OGH 10ObS35/20z

OGH10ObS35/20z26.5.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr.

 Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*****, Deutschland, vertreten durch Dr. Andreas Pfeiffer, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rehabilitationsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 17. Jänner 2018, GZ 12 Rs 101/17 k‑42, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 29. September 2017, GZ 15 Cgs 61/16f‑23, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00035.20Z.0526.000

 

Spruch:

 

I. Das Revisionsverfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil einschließlich seines in Rechtskraft erwachsenen Teils insgesamt lautet:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab dem Stichtag eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß, in eventu Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sowie Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, in eventu Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zu gewähren, wird abgewiesen.“

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

Die am 28. 10. 1965 geborene Klägerin ist österreichische Staatsbürgerin, hat den Beruf einer Bürokauffrau erlernt und arbeitete bis 1990 in Österreich. Etwa 1990 zog sie aufgrund der Heirat mit einem deutschen Staatsangehörigen nach Deutschland, wo sie seither wohnt. Ab der Übersiedlung war sie nur noch in Deutschland berufstätig, zuletzt im Jahr 2013 als Bürokauffrau. Sie hat in Österreich 59 Versicherungsmonate (27 Beitragsmonate und 32 Monate Ersatzzeit) und in Deutschland 235 Versicherungsmonate erworben. Seit Ende 1990 unterliegt sie nicht mehr der österreichischen gesetzlichen Sozialversicherung und bezog keine Leistungen aus Österreich.

Mit Bescheid vom 1. 4. 2016 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 18. 6. 2015 auf Gewährung einer Invaliditätspension sowie von Maßnahmen der medizinischen oder beruflichen Rehabilitation ab. Sie stellte weiters fest, dass kein Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation bestehe und Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien.

Die Klägerin begehrte, ihr eine Invaliditätspension, in eventu Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation sowie Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, in eventu Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zu gewähren. Sie sei arbeitsunfähig. Es liege ein Naheverhältnis zu Österreich vor, weil sie österreichische Staatsbürgerin sei und Versicherungsmonate in Österreich erworben habe. Sie wohne in der Nähe von Österreich und habe guten Kontakt zu den in Österreich lebenden Eltern und zwei Geschwistern.

Die Beklagte bestritt das Vorliegen von Invalidität und – sollte vorübergehende Invalidität vorliegen – die Verpflichtung, an die Klägerin mit Wohnsitz in Deutschland Rehabilitationsgeld zu zahlen. Das Rehabilitationsgeld sei unionsrechtlich eine Leistung bei Krankheit. Sein Export würde zu nicht sachgerechten Lösungen führen. Eine geringe in Österreich erworbene Anzahl von Versicherungsmonaten führe – wegen des Fehlens eines Kürzungsfaktors nach dem Verhältnis der in den einzelnen Mitgliedstaaten erworbenen Versicherungszeiten – zu unverhältnismäßig hohen Leistungen. Der Pensionsversicherungsanstalt sei es nicht möglich, im Sinn der innerstaatlichen Bestimmungen zum Rehabilitationsgeld Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation im Ausland zu erbringen. Der Klägerin fehle die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension ab. Es stellte fest, dass ab 18. Juni 2015 für voraussichtlich mindestens sechs Monate vorübergehende Invalidität vorliege und ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation bestehe. Die Klägerin habe ab diesem Zeitpunkt für die weitere Dauer ihrer vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten nur gegen die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld erhobenen Berufung nicht Folge. Wie das Erstgericht bejahte es die Verpflichtung der Beklagten, das Rehabilitationsgeld aufgrund dessen Sondercharakters an der Schnittstelle zwischen Krankheit und Invalidität an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen. Das Rehabilitationsgeld sei Gegenleistung zu den in Österreich gezahlten Versicherungsbeiträgen. Die dadurch erworbene Vergünstigung dürfe nicht durch Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte eines Unionsbürgers verloren gehen. Die Revision sei zur Klärung der Frage des Exports von Rehabilitationsgeld bei lange zurückliegenden österreichischen Versicherungszeiten und einem länger zurückliegenden Aufenthalt in Österreich zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Klägerin beantwortete Revision der Beklagten.

I. Aus Anlass der Revision der Beklagten legte der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 19. 12. 2018, AZ 10 ObS 66/18f, dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

„1. Ist das österreichische Rehabilitationsgeld nach den Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

‑ als Leistung bei Krankheit nach Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung oder

‑ als Leistung bei Invalidität nach Art 3 Abs 1 lit c der Verordnung oder

‑ als Leistung bei Arbeitslosigkeit nach Art 3 Abs 1 lit h der Verordnung

zu qualifizieren?

2. Ist die Verordnung (EG) 883/2004 im Licht des Primärrechts dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat als ehemaliger Wohnstaat und Beschäftigungsstaat verpflichtet ist, Leistungen wie das österreichische Rehabilitationsgeld an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen, wenn diese Person den Großteil der Versicherungszeiten aus den Zweigen Krankheit und Pension als Beschäftigte in diesem anderen Mitgliedstaat (zeitlich nach der vor Jahren stattgefundenen Verlegung des Wohnsitzes dorthin) erworben hat und seit dem keine Leistungen aus der Kranken‑ und Pensionsversicherung des ehemaligen Wohn‑ und Beschäftigungsstaats bezogen hat?“

II. Der EuGH hat diese Fragen in seinem Urteil vom 5. März 2020, C‑135/19 , Pensionsversicherungsanstalt (Prestation pour la rééducation) wie folgt beantwortet:

„1. Eine Leistung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rehabilitationsgeld stellt eine Leistung bei Krankheit iSd Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koodinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung dar.

2. Die Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie einer Situation nicht entgegensteht, in der einer Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rehabilitationsgelds versagt wird, da diese Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hat.“

III. Der EuGH stellte klar, dass die Klägerin als nicht erwerbstätige Person unter Art 11 Abs 3 lit e der Verordnung Nr 883/2004 fällt, nach dieser Bestimmung ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats, demnach den deutschen Rechtsvorschriften, unterliegt und nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit und Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat nicht mehr dem System der sozialen Sicherheit ihres Herkunftsstaats angehörte (Rz 50–52).

IV. Damit ist die im Revisionsverfahren entscheidende Frage des Exports von Rehabilitationsgeld im Sinne des Standpunkts der beklagten Partei beantwortet. Es besteht keine Verpflichtung, das Rehabilitationsgeld an die in Deutschland wohnende Klägerin zu zahlen. Mit dem erstmals im Rechtsmittelstadium erhobenen Vorbringen zu einer geplanten, aber an den hohen Mietpreisen gescheiterten Übersiedlung nach Österreich und einer dort ausgeübten geringfügigen Beschäftigung verstößt die Klägerin gegen das auch im Sozialrechtsverfahren ausnahmslos geltende Neuerungsverbot. Schon deshalb ist dieses Vorbringen unbeachtlich.

V. Die Klägerin hat nur für die Revisionsbeantwortung Kosten verzeichnet. Anhaltspunkte für einen Kostenzuspruch iSd § 77 Abs 1 Z 2 lit b wurden nicht geltend gemacht.

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