OGH 4Ob83/18m

OGH4Ob83/18m17.7.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. Dr. Brenn, Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj N* F*, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter K* F*, vertreten durch Mag. Romi Andrea Panner, Rechtsanwältin in Rudersdorf, gegen den Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt als Rekursgericht vom 14. Februar 2018, GZ 20 R 4/18i‑125, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Jennersdorf vom 17. November 2017, GZ 3 PS 60/16s‑102, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E122491

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Die Eltern des knapp 13‑jährigen Kindes waren verheiratet und lebten zunächst in Slowenien, wo es zwischen den Eltern bereits zu Auseinandersetzungen gekommen war. Die slowenischen Behörden trugen den Eltern eine Ehetherapie auf, wobei nicht feststeht, ob sie sich einer solchen Therapie unterzogen haben. In der Folge übersiedelte die Familie in das Burgenland, wo es zu Wegweisungen des Vaters aus der Ehewohnung und schließlich zur Scheidung der Ehe kam.

Beide Eltern stellten zunächst jeweils den Antrag, dass der Hauptaufenthalt des Kindes bei ihm (Vater) bzw bei ihr (Mutter) festgelegt werde. Der Kinder- und Jugendhilfeträger sprach sich gegen die Anträge der Eltern aus und beantragte seinerseits die Übertragung der Obsorge für das Kind an ihn.

Das Erstgericht entzog den Eltern die Obsorge für das Kind und übertrug diese an den Kinder- und Jugendhilfeträger; weiters genehmigte es die stationäre Unterbringung des Kindes im heilpädagogischen Zentrum in Rust. Die Anträge der Eltern wies es ab. Der Paarkonflikt der Eltern stehe nach wie vor im Vordergrund. Die Haltung der Eltern, die Kontakte zum Kind selbst regeln zu können, habe sich als Irrtum erwiesen. Sie seien auch nicht bereit, eine wirkungsvolle Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen. Durch die von der Mutter angestrebten Therapien bekomme das Kind das Gefühl, der Fehler sei bei ihm zu suchen. Der letzte Ausweg bestehe darin, dass die Obsorge an den Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen werde.

Das Rekursgericht gab den gesonderten Rekursen beider Eltern nicht Folge. Aus dem kinderpsychologischen Gutachten ergebe sich ein massiver Loyalitätskonflikt des Kindes bzw eine Allianzbildung mit der Mutter durch die Polarisierung des „Helfersystems“ durch die Mutter. Aufgrund der mangelnden Reflektionsfähigkeit der Mutter stehe das Kindeswohl mitunter nicht mehr in ausreichendem Ausmaß im Vordergrund. Es zeige sich auch keine ausreichende Entwicklung von kindeswohlförderndem Verhalten der Mutter. Es müsse daher eine neue stabile Betreuungs- und Unterstützungssituation evaluiert und etabliert werden. Die psychotherapeutische Abklärung solle nach der Empfehlung im Sachverständigengutachten im Rahmen einer stationären Unterbringung des Kindes erfolgen. Alle gelinderen (ambulanten) Mittel seien ausgeschöpft worden. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig, weil keine erhebliche Rechtsfrage vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, der darauf abzielt, ihr die alleinige Obsorge für das Kind zu übertragen.

Mit seiner – vom Obersten Gerichtshof freigestellten – Revisionsrekursbeantwortung beantragt der Vater, den Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen; der Kinder- und Jugendhilfeträger hat keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts zulässig, weil sich die Entscheidung über den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers auf Übertragung der Obsorge als noch nicht spruchreif erweist. Dementsprechend ist der Revisionsrekurs im Sinn des subsidiären Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Die Mutter beschwert sich in ihrem Revisionsrekurs vor allem darüber, dass die Vorinstanzen die Voraussetzungen für die Entziehung der Obsorge nicht ausreichend geprüft hätten. Die festgestellten Konflikte der Mutter mit dem Vater und die Probleme der Mutter mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger reichten für die Entziehung der Obsorge nicht aus.

Damit ist die Mutter im Recht. Für die Entziehung der Obsorge und deren Übertragung an den Kinder- und Jugendhilfeträger reicht die ermittelte Tatsachengrundlage nicht aus.

2.1 Nach § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und an den Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete unterstützende Maßnahmen treffen (vgl auch § 107 Abs 3 AußStrG). Bei der Anordnung von Maßnahmen iSd § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen. Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes erforderlich ist (RIS‑Justiz RS0048736; 8 Ob 80/17y). Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt nur als ultima ratio in Betracht. Zuvor hat das Gericht alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, die dem Kindeswohl gerecht werden können und eine Belassung des Kindes in der Familie ermöglichen (Deixler‑Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 182 Rz 19).

Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes, wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit, die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes, konkret gefährden (RIS‑Justiz RS0048633; Deixler‑Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 182 Rz 3).

2.2 Die vom Erstgericht festgestellten Schwierigkeiten, die sich notgedrungen auf das Kind auswirkten, betrafen das Verhältnis der Eltern zueinander. Die Ehe der Eltern ist zwischenzeitig geschieden, weshalb diese Gefahrensituation nicht mehr besteht. Die Abneigung (auch) der Mutter gegenüber einer Paartherapie kann ebenfalls nicht mehr zur Begründung der Entziehung der Obsorge herangezogen werden. Die Feststellung, dass die aufgetragene Erziehungsberatung nicht den gewünschten Erfolg gezeigt habe, bezieht sich auf eine Anordnung gegenüber beiden Eltern. Wie sich die Mutter alleine, also ohne den Einfluss des Vaters, zu einer solchen unterstützenden Maßnahme stellt, wurde nicht festgestellt. Davon abgesehen ist die Feststellung zur Erziehungsberatung unzureichend konkretisiert; es ist nicht klar, warum und in welcher Hinsicht die Erziehungsberatung gescheitert ist und welche konkreten Auswirkungen sich daraus für das Kind ergaben. Den Feststellungen lässt sich auch nicht entnehmen, worin die Probleme in der Zusammenarbeit mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger konkret bestehen und welche Betreuungsleistungen dem Kind dadurch entgehen; Gleiches gilt für den pauschalen Hinweis des Erstgerichts darauf, dass derzeit keine gelinderen Mittel als eine Fremdunterbringung in Betracht kämen.

2.3 Das Rekursgericht hat versucht, die unzureichende Tatsachengrundlage durch Auszüge aus dem kinderpsychologischen Sachverständigengutachten zu ergänzen. Auch dieses Gutachten stellt den Konflikt zwischen den Eltern in den Vordergrund. Zum Loyalitätskonflikt des Kindes bzw zur Allianzbildung mit der Mutter und zur Kooperationsfähigkeit der Mutter wird vor allem auf die Polarisierung „des Helfersystems“ durch die Mutter verwiesen. Warum speziell dadurch das „Helfersystem“ ins Wanken gerät und nicht mehr greifen kann, ergibt sich aus den Ausführungen des Rekursgerichts allerdings nicht.

Den Feststellungen des Erstgerichts und dem Gutachten lässt sich als Fazit entnehmen, dass nach einer neuen stabilen Betreuungs- und Unterstützungssituation für das Kind gesucht wird, zur psychotherapeutischen Abklärung eine vorübergehende Betreuung des Kindes im Rahmen eines stationären Aufenthalts empfohlen wird, letztlich aber der Verbleib des Kindes in seinem vertrauten sozialen Umfeld bei der Mutter angestrebt werden soll.

2.4 Für eine mangelnde Erziehungsfähigkeit der Mutter, für konkrete physische oder psychische Probleme des Kindes oder für eine konkrete Gefahr für dessen persönliche oder soziale Entwicklung bieten die Feststellungen keine ausreichende Grundlage. Eine konkrete Gefährdung der Interessen des Kindes, die die Entziehung der Obsorge als ultima ratio unumgänglich machen würde, lässt sich aus den Feststellungen nicht ableiten.

Die Entziehung der Obsorge ist auf Basis der getroffenen Feststellungen im Ergebnis daher nicht gerechtfertigt. Die Entscheidungen der Vorinstanzen müssen demnach aufgehoben werden. Der Hinweis des Rekursgerichts auf eine mögliche Rückübertragung der Obsorge vom Kinder- und Jugendhilfeträger an die Mutter kann die mangelnde Grundlage für eine aktuelle Gefährdung des Kindeswohls nicht substituieren.

3.1 Vor der endgültigen Entziehung der Obsorge ist nach dem Verhältnismäßigkeitsgebot von gelinderen Mitteln Gebrauch zu machen. Der Gesetzgeber sieht dafür unterschiedliche Maßnahmen vor, die sich – anstatt eines Verlustes – mit einer Beeinträchtigung oder einer Beschränkung der Obsorge begnügen.

3.2 Nach § 107 Abs 3 AußStrG hat das Gericht– im Zusammenhang mit einem Obsorge- oder Kontaktrechtsverfahren (RIS‑Justiz RS0131142) – zunächst die zur Sicherung des Kindeswohls erforderlichen unterstützenden Maßnahmen anzuordnen, soweit dadurch nicht rücksichtswürdige Interessen einer Partei unzumutbar beeinträchtigt werden. Als derartige Maßnahmen kommen insbesondere 1. der verpflichtende Besuch einer Familien-, Eltern- oder Erziehungsberatung, 2. die Teilnahme an einem Erstgespräch über Mediation oder über ein Schlichtungsverfahren, 3. die Teilnahme an einer Beratung oder Schulung zum Umgang mit Gewalt und Aggression, 4. das Verbot der Ausreise mit dem Kind oder 5. die Abnahme der Reisedokumente des Kindes in Betracht. Die Aufzählung dieser unterstützenden Maßnahmen ist zwar demonstrativ. Es entspricht aber der Rechtsprechung, dass andere geeignete Maßnahmen sowohl nach ihrer Art und ihrem Umfang, aber auch in ihrer Qualität den gesetzlich angeordneten Maßnahmen gleichwertig sein müssen. Die gesetzlichen Maßnahmen betreffen solche, die im weiteren Sinn der Beratung, der Streitschlichtung oder der Verhinderung einer unzulässigen Verbringung des Kindes ins Ausland dienen sollen. Demgegenüber kann eine (Zwangs-)Mediation der Eltern oder eine verpflichtende psychotherapeutische Behandlung des Kindes oder eine Familientherapie nach der Rechtsprechung nach § 107 Abs 3 AußStrG nicht angeordnet werden (RIS‑Justiz RS0129658; 4 Ob 139/14s; 7 Ob 46/17s).

Das Rekursgericht führt unter anderem aus, dass im kinderpsychologischen Sachverständigengutachten eine kontinuierliche Erziehungsberatung weiterhin empfohlen werde. Im fortgesetzten Verfahren ist daher vorab zu klären, ob die Mutter bereit ist, für sich alleine eine Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen und ob dadurch eine Betreuungssituation geschaffen werden kann, die eine Gefährdung des Kindeswohls ausschließt. In diesem Fall wäre vor der Entscheidung über die Entziehung der Obsorge zu prüfen, ob es zur Sicherung des Kindeswohls zweckmäßig ist, gegenüber der Mutter eine unterstützende Maßnahme nach § 107 Abs 3 AußStrG anzuordnen. In diesem Fall wäre erst nach einer solchen „Prüfphase“ über den Antrag auf Entziehung der Obsorge sowie über einen allfälligen Antrag der Mutter auf Übertragung der alleinigen Obsorge zu entscheiden.

3.3 Als Beschränkung der Obsorge können dem Obsorgeberechtigten auch nur einzelne Rechte entzogen werden; dies gilt etwa für notwendige Einwilligungs- und Zustimmungsrechte des Obsorgeberechtigten. Solche Maßnahmen können auch vorübergehend getroffen werden (Deixler‑Hübner in Kletečka/Schauer, Rz 16 und 20 f).

Sollte sich etwa durch die Anordnung einer Erziehungsberatung gegenüber der Mutter ein geeignetes „Helfersystem“ nicht etablieren lassen und ein vorübergehender stationärer Aufenthalt des Kindes zur Vermeidung einer akuten Kindeswohlgefährdung unausweichlich sein, so wäre zu prüfen, ob mit einer Beschränkung der Obsorge in Bezug auf einen solchen Aufenthalt als gelinderes Mittel gegenüber der endgültigen Entziehung der Obsorge das Auslangen gefunden werden kann.

4. Insgesamt mangelt es für die Übertragung der Obsorge an den Kinder- und Jugendhilfeträger an einer ausreichenden Tatsachengrundlage. Aufgrund sekundärer Feststellungsmängel müssen die Entscheidungen der Vorinstanzen daher in Stattgebung des Revisionsrekurses der Mutter aufgehoben werden.

Im fortgesetzten Verfahren ist konkret zu prüfen, ob zur Sicherung des Kindeswohls unterstützende Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG oder eine allenfalls vorübergehende Entziehung nur einzelner Rechte des obsorgeberechtigten Elternteils zur Vermeidung einer Kindeswohlgefährdung in Betracht kommen. In diesem Fall ist mit der Mutter zu erörtern, ob sie die Übertragung der alleinigen Obsorge anstrebt. Der Vater hat die Abweisung seines Antrags, ihm die Obsorge für das Kind alleine zu übertragen, in Rechtskraft erwachsen lassen.

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