European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00038.20S.0901.000
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil unter Einschluss der in Rechtskraft erwachsenen Teile zu lauten hat:
„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. 1. 2017 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, wird abgewiesen.
2. Bei der klagenden Partei liegt ab 1. 1. 2017 vorübergehende Invalidität vor. Als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit ist das Ergebnis weiterer Therapiemaßnahmen abzuwarten. Berufliche Maßnahmen der Rehabilitation sind nicht zweckmäßig.
3. Das Klagebegehren, es werde festgestellt, dass die klagende Partei ab 1. 1. 2017 für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß habe, wird abgewiesen.“
Entscheidungsgründe:
[1] Strittig ist im Verfahren der Anspruch der Klägerin auf Rehabilitationsgeld und die Frage, ob dieses zu exportieren ist. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 5. März 2020, C‑135/19 (ECLI:EU:C:2020:177), über die ihm vom Obersten Gerichtshof im Verfahren 10 ObS 66/18f zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004 ), denen auch für das vorliegende Verfahren Bedeutung zukommt, entschieden. Das unterbrochene Revisionsverfahren (10 ObS 18/19y) wurde bereits mit Beschluss vom 26. 5. 2020 fortgesetzt.
[2] Die ***** 1964 geborene Klägerin lebt seit 1985 in Deutschland und hat dort ihren Wohnsitz. Sie erwarb in Österreich zwischen Juli 1979 und Mai 1985 insgesamt 96 Versicherungsmonate, davon 61 Beitragsmonate der Pflichtversicherung und 35 Monate an Ersatzzeiten. In Deutschland erwarb sie im Zeitraum September 1985 bis Dezember 2015 zusammen 319 Versicherungsmonate „für die Begründung des Anspruchs auf alle Rentenarten“. Die Klägerin bezieht seit 1. 2. 2017 – derzeit befristet mit 31. 5. 2019 – eine (deutsche) Rente wegen voller Erwerbsminderung.
[3] Mit Bescheid vom 2. 5. 2018 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Invaliditätspension mangels Vorliegens dauerhafter Invalidität ab. Sie sprach gleichzeitig aus, dass bei der Klägerin vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten ab 1. 1. 2017 vorliege. Es bestehe kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation. Als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sei der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten. Es bestehe kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung.
[4] Die Klägerin begehrte mit ihrer Klage die Zuerkennung einer Invaliditätspension, hilfsweise von Rehabilitationsgeld im gesetzlichen Ausmaß.
[5] Die Beklagte wandte dagegen vor allem ein, dass die Klägerin in Deutschland lebe und dort ihren sozialen und familiären Mittelpunkt habe. Sie weise kein Naheverhältnis zu Österreich auf, weshalb sie keinen Anspruch auf Rehabilitationsgeld habe.
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension ab dem 1. 1. 2017 ab. Es stellte fest, dass ab 1. 1. 2017 bei der Klägerin vorübergehende Invalidität vorliege und als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit das Ergebnis weiterer Therapiemaßnahmen abzuwarten sei. Berufliche Maßnahmen der Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Die Klägerin habe ab 1. 1. 2017 für die weitere Dauer ihrer Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Wie das Erstgericht bejahte es die Verpflichtung der Beklagten, das Rehabilitationsgeld aufgrund dessen Sondercharakters an der Schnittstelle zwischen Krankheit und Invalidität an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen. Das Rehabilitationsgeld sei Gegenleistung zu den in Österreich gezahlten Versicherungsbeiträgen. Die dadurch erworbene Vergünstigung dürfe nicht durch Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte eines Unionsbürgers verloren gehen. Daran ändere der Umstand nichts, dass die Klägerin in Deutschland eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehe. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[8] Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens auf Feststellung des Bestehens des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld begehrt.
[9] Die Klägerin machte von der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung zu erstatten, keinen Gebrauch.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die Revision ist zulässig und berechtigt.
[11] Mit Beschluss vom 19. 12. 2018, 10 ObS 66/18f, legte der Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
„1. Ist das österreichische Rehabilitationsgeld nach den Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
‑ als Leistung bei Krankheit nach Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung oder
‑ als Leistung bei Invalidität nach Art 3 Abs 1 lit c der Verordnung oder
‑ als Leistung bei Arbeitslosigkeit nach Art 3 Abs 1 lit h der Verordnung
zu qualifizieren?
2. Ist die Verordnung (EG) Nr 883/2004 im Licht des Primärrechts dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat als ehemaliger Wohnstaat und Beschäftigungsstaat verpflichtet ist, Leistungen wie das österreichische Rehabilitationsgeld an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen, wenn diese Person den Großteil der Versicherungszeiten aus den Zweigen Krankheit und Pension als Beschäftigte in diesem anderen Mitgliedstaat (zeitlich nach der vor Jahren stattgefundenen Verlegung des Wohnsitzes dorthin) erworben hat und seit dem keine Leistungen aus der Kranken‑ und Pensionsversicherung des ehemaligen Wohn‑ und Beschäftigungsstaats bezogen hat?“
[12] Der EuGH hat diese Fragen in seinem Urteil vom 5. März 2020, C‑135/19, wie folgt beantwortet:
„1. Eine Leistung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rehabilitationsgeld stellt eine Leistung bei Krankheit iSd Art 3 Abs 1 Buchst a der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung dar.
2. Die Verordnung Nr 883/2004 in der durch die Verordnung Nr 465/2012 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie einer Situation nicht entgegensteht, in der einer Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rehabilitationsgelds versagt wird, da diese Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hat.“
[13] Der EuGH stellte damit klar, dass die Klägerin im Verfahren 10 ObS 66/18f als nicht erwerbstätige Person unter Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 fällt. Sie unterliegt nach dieser Bestimmung ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats (in jenem Fall den deutschen Rechtsvorschriften). Nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit und Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat gehörte sie nicht mehr dem System der sozialen Sicherheit ihres Herkunftsstaats an (EuGH C‑135/19, Rn 50–52). Es besteht unter diesen konkreten Umständen keine Verpflichtung der Beklagten, Rehabilitationsgeld nach Deutschland zu exportieren (10 ObS 35/20z).
[14] Eine dem Verfahren 10 ObS 66/18f (= 10 ObS 35/20z) vergleichbare Situation liegt auch im hier zu entscheidenden Verfahren vor. Die Klägerin lebt bereits seit 1985 in Deutschland. Sie ist nicht erwerbstätig und bezieht in Deutschland eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Sie hat ihre Erwerbstätigkeit in Österreich bereits vor vielen Jahren, nämlich im Mai 1985 beendet und ist demnach nicht mehr in der österreichischen Krankenversicherung versichert. Sie hat nach den Feststellungen den größten Teil ihrer Versicherungszeiten in Deutschland zurückgelegt. Demnach fällt die Klägerin unter Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 . Sie unterliegt den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, daher im vorliegenden Fall den deutschen Rechtsvorschriften. Eine Verpflichtung Österreichs, Rehabilitationsgeld als eine Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 in einer solchen Situation nach Deutschland zu exportieren, besteht nicht.
[15] Der Revision war daher Folge zu geben.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)