OGH 9ObA41/20z

OGH9ObA41/20z26.8.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei 1. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Göstinger Straße 26, 8010 Graz, und 2. Österreichische Gesundheitskasse, Josef-Pongratz-Platz 1, 8010 Graz, beide vertreten durch Dr. Peter Schaden, Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei W***** GesmbH, *****, vertreten durch Held Berdnik Astner & Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen 157.946,53 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 20. Februar 2020, GZ 7 Ra 67/19f‑46, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:009OBA00041.20Z.0826.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der Dienstgeber oder ein ihm gemäß § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, den Trägern der Sozialversicherung alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen.

2. Im Allgemeinen ist grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich vorhersehbar ist (RS0030644). Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist demnach nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (RS0085332). Die Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften und Dienstnehmerschutzbestimmungen muss insoweit an sich noch kein grobes Verschulden begründen (vgl RS0026555). Andererseits kann aber auch schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist (RS0030622). Wegen ihrer Einzelfallbezogenheit kann die Beurteilung des Verschuldensgrades regelmäßig nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (RS0087606 ua).

3. Die Vorinstanzen haben der Beklagten als grobes Verschulden zur Last gelegt, dass die Maschine, bei der die Versicherte zu Schaden kam, weder über eine Schutzabdeckung noch einen Not-Aus-Schalter verfügte und die Beklagte keine gerätebezogene Risikoanalyse durchführte, um entsprechende technische Anpassungen vorzunehmen, dies, obwohl sie erkannt hatte, dass eine entsprechende Gefahr bestand und ein sicherer Zustand mit vertretbarem Aufwand zu realisieren gewesen wäre. Es sei daher ein Verstoß gegen § 3 Abs 2, § 4 Abs 1 Z 2, Abs 3 und Abs 4 sowie § 7 Z 5 ASchG und §§ 45 f AM-VO vorgelegen. Weiters habe die Beklagte gegen die Verpflichtung verstoßen, die Arbeitnehmer über die Gefahren für Sicherheit und Gesundheit zu informieren. Die Leitlinien zur Sicherheit seien allgemein gehalten gewesen und nicht geeignet gewesen, ein Hineingreifen in die Maschine bei laufendem Betrieb zu verhindern. Der Leiter der entsprechenden Abteilung, der für die Einschulung und Einhaltung der Sicherungsvorschriften zuständig gewesen sei, habe diese nicht gekannt und habe daher seinen Unterweisungs- und Überwachungspflichten nicht entsprechen können. Eine Überprüfung der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften sei nicht erfolgt und keine organisatorischen Maßnahmen zur Gefahrverhinderung gesetzt worden.

4. Die außerordentliche Revision argumentiert dagegen, dass ein Eigenverschulden der Versicherten ebenfalls hätte berücksichtigt werden müssen, was dazu geführt hätte, dass das Verschulden der Beklagten nur als leicht fahrlässig zu beurteilen gewesen wäre.

Richtig ist, dass, auch wenn § 334 Abs 3 ASVG bestimmt, dass durch ein Mitverschulden des Versicherten die Haftung des Arbeitgebers gemäß § 334 Abs 1 ASVG weder aufgehoben noch gemindert wird, ein allfälliges Mitverschulden des Versicherten bei der Beurteilung, ob der Arbeitsunfall durch eine grobe Fahrlässigkeit des Arbeitgebers verursacht wurde, mitzuberücksichtigen ist (RS0085538).

Diese Judikatur wurde von den Vorinstanzen aber ohnehin beachtet. Die dazu vertretene Rechtsauffassung, dass ein Eigenverschulden der Versicherten aufgrund der mangelhaften Unterweisung und dem Umstand, dass das Hineingreifen in die laufende Maschine zur Probenentnahme vom unmittelbar Vorgesetzten nicht nur geduldet, sondern sogar selbst praktiziert wurde, als nur gering anzusehen und nicht geeignet ist, das Verschulden der Beklagten zu mindern, ist nicht zu beanstanden.

5. Auch aus dem Umstand, dass die eigentliche Verletzung dadurch entstand, dass eine zu Hilfe kommende Kollegin der Versicherten in einer Fehlreaktion die schon zum Stillstand gekommene Maschine neuerlich einschaltete, ist für die Beklagte nichts zu gewinnen.

Ein adäquater Kausalzusammenhang liegt auch dann vor, wenn eine weitere Ursache für den entstandenen Schaden dazu getreten ist und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge dieses Hinzutreten als wahrscheinlich zu erwarten ist, jedenfalls aber nicht außerhalb der menschlichen Erwartung liegt. Es kommt nur darauf an, ob nach den allgemeinen Kenntnissen und Erfahrungen das Hinzutreten der weiteren Ursache, wenn auch nicht gerade normal, so doch wenigstens nicht gerade außergewöhnlich ist (RS0022918). Die Adäquanz fehlt dann, wenn das schädigende Ereignis für den eingetretenen Schaden nach allgemeiner Lebenserfahrung gleichgültig ist und nur durch eine außergewöhnliche Verkettung von Umständen eine Bedingung für den Schaden war (RS0098939).

Ob im Einzelfall ein Schaden noch als adäquate Folge eines schädigenden Ereignisses anzusehen ist, betrifft im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO, weil dabei die Umstände des Einzelfalls maßgebend sind und der Lösung dieser Frage keine über den Anlassfall hinausgehende und daher keine erhebliche Bedeutung im Sinn der angeführten Gesetzesstelle zukommt. Ebenso stehen bei einer Beurteilung nach der Normadäquanz die Umstände des Einzelfalls im Vordergrund (RS0110361).

Auch die Frage, wie weit der Normzweck (Rechtswidrigkeitszusammenhang) reicht, ist das Ergebnis einer Auslegung im Einzelfall (RS0027553 [T11]; RS0082346).

Die Arbeitnehmerschutzbestimmungen sind Schutzvorschriften im Sinne des § 1311 ABGB zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Arbeitnehmer bei ihrer beruflichen Tätigkeit (RS0029542 [T3]). Durch sie sollen auch Gefahren, die durch eine nicht ordnungsgemäße Verwendung der Maschine entstehen, verhindert werden (RS0124438). Gerade mechanische Schutzvorrichtungen dienen auch dazu, eine Risikoverwirklichung bei menschlichem Fehlverhalten zu verhindern. Eine Fehlreaktion von Helfern in einer Notsituation ist entgegen der außerordentlichen Revision, nicht außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung, sondern etwas, womit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gerechnet werden muss.

Im konkreten Fall hat gerade das Fehlen des Not-Aus-Schalters das irrtümliche Wiedereinschalten der Maschine durch die Kollegin der Versicherten erst ermöglicht.

Wenn die Vorinstanzen daher davon ausgegangen sind, dass auch unter Berücksichtigung des Handelns der Kollegin der Schaden der versicherten Arbeitnehmerin durch das Fehlverhalten der Beklagten adäquat verursacht wurde, hält sich diese Beurteilung im Rahmen des gesetzlich eingeräumten Ermessenspielraums.

Dass durch die Vorschriften des Arbeitnehmerschutzes gerade auch solche Unfallverläufe vermieden werden sollen, kann nicht zweifelhaft sein.

6. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs können, wenn in der Berufung nur in bestimmten Punkten eine Rechtsrüge ausgeführt wurde, andere Punkte in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden, jedenfalls dann, wenn es um selbstständig zu beurteilende Rechtsfragen geht (RS0043573 [insb T2]).

Gegen die schon vom Erstgericht bejahte Repräsentantenstellung des Vorgesetzten der Versicherten hat sich die Beklagte in der Berufung aber nicht gewendet. Eine entsprechende Rechtsrüge kann daher in der Revision nicht nachgeholt werden. Daran ändert nichts, dass das Berufungsgericht in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf verwiesen hat, die diesbezügliche Rechtsauffassung des Erstgerichts zu teilen.

7. Der Beklagten gelingt es daher nicht, eine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen. Die außerordentliche Revision der Beklagten ist daher zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf diese Zurückweisung nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

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