Ursächlichkeit des – in dritter Instanz nicht mehr bestrittenen – Behandlungsfehlers für die tatsächlich gewählte Operationsmethode, bei der das Handgelenk teilweise versteift werden musste (woraus nach den erstinstanzlichen Feststellungen Spät- und Dauerfolgen resultieren können), falsch wiedergegeben habe und die angefochtene Entscheidung insoweit auf einer Aktenwidrigkeit beruhe. Selbst wenn dies zuträfe, hätte dies aber bloß zur Folge, dass die Aktenwidrigkeit dadurch zu bereinigen wäre, dass der Oberste Gerichtshof seiner rechtlichen Beurteilung die Feststellungen des Erstgerichts zugrundelegt (vgl RIS‑Justiz RS0110055). Ebenso wäre vorzugehen, wenn das Berufungsgericht die erstinstanzlichen Feststellungen abweichend von ihrem eindeutigen Sinngehalt interpretiert hätte. In diesem Fall hätte es den Sachverhalt rechtlich unrichtig beurteilt und es wäre bei der Behandlung der Rechtsrüge von den tatsächlichen Feststellungen auszugehen (RS0116014 [T4]). Damit ist auf die von der Beklagten erhobene Rechtsrüge einzugehen.

[9] 2. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein schadenersatzrechtliches Feststellungsbegehren zulässig, solange der Eintritt künftiger Schäden – aus einem haftungsbegründenden Verhalten oder Ereignis – nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann (RS0039018; RS0038971 [T5]). Bleibt die Möglichkeit offen, dass ein bestimmtes schuldhaftes rechtswidriges Verhalten für einen künftigen Schadenseintritt ursächlich sein könnte, besteht ein

Feststellungsinteresse (vgl RS0038865). Mit einem Feststellungsurteil wird zwar die Ersatzpflicht des Haftenden festgelegt, nicht aber, welche künftigen Schäden von ihm zu ersetzen sind. Im folgenden Leistungsprozess muss daher geprüft werden, ob das haftungsbegründende Verhalten für den dort geltend gemachten einzelnen Schaden ursächlich war (vgl RS0111722 [T6]). Dass die Ursächlichkeit des pflichtwidrigen Verhaltens für einen Schaden im Feststellungsprozess nicht zu prüfen ist, betrifft nur den Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und einem konkreten (künftigen) Schaden, nicht aber die Frage, ob eine Pflichtverletzung für das potenziell schädigende Ereignis kausal war. Dieser Zusammenhang ist schon im Feststellungsprozess zu beurteilen (vgl RS0038915 [T2]; siehe auch 1 Ob 48/20w; 5 Ob 193/10h). Er betrifft die potenzielle Ersatzpflicht „dem Grunde nach“.

[10] 3. Der Kläger stützt sein Feststellungsbegehren darauf, dass Spät- und Dauerfolgen aus der teilweisen Versteifung seines Handgelenks nicht ausgeschlossen seien. Dies wurde vom Erstgericht auch festgestellt. Da die tatsächlich angewandte Operationsmethode jenes schädigende Ereignis darstellt, aus dem der Kläger künftige Spät- und Dauerfolgen ableitet, prüfte das Berufungsgericht zu Recht auch die Kausalität des ärztlichen Kunstfehlers für die Wahl der (zum teilweisen Funktionsverlust des Handgelenks führenden) angewendeten Operationsmethode bereits im Feststellungsprozess. Es ging jedoch zu Unrecht davon aus, dass dazu bereits ausreichende Feststellungen getroffen wurden.

[11] 4. Bei möglicherweise mit ärztlichen Behandlungsfehlern zusammenhängenden Gesundheitsschäden (hier: die Versteifung des Handgelenks) sind wegen der besonderen Schwierigkeiten eines exakten Beweises geringere Anforderungen an den Kausalitätsbeweis zu stellen (RS0038222 [T3]). Steht – wie hier – ein ärztlicher Behandlungsfehler fest und wurde die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch den ärztlichen Kunstfehler nicht bloß unwesentlich erhöht, hat der beklagte Arzt oder (wie hier) Krankenanstaltenträger zu beweisen, dass die ihm zuzurechnende Sorgfaltsverletzung „mit größter Wahrscheinlichkeit" nicht kausal für den Schaden des Patienten war. Es kehrt sich in diesen Fällen also die Beweislast für das (Nicht-)Vorliegen der Kausalität um (RS0038222 [T7]; RS0026768 [T4]). Dies aber eben erst dann, wenn der Kläger zunächst seinerseits den (Anscheins‑)Beweis erbracht hat, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den ärztlichen Kunstfehler nicht bloß unwesentlich erhöht wurde (RS0026768 [T8]; RS0038222 [T12]), was „unzweifelhaft“ feststehen muss (RS0026768 [T4]). Dass es zunächst am Patienten liegt, nachzuweisen, dass der Behandlungsfehler die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nicht bloß unwesentlich erhöht hat, gilt auch bei Unterlassung einer Operation zu einem (fachlich gebotenen) früheren Zeitpunkt (vgl 9 Ob 80/17f).

[12] 5. Das Erstgericht traf keine Feststellungen, aus denen sich ausreichend verlässlich ableiten ließe, ob der ärztliche (Diagnose‑)Fehler das Risiko, dass der Kläger „gelenksversteifend“ operiert werden muss, nicht bloß unerheblich erhöht hat. Aus der Negativfeststellung, wonach nicht feststeht, ob bei einem früheren (am 2. 5. 2016 erfolgten) Erkennen der Fehlstellung des Bruchs eine gelenkserhaltende Operationsmethode „zu wählen gewesen“ wäre, kann ein solcher Schluss nicht verlässlich gezogen werden. Dass die Verursachung der gelenksversteifenden Operation durch den ärztlichen Behandlungsfehler nicht ausgeschlossen werden konnte, reicht trotz Beweiserleichterung für den Nachweis der Kausalität des Behandlungsfehlers für eine Risikoerhöhung hinsichtlich dieser Operationsmethode nicht aus (vgl RS0038222 [T5]).

[13] 6. Mangels hinreichender Tatsachengrundlage zur Frage, ob die Wahrscheinlichkeit der Versteifung des Handgelenks (aus der sich nach den erstinstanzlichen Feststellungen noch Spät‑ und Dauerfolgen ergeben können) durch den ärztlichen Kunstfehler nicht bloß unwesentlich erhöht wurde, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird – allenfalls nach Ergänzung des Sachverständigenbeweises – festzustellen sein, ob der ärztliche Behandlungsfehler eine wesentliche Verringerung der Chance einer „gelenkserhaltenden“ Operation bewirkt oder ob er die Wahrscheinlichkeit einer „gelenksversteifenden“ Operation nur unwesentlich erhöht hat. Nur wenn ersteres vom Kläger erwiesen würde, träfe die Beklagte die Beweislast dafür, dass die ihr zuzurechnende Sorgfaltsverletzung des behandelnden Arztes im konkreten Fall mit größter Wahrscheinlichkeit für den fehlenden Gelenkserhalt nicht kausal war (vgl RS0038222 [T11, T12]).

[14] 7. Im weiteren Verfahren wird mit dem Kläger auch der Umfang seines Feststellungsbegehrens zu erörtern sein, das insoweit zu weit gefasst ist, als nicht nur die Feststellung der Haftung der Beklagten für durch den ärztlichen Kunstfehler und die – nach dem Klagevorbringen – dadurch verursachte Gelenksversteifung hervorgerufene künftige Schäden begehrt, sondern auf sämtliche künftigen Schäden „aus dem Behandlungsvertrag vom 20. 3. 2016, mit welchem eine Speichenfraktur am linken Handgelenk der klagenden Partei behandelt wurde“ abgestellt wird.

[15] 8. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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