OGH 9ObA78/20s

OGH9ObA78/20s25.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.

 Hopf als Vorsitzenden und die Hofrätin und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Harald Kohlruss (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei M***** D*****, vertreten durch Mag. Doris Braun, Rechtsanwältin in Graz gegen die beklagte Partei S***** K*****, vertreten durch die Konrad Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen 11.276,28 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Mai 2020, GZ 6 Ra 2/20s‑16, mit dem über Berufung beider Parteien das Teilurteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 6. Juni 2019, GZ 29 Cga 6/19g‑10, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:009OBA00078.20S.1125.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie (unter Aufrechterhaltung der ausgesprochenen Kostenvorbehalte) einschließlich des bereits in Rechtskraft erwachsenen Teils insgesamt als Teilurteil zu lauten haben:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 6.191,96 EUR brutto binnen 14 Tagen zu zahlen.“

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin begann bei der Beklagten am 1. 3. 2017 ein Lehrverhältnis als Einzelhandelskauffrau. Nachdem die Klägerin erklärte, die fünfmonatige Behaltezeit in Anspruch zu nehmen, stellte die Beklagte am 8. 11. 2018 bei der Wirtschaftskammer Steiermark den Antrag, ihr aus wirtschaftlichen Gründen die Weiterverwendung der Klägerin zu erlassen.

[2] Am 13. 11. 2018 legte die Klägerin die Lehrabschlussprüfung ab. Die Lehrzeit endete am 18. 11. 2018. Am 23. 11. 2018 unterfertigte die Klägerin einen (von der Beklagten vorbereiteten) unbefristeten und mit 19. 11. 2018 datierten Arbeitsvertrag mit einer Teilzeitbeschäftigung von 30 Wochenstunden. Die Klägerin hatte sich bereits zuvor im Hinblick auf die ihr bekannte wirtschaftliche Situation der Beklagten mit dieser Teilzeitbeschäftigung einverstanden erklärt. Für dieses Arbeitsverhältnis gilt der Kollektivvertrag für Angestellte und Lehrlinge in Handelsbetrieben (kurz: Handelsangestellten‑KV).

[3] Da zwar die Wirtschaftskammer den Antrag der Beklagten befürwortete, sich die Kammer für Arbeiter und Angestellte aber dagegen aussprach, hatte die Bezirkshauptmannschaft F***** zu entscheiden. Mit Bescheid vom 3. 12. 2018 sprach diese aus, dass der Beklagten die Pflicht zur Weiterverwendung der Klägerin erlassen werde, weil die Weiterverwendungspflicht aus wirtschaftlichen Gründen nicht erfüllt werden könne.

[4] Mit Schreiben vom 5. 12. 2018 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund des Bescheids der Bezirkshauptmannschaft F***** vom 3. 12. 2018 per 5. 12. 2018 ende.

[5] Die Klägerin begehrt von der Beklagten 11.276,28 brutto sA an restlichem Entgelt und Urlaubsersatzleistung (bis 6. 12. 2018) sowie Kündigungsentschädigung (einschließlich Sonderzahlungen und Urlaubsersatzleistung) von 7. 12. 2018 bis 15. 5. 2019. Das zur Erfüllung der Behaltepflicht abgeschlossene Arbeitsverhältnis hätte frühestens zum ersten nach Ablauf der Behaltezeit in Betracht kommenden Kündigungstermin aufgekündigt werden können. Sie mache daher von ihrem Wahlrecht auf Schadenersatz wegen Nichterfüllung in Höhe des Entgelts für die fiktive Dauer der Behaltezeit Gebrauch. Diesem Schadenersatzbegehren sei das Entgelt für eine Vollzeitbeschäftigung zugrunde zu legen, weil nach dem Handelsangestellten‑KV für die Zeit der Weiterverwendung eine Teilzeitbeschäftigung nicht vereinbart werden könne. Abgesehen davon sei die Teilzeitvereinbarung deshalb nicht gültig, weil sie nicht in ihrem Interesse gelegen sei.

[6] Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und wandte ein, dass der – zwar erst nach Beginn des Arbeitsverhältnisses erlassene – Bescheid dennoch wirksam und für die Gerichte bindend über den Erlass der Weiterverwendung der Klägerin abgesprochen habe. Schließlich habe die Beklagte rechtzeitig den Antrag auf Erlass der Weiterverwendungspflicht gestellt. Jedenfalls sei die Geschäftsgrundlage für den mit Wirkung vom 19. 11. 2018 abgeschlossenen Arbeitsvertrag weggefallen. Mangels Vorliegens einer Weiterverwendungspflicht habe sie das unabhängig davon vereinbarte reguläre Arbeitsverhältnis innerhalb der Probezeit auflösen dürfen. Zu Unrecht gehe die Klägerin von einer Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses aus. Eine solche habe die Beklagte nie ausgesprochen. Vor Ende des Lehrverhältnisses könne auch kein Antrag auf Bewilligung der Kündigung gestellt werden. Über einen derartigen Antrag habe die Bezirkshauptmannschaft auch nicht entschieden. Da die Teilzeitbeschäftigung über Ersuchen der Klägerin vereinbart worden sei, sei der Berechnung eines allfälligen Schadenersatzes nur das Entgelt für die Teilzeitbeschäftigung zugrunde zu legen. Der Klägerin wäre es überdies möglich gewesen, einen Verdienst zumindest in Höhe des bei der Beklagten zuletzt bezogenen Entgelts zu erzielen.

[7] Das Erstgerichtsprach mit Teilurteil über das „vertragsgemäße Entgelt nach §§ 1162b ABGB, § 29 AngG ('Kündigungsentschädigung') für den Zeitraum 6. 12. 2018 bis 6. 3. 2019“ (ohne Zinsen) ab. Es gab dem Klagebegehren mit 5.032,48 EUR brutto statt und wies das Mehrbegehren von 1.419,42 EUR brutto ab. Die Behaltepflicht der Beklagten sei durch den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft vom 3. 12. 2018, an den die Gerichte grundsätzlich gebunden seien, nicht berührt worden. Der Bescheid sei nämlich erst nach Beginn der Behaltezeit ergangen. Nach Beginn der Behaltezeit könne aber nur mehr die Bewilligung zur Kündigung erteilt werden. Eine solche liege jedoch nicht vor. Da die Behaltepflicht nach § 18 Abs 3 BAG nur dann entfallen könne, wenn dies durch Bescheid ausgesprochen werde, sei auch die Geschäftsgrundlage für den mit Wirkung vom 19. 11. 2018 abgeschlossenen Arbeitsvertrag nicht weggefallen. Da die Beklagte das Arbeitsverhältnis durch Kündigung frühestens zum 15. 5. 2019 frist- und termingerecht beenden hätte können, stünde der Klägerin eine Kündigungsentschädigung jedenfalls für drei Monate ohne Anrechnung eines versäumten Entgelts zu.

[8] Der Berechnung der Kündigungsentschädigung sei jedoch nur das von der Klägerin aufgrund ihrer Teilzeitbeschäftigung erzielte Entgelt zugrunde zu legen. Pkt XVII Z 2 des Handelsangestellten‑KV, wonach für die Zeit der Weiterverwendung Teilzeitbeschäftigung nicht vereinbart werden könne, sei einseitig zwingend. Da ein Lehrling bei Beendigung des Lehrverhältnisses auf den gesetzlichen bzw kollektivvertraglichen Weiterverwendungsanspruch rechtswirksam verzichten könne, könne er anstatt einer Vollzeitbeschäftigung auch eine Teilzeitbeschäftigung vereinbaren und dadurch auf das ihm zustehende Recht auf Weiterverwendung teilweise verzichten.

[9] Für den Zeitraum 6. 12. 2018 bis 6. 3. 2019 ergebe sich bei einer Normalarbeitszeit von 38,5 Stunden und einer vereinbarten Wochenarbeitszeit von 30 Stunden (78 % der Normalarbeitszeit) der Zuspruch von 5.032,48 EUR brutto (78 % des um 450,24 EUR brutto eingeschränkten Klagebegehrens von 6.902,14 EUR brutto); das Mehrbegehren von 1.419,42 EUR brutto sei abzuweisen gewesen.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin gegen den klagsabweisenden Teil dieser Entscheidung nicht, hingegen jener der Beklagten gegen den klagsstattgebenden Teil teilweise Folge. Es sprach der Klägerin 2.862,71 EUR brutto „an Kündigungsentschädigung (Gehalt/Sonderzahlungen/Urlaubsersatzleistung) für den Zeitraum 7. 12. 2018 bis 31. 1. 2019“ zu und wies 3.329,25 EUR brutto aus diesem Titel ab. Ein Antrag auf Erlassung der Behaltepflicht schließe auch den Antrag auf Bewilligung zur vorzeitigen Kündigung mit ein, weil über kein Aliud, sondern über ein bloßes Minus entschieden werde. Insbesondere im hier vorliegenden Fall einer nicht rechtzeitigen Entscheidung vor Lehrzeitende bedürfe es keines ausdrücklichen Eventualantrags. Da zum Zeitpunkt des Antrags der Beklagten auf Erlass der Weiterverwendungspflicht der Klägerin das Lehrverhältnis noch nicht beendet gewesen sei, impliziere die Entscheidung über die gänzliche Erlassung der Behaltepflicht im Falle der von der Beklagten nicht zu vertretenden Verzögerung der Entscheidung die Bewilligung der Kündigung eines in Erfüllung der gesetzlichen Bestimmungen in der Zwischenzeit abgeschlossenen Arbeitsverhältnisses vor Ablauf der Behaltefrist. Das durch Arbeitsvertrag vom 19. 11. 2018 begründete unbefristete Arbeitsverhältnis der Klägerin habe daher aufgrund der vertraglichen Vereinbarung, wonach das Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber unter vorheriger Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist am 15. oder Letzten eines Kalendermonats aufgelöst werden könne, unter Wahrung der Kündigungsfrist von sechs Wochen am 31. 1. 2019 geendet. Eine andere Form der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses als durch Kündigung nach Bewilligung gemäß § 18 Abs 3 BAG bestehe nicht. Dass die Beklagte darauf abstelle, dass sie keine Kündigung ausgesprochen habe, sei rechtlich nicht relevant, weil eine Auflösungserklärung stets so zu beurteilen sei, wie sie der Empfänger nach ihrem Wortlaut und dem Geschäftszweck unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände bei objektiver Betrachtungsweise verstehen habe können; auf eine davon abweichende subjektive Auffassung des Erklärenden komme es dabei nicht an. Die Rechtsauffassung des Erstgerichts zur rechtswirksam vereinbarten Teilzeitbeschäftigung während der Behaltezeit werde geteilt.

[11] Mit dem angefochtenen Teilurteil habe das Erstgericht nur über die für den Zeitraum 7. 12. 2018 bis 6. 3. 2019 (mit insgesamt 6.191,96 EUR) geltend gemachten Ansprüche auf Kündigungsentschädigung, Sonderzahlung zur Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung zur Kündigungsentschädigung entschieden. Diese Schadenersatzansprüche der Klägerin bestünden – auf Basis der Teilzeitbeschäftigung – in diesem Zeitraum bis 31. 1. 2019 mit insgesamt 2.862,71 EUR zu Recht.

[12] Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, weil Rechtsfragen zu klären seien, zu denen keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege. Die Fragen, ob für die Dauer der Behaltezeit (trotz anderslautender kollektivvertraglicher Bestimmung) eine Teilzeitvereinbarung getroffen werden könne und welche Wirkung ein fristgerecht eingebrachter, aber erst nach Anritt der Behaltezeit entschiedener Antrag auf Erlassung der Weiterverwendungspflicht entfalte, gingen in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinaus.

[13] In ihrer gegen den klagsabweisenden Teil der Berufungsentscheidung gerichteten Revision beantragt die Klägerin die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer weiteren Klagsstattgabe von 4.748,67 EUR sA; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[14] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die Revision der Klägerin ist zulässig und auch teilweise berechtigt.

[16] 1.1. Gemäß § 18 Abs 1 Berufsausbildungsgesetz (BAG) ist der Lehrberechtigte verpflichtet, den Lehrling, dessen Lehrverhältnis mit ihm gemäß § 14 Abs 1 oder § 14 Abs 2 lit e endet, im Betrieb drei Monate im erlernten Beruf weiter zu beschäftigen („Weiterverwendung von ausgelernten Lehrlingen“). Die Pflicht zur Weiterbeschäftigung der Klägerin ab 19. 11. 2018 lag hier vor, weil die Klägerin nach erfolgreicher Lehrabschlussprüfung vom 13. 11. 2018 ihre Lehre am 18. 11. 2018 beendet hatte (§ 14 Abs 1 lit e BAG). Gemäß Art XVII Z 2 Satz 2 des Handelsangestellten‑KV beträgt die Behaltefrist im Fall der Klägerin fünf Monate.

[17] 1.2. Der Zweck der Weiterverwendung des Lehrlings in dem von ihm erlernten Lehrberuf liegt unstrittig darin, dem ausgelernten Lehrling den Einstieg in das Arbeitsleben zu erleichtern, ihm erste praktische Erfahrungen als Arbeitnehmer im erlernten Beruf sammeln zu lassen und ihm eine Vervollkommnung seiner in der Lehrzeit erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen sowie das Aufsuchen eines Arbeitsplatzes innerhalb einer angemessenen Zeit zu ermöglichen (9 ObA 99/17z Pkt 2. mwN).

[18] 1.3. § 18 Abs 1 BAG bewirkt nicht einen Vertragsabschluss ex lege; diese Bestimmung normiert lediglich eine einseitige Verpflichtung des Lehrberechtigten zum Abschluss eines entsprechenden Arbeitsvertrags, deren Nichtbefolgung dem Lehrling einen Anspruch auf Erfüllung, gegebenenfalls auch auf Schadenersatz gibt (4 Ob 161/85; RS0052702). Bei der Weiterbeschäftigung des Lehrlings nach dem Ende der Lehrzeit wird nicht das bestehende Arbeitsverhältnis (= Lehrverhältnis) fortgesetzt, sondern ein neues Arbeitsverhältnis begründet (9 ObS 13/91 mwN; RS0053009 [T2]). In diesem Sinne haben die Parteien ab 19. 11. 2018 ein neues unbefristetes Arbeitsverhältnis abgeschlossen.

[19] 2.1. § 18 Abs 3 Satz 1 und 2 BAG lautet:

Die Landeskammer der gewerblichen Wirtschaft hat im Einvernehmen mit der Kammer für Arbeiter und Angestellte binnen 14 Tagen auf Antrag dem Lehrberechtigten die im Abs. 1 festgesetzte Verpflichtung zu erlassen oder die Bewilligung zur Kündigung vor Ablauf der im Abs. 1 vorgeschriebenen Beschäftigungsdauer zu erteilen, wenn diese Verpflichtung aus wirtschaftlichen Gründen, insbesondere bei Saisongewerben, nicht erfüllt werden kann. Wird die Entscheidung nicht innerhalb dieser Frist getroffen, so hat die Bezirksverwaltungsbehörde über diesen Antrag nach Anhörung der Landeskammer der gewerblichen Wirtschaft und der Kammer für Arbeiter und Angestellte endgültig zu entscheiden.

[20] 2.2. Die Zivilgerichte sind an diese Entscheidung gebunden (RS0052679).

[21] 3. Eine gänzliche Erlassung der Behaltezeit kommt nur bis zur Beendigung des Lehrverhältnisses in Betracht. Eine rückwirkende Befreiung von der Weiterverwendungspflicht ist nicht zulässig. Nach Antritt der Behaltezeit kann daher nur mehr eine Bewilligung zur vorzeitigen Kündigung erteilt werden (Preiss/Spitzl in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 18 BAG Rz 19; Aust in Aust/Gittenberger/Knallnigg‑Prainsack/Strohmayer, BAG2 § 18 Rz 53). Sofern über das Arbeitsverhältnis der Weiterverwendung bereits eine Vereinbarung vorliegt, besteht keine Möglichkeit, durch Erlassung der Behaltepflicht im Rahmen eines behördlichen Verfahrens gemäß § 18 Abs 3 BAG noch einzugreifen (4 Ob 43/78, DRdA 1979/8 [Neuwirth]; Kinscher, Berufsausbildungsgesetz², Anm 3 zu § 18 Abs 3 BAG; vgl Burger‑Ehrnhofer/Drs, Beendigung von Arbeitsverhältnissen, 395). Soweit sich aus der Veröffentlichung der Entscheidung 4 Ob 59/59 in Arb 7072, auf die sich die Revisionsbeantwortung stützt, anderes entnehmen lässt, wird ihr nicht gefolgt.

[22] 4.1. Ein gänzlicher Entfall der Verpflichtung zur Weiterverwendung nach Ende des Lehrverhältnisses, der nur im Falle der Befreiung von der Weiterverwendungspflicht eintritt, setzt voraus, dass der Lehrberechtigte noch während der aufrechten Lehrzeit so rechtzeitig einen entsprechenden Antrag an die zuständige Wirtschaftskammer stellt, dass diese – bzw allenfalls nach Devolution der Entscheidungskompetenz die Bezirksverwaltungsbehörde – noch rechtzeitig vor dem Entstehen der Behaltepflicht eine Entscheidung treffen kann (Aust in Aust/Gittenberger/Knallnigg‑Prainsack/Strohmayer, BAG2 § 18 Rz 53). Da der Lehrberechtigte schwer voraussehen kann, wann die Entscheidung über seinen noch vor Beendigung des Lehrverhältnisses gestellten Befreiungsantrag getroffen und ihm zukommen wird, weil § 18 Abs 3 BAG für die Bezirksverwaltungsbehörde keine Entscheidungsfrist vorsieht, empfiehlt Aust zugleich mit dem Antrag auf Befreiung von der Behaltepflicht einen Eventualantrag auf Bewilligung zur Kündigung während der Behaltezeit zu stellen. Dadurch soll gewährleistet werden, dass im Falle einer nicht rechtzeitigen Entscheidung vor Lehrzeitende bei Vorliegen der gesetzlich verlangten wirtschaftlichen Gründe dem Eventualantrag stattgegeben und die außerordentliche Kündigung bewilligt wird.

[23] 4.2. Die auf eine Meinung im Schrifttum (Preiss/Spitzl in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 18 BAG Rz 19) gestützte Rechtsansicht des Berufungsgerichts,ein Antrag auf gänzliche Erlassung der Behaltepflicht schließe einen Antrag auf Bewilligung zur vorzeitigen Kündigung mit ein, sodass es, weil über kein Aliud, sondern über ein Minus entschieden werde, insbesondere für den Fall einer nicht rechtzeitigen Entscheidung vor Lehrzeitende keines ausdrücklichen Eventualantrags bedürfe, wird vom Senat nicht geteilt. Nach dem Wortlaut des § 18 Abs 3 Satz 1 BAG kann der Lehrberechtigte entweder den Antrag stellen, ihm die Verpflichtung zur Weiterverwendung zu erlassen oder den Antrag, ihm die Bewilligung zur Kündigung vor Ablauf der Behaltefrist zu erteilen. Wäre der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass ein Antrag auf Erlassung der Behaltepflicht ohnehin auch einen Antrag auf Bewilligung zur vorzeitigen Kündigung miteinschließe, hätte es der ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeit einer alternativen Antragstellung nicht bedurft. Wurde nun aber, wie hier selbst die Beklagte einräumt, kein derartiger Antrag auf Bewilligung der Kündigung gestellt, kann auch nicht gesagt werden, dass dann, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung noch gar kein zu kündigendes Arbeitsverhältnis vorgelegen sei, die verspätete Entscheidung über die Erlassung der Behaltepflicht auch die Bewilligung der Kündigung eines in der Zwischenzeit abgeschlossenen Arbeitsverhältnisses impliziere. § 18 Abs 3 BAG sieht eben zwei Arten von Entscheidungen vor (Kinscher, Berufsausbildungsgesetz², Anm 3 zu § 18 Abs 3 BAG).

[24] 4.3. Dass mit den Entscheidungen über den jeweiligen Antrag nach § 18 Abs 3 BAG der besonderen wirtschaftlichen Situation des Lehrherrn entsprochen werden soll, ist richtig. Für ihre Berücksichtigung wurden aber vom Gesetzgeber entsprechende zeitliche Voraussetzungen und Hürden geschaffen. Vorliegend kann auch nach dem objektiven Inhalt des nach den §§ 6 und 7 ABGB auszulegenden Bescheids (vgl RS0008822; VwGH 28. 6. 2017, Ra 2017/07/0012) der Bezirkshauptmannschaft vom 3. 12. 2018, mit dem der Beklagten die Pflicht zur Weiterverwendung der Klägerin erlassen wurde, kein anderer Bedeutungsinhalt in Richtung einer Bewilligung der Kündigung beigemessen werden.

[25] 5.1. Die Weiterverwendungspflicht des Lehrberechtigten umfasst grundsätzlich dessen Verpflichtung zur Begründung eines neuen Vollzeitarbeitsverhältnisses mit dem ausgelernten Lehrling (Preiss/Spitzl in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 18 BAG Rz 6). Da Letzterer aber auf das Recht der Weiterverwendung bei dem Lehrberechtigten ab dem Zeitpunkt des Entstehens der Behaltepflicht – also nach Beendigung des Lehrverhältnisses gemäß § 14 Abs 1 oder 2 lit e BAG – rechtsgültig sogar zur Gänze verzichten kann, ist es dem Lehrling ab dem Entstehen der Behaltepflicht rechtlich auch möglich, für die Dauer der Weiterverwendungszeit bloß ein Teilzeitarbeitsverhältnis einzugehen (Aust in Aust/Gittenberger/Knallnigg-Prainsack/Strohmayer, BAG2 § 18 Rz 20). Um Missbräuche zu vermeiden, meint Aust allerdings, dass die Gültigkeit einer diesbezüglichen Vereinbarung daran zu messen sei, ob ein wesentliches sachliches bzw rechtliches Interesse am Teilzeitarbeitsverhältnis auf Seiten des ausgelernten Lehrlings gegeben sei. Liege ein solches Interesse des ausgelernten Lehrlings im konkreten Fall nicht vor, sei eine dennoch abgeschlossene Teilzeitarbeitsvereinbarung teilnichtig; der Lehrling habe Anspruch auf Weiterverwendung in einem Vollzeitarbeitsverhältnis bzw Anspruch auf Bezahlung des der Vollzeitarbeit entsprechenden Entgelts gemäß § 1155 ABGB.

[26] 5.2. Auf diese Überlegungen muss aber hier nicht näher eingegangen werden, weil Art XVII Z 2 Satz 4 des Handelsangestellten‑KV vorrangig bestimmt, dass für die Zeit der Weiterverwendung keine Teilzeitbeschäftigung vereinbart werden kann. Gemäß § 3 Abs 1 Satz 1 ArbVG können Bestimmungen in Kollektivverträgen, soweit sie die Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern regeln, durch Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag weder aufgehoben noch beschränkt werden. Damit wird klargestellt, dass die Normen des einwirkungsfähigen normativen Teils eines Kollektivvertrags zugunsten des Arbeitnehmers einseitig zwingende Wirkung haben. Die Kollektivvertragsnormen stellen daher den Mindeststandard zugunsten des Arbeitnehmers dar. Die im zweiten Satz des § 3 Abs 1 ArbVG vorgesehene Möglichkeit des Ausschlusses von günstigeren Sondervereinbarungen gibt dagegen den Normen des Kollektivvertrags zweiseitig zwingende Wirkung, die eine Abänderung nach jeder Richtung hin verhindert. Dieser Ausschluss von Sondervereinbarungen muss daher ausdrücklich geschehen oder zumindest ohne jeden Zweifel angeordnet werden (9 ObA 4/16b [Pkt 5. mwN]; RS0051032[T2]; Mosler/Felten in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht 25 § 3 Rz 17). Die Frage, ob Art XVII Z 2 Satz 4 des Handelsangestellten‑KV mit zweiseitig zwingender Wirkung ausgestaltet ist, braucht nach der Lage des konkreten Falls aber nicht abschließend geklärt werden.

[27] 5.3. Eine Sondervereinbarung ist nämlich jedenfalls nur dann gültig, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger ist, als die (einseitig zwingende) kollektivvertragliche Regelung (§ 3 Abs 1 Satz 2 ArbVG). Bei der praktischen Anwendung des Günstigkeitsprinzips (§ 3 Abs 2 ArbVG) ist zwar grundsätzlich auf die Einzelfälle der betroffenen Arbeitnehmer abzustellen; maßgeblich sind aber nicht Meinung oder Vorstellungswelt der betroffenen Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, sondern es ist nach objektiven sozialpolitischen Wertmaßstäben zu prüfen (RS0051056; Reissner in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 3 ArbVG Rz 28).

[28] 5.4. Berücksichtigt man den Zweck der Weiterverwendungspflicht des Lehrlings in dem von ihm erlernten Beruf (siehe Pkt 1.2.) und die Tatsache des für die Teilzeitbeschäftigung gegenüber einer Vollzeitbeschäftigung geringeren Entgelts, hält die zwischen den Parteien im neuen Arbeitsvertrag vereinbarte Teilzeitbeschäftigung dieser Günstigkeitsprüfung nicht stand. Das (einzige) von der Beklagten dagegen ins Treffen geführte Argument, die Klägerin habe die Teilzeitbeschäftigung im Rahmen der Privatautonomie „freiwillig“ vereinbart, übergeht dieses objektive Prüfungskriterium. Selbst wenn man bei der Günstigkeitsprüfung im vorliegenden Fall darauf abstellen wollte, in wessen Interesse (der Klägerin oder der Beklagten) die Vereinbarung der Teilzeitbeschäftigung getroffen wurde (vgl 9 ObA 145/92 = DRdA 1993/17 [Eichinger]), ist für die Beklagte nichts gewonnen. Nach den bindenden Feststellungen hat sich die Klägerin nämlich lediglich aufgrund der wirtschaftliche Situation der Beklagten mit dieser Teilzeitbeschäftigung einverstanden erklärt.

[29] 6. Da die Beklagteden Arbeitsvertrag mit der Klägerin mit Schreiben vom 5. 12. 2018 unberechtigt für vorzeitig beendet erklärt hat, stehen der Klägerin gemäß § 29 AngG für den Zeitraum, der bis zur ordnungsgemäßen Beendigung des unbefristeten Arbeitsverhältnisses durch Kündigung der Beklagten auf den ersten in Betracht kommenden Kündigungstermin nach Ablauf der Behaltezeit hätte verstreichen müssen (9 ObA 187/94; Aust in Aust/Gittenberger/Knallnigg‑Prainsack/Strohmayer, BAG2 § 18 Rz 31), die vertragsmäßigen Ansprüche zu.

[30] 7. Die von der Klägerin für die ersten drei Monate dieses Zeitraums ohne einer Anrechnung nach § 29 AngG geltend gemachten Ansprüche wurden der Höhe nach von der Beklagten nur bezüglich der Berechnung des Gehalts auf Basis einer Vollzeitbeschäftigung bestritten. Damit errechnet sich der Klagszuspruch von brutto 6.191,96 EUR aus dem Gehalt von 4.863,31 EUR, den anteiligen Sonderzahlungen von 799,23 EUR und der anteiligen Urlaubsersatzleistung von 529,42 EUR. Über Zinsen haben die Vorinstanzen bisher noch nicht abgesprochen. Soweit der Revisionsantrag darüber hinausgehend auf einen weiteren (nicht nachvollziehbaren, weil nicht aufgeschlüsselten) Zuspruch von 4.748,67 EUR gerichtet ist, also insgesamt einen Klagszuspruch von 7.611,38 EUR anstrebt, ist die Revision nicht berechtigt.

[31] Zusammengefasst ist der Revision der Klägerin danach teilweise im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang Folge zu geben.

[32] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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