OGH 10ObS78/19x

OGH10ObS78/19x25.6.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Günter Hintersteiner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei K*****, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65–67, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. April 2019, GZ 7 Rs 39/19k‑24, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00078.19X.0625.000

 

Spruch:

I. Soweit sich das als „außerordentliche Revision“ bezeichnete Rechtsmittel gegen die zweitinstanzliche Kostenentscheidung wendet, wird es als jedenfalls unzulässig zurückgewiesen.

II. Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Zu Punkt I. des Spruchs:

Nach § 528 Abs 2 Z 3 ZPO ist ein Rekurs gegen Entscheidungen der zweiten Instanz über den Kostenpunkt ausgeschlossen. Das Gericht zweiter Instanz entscheidet in allen mit Kostenansprüchen zusammenhängenden Fragen endgültig (RS0044233); die Anrufung des Obersten Gerichtshofs im Kostenpunkt ist daher ausgeschlossen. Auf das Revisionsvorbringen, das Berufungsgericht habe zu Unrecht keinen Grund für einen Kostenersatz nach Billigkeit als gegeben erachtet, ist deshalb nicht einzugehen.

Zu Punkt II. des Spruchs:

1.1 Für die Interpretation eines Bescheids ist sein objektiver Erklärungsgehalt unter Heranziehung der Bescheidgründe maßgeblich (10 ObS 3/17i SSV‑NF 31/22 mwH; RS0114922 [T1]).

1.2 Die Beklagte anerkannte den Unfall des Klägers vom 7. 10. 2016 mit Bescheid vom 7. 6. 2017 als Arbeitsunfall und sprach dem Kläger eine vorläufige Versehrtenrente von 100 % für den Zeitraum von 8. 4. bis 9. 4. 2017 und in Höhe von 20 % ab 10. 4. 2017 zu („Die Versehrtenrente wird als vorläufige Rente festgesetzt“, Beil ./A). Eine gegen diesen Bescheid beim Erstgericht eingebrachte Klage zog der Kläger zurück, nachdem der im sozialgerichtlichen Verfahren beigezogene unfallchirurgische Sachverständige eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von (nur) 15 % ermittelte. Mit Bescheid vom 27. 11. 2017 wiederholte die Beklagte den Bescheid vom 7. 6. 2017 im Umfang der Rentenzuerkennung, wobei auf die Zurücknahme der Klage Bezug genommen wurde. Mit dem im nunmehrigen Verfahren angefochtenen Bescheid vom 7. 2. 2018 stellte die Beklagte ua fest, dass kein Anspruch auf Dauerrente bestehe.

1.3 Dem hält der Revisionswerber entgegen, dass über die Dauerrente bereits mit dem Wiederholungsbescheid vom 27. 11. 2017 entschieden worden sei, weil dieser nicht ausdrücklich von einer „vorläufigen Rente“ spreche. Die Beklagte bezog sich jedoch im Spruch des Wiederholungsbescheids vom 27. 11. 2017 ausdrücklich auf die zuvor erfolgte Zurücknahme der Klage im Verfahren vor dem Erstgericht und begründete ihre Entscheidung insbesondere auch durch die Bezugnahme auf die §§ 71 und 72 ASGG. Wenn das Berufungsgericht vor diesem Hintergrund davon ausgeht, dass mit dem Wiederholungsbescheid vom 27. 11. 2017 nach seinem objektiven Inhalt nur über die vorläufige Versehrtenrente, nicht aber über ein Dauerrente abgesprochen wurde, begegnet dies keinen Bedenken.

2.1 Eine Regelung ist nicht schon dann gleichheitswidrig, wenn ihr Ergebnis nicht in allen Fällen als befriedigend angesehen wird (RS0053882). Dem Gesetzgeber steht verfassungsrechtlich insoweit ein Gestaltungsspielraum zu, als er in seinen rechts- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist. Gerade im Sozialversicherungsrecht ist eine durchschnittliche Betrachtungsweise erforderlich, die auf den Regelfall abstellt und damit Härten in Einzelfällen nicht ausschließen kann (RS0053889). Das aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitete Sachlichkeitsgebot wäre nur dann verletzt, wenn der Gesetzgeber zur Zielerreichung völlig ungeeignete Mittel vorsieht oder wenn die vorgesehenen, an sich geeigneten Mittel zu einer sachlich nicht begründbaren Differenzierung führen (RS0058455).

2.2 Das Berufungsgericht hat unter Beachtung dieser Rechtsprechung die vom Kläger behauptete Verletzung des Gleichheitssatzes des Art 7 B‑VG durch § 203 Abs 1 letzter Teilsatz ASVG mit ausführlicher Begründung in vertretbarer Weise verneint. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist nach der Rechtsprechung die Beeinträchtigung der Fähigkeit des Versicherten, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten im gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen (Tomandl in Tomandl, System des SV‑Rechts [33. ErgLfg] 2.3.3.2.3.2.B mH auf 9 ObS 23/87, SSV‑NF 1/64; RS0088556). Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist daher grundsätzlich abstrakt nach dem Umfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, also auch selbständiger Tätigkeiten zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten– und nicht nur den tatsächlich genützten – zu setzen (RS0084186). Die vom Gesetzgeber in § 203 Abs 1 letzter Teilsatz ASVG normierte Untergrenze von 20 % Minderung der Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung für den Erwerb eines Anspruchs auf Versehrtenrente berücksichtigt, dass bei Leichtversehrten wahrscheinlich überhaupt kein Lohnentfall eintreten wird, weil diese in der Regel weiterhin die Kollektivvertragsentgelte verdienen können (Tomandl, Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung [1977] 104 f). Der Revisionswerber erkennt diesen Umstand selbst, wenn er in seinen Ausführungen eine „Bagatellgrenze“ von 5 % bis 10 % Minderung der Erwerbsfähigkeit für argumentierbar hält. Eine Veranlassung, an der Verfassungsmäßigkeit des § 203 Abs 1 letzter Teilsatz ASVG zu zweifeln, besteht – weiterhin, vgl 10 ObS 362/97a SSV‑NF 11/130 – nicht.

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