OGH 8Ob80/17y

OGH8Ob80/17y24.8.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn sowie die Hofrätin Mag. Korn als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj G* S*, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, 1110 Wien, Enkplatz 2, als Kinder‑ und Jugendhilfeträger, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Eltern 1) R* S*, und 2) L* H*, ebendort, beide vertreten durch Dr. Herbert Rabitsch, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 8. Mai 2017, GZ 43 R 634/16b‑134, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E119190

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung:
Rechtliche Beurteilung

1. Die im außerordentlichen Revisionsrekurs geltend gemachten Verfahrensmängel liegen – wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat – nicht vor.

Das Erstgericht hat in seiner Entscheidung deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es ausgehend vom ermittelten Sachverhalt die Fremdunterbringung des Kindes und seine Herausnahme aus dem Familienverband und damit die Übertragung der Pflege und Erziehung an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger als die einzige Möglichkeit sieht, um eine weitere Gefährdung des Kindeswohls zu vermeiden. Damit beruht die Beurteilung des Rekursgerichts, dass der Antrag der Eltern auf Übertragung der Obsorge zumindest an den Vater implizit abgewiesen worden sei, was in Form einer Maßgabenbestätigung ersichtlich gemacht werden müsse, auf keiner unrichtigen Rechtsansicht. Eine Maßgabenbestätigung kann zur Klarstellung oder Verdeutlichung der Entscheidung auch vom Rechtsmittelgericht vorgenommen werden (RIS‑Justiz RS0074300). Es liegt daher keine abändernde Entscheidung vor, wenn die zweite Instanz in einer Maßgabenbestätigung die inhaltlich bestätigte Entscheidung dem tatsächlichen Entscheidungsgegenstand anpasst (RIS‑Justiz RS0042684). Dies ist hier der Fall. Durch die Entscheidung des Rekursgerichts kam es zu keiner Änderung des Inhalts der angefochtenen Entscheidung.

Auch im Zusammenhang mit dem Sachverständigengutachten ist kein Verfahrensmangel gegeben. Die gerichtliche Sachverständige (für Kinder-, Jugend- und Familienpsychologie) hat sich mit der Frage einer – von den Eltern ins Treffen geführten – psychischen Krankheit des Kindes näher auseinandergesetzt. Wäre, wie die Eltern meinen, zusätzlich ein Gutachten aus dem Fachgebiet der psychosomatischen bzw psychosozialen Medizin erforderlich gewesen, so hätte die Sachverständige– entsprechend ihrer gutachterlichen Sachkunde und Verantwortung – darauf hingewiesen.

2.1 Inhaltlich liegt ebenfalls keine erhebliche Rechtsfrage vor.

§ 211 Abs 1 ABGB verpflichtet den Kinder- und Jugendhilfeträger die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Diese Pflicht dient der Kontrolle der gesamten Obsorge; inhaltlich stützt sich der Kinder- und Jugendhilfeträger in diesem Zusammenhang auf § 181 ABGB. Daneben verpflichtet § 211 Abs 1 zweiter Satz ABGB den Kinder- und Jugendhilfeträger im Bereich von Pflege und Erziehung im Fall von Gefahr im Verzug, die zur Gefahrenabwendung erforderlichen Maßnahmen mit vorläufiger Wirkung bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst zu treffen, wobei er die gerichtliche Entscheidung unverzüglich zu beantragen hat. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist der Träger vorläufig mit der Obsorge betraut (5 Ob 17/17m). Nach § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge den bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete Maßnahmen treffen (vgl auch § 107 Abs 3 AußStrG). Bei der Anordnung von Maßnahmen im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen (RIS‑Justiz RS0048736; 5 Ob 17/17m).

2.2 Im Anlassfall hat der Kinder- und Jugendhilfeträger nach mehreren Gefährdungsabklärungen vorläufige Maßnahmen zur Gefahrenabwehr getroffen, die darin bestanden, das Kind zunächst in einem Krisenzentrum und in der Folge in einer Wohngemeinschaft unterzubringen. Das Kind war zuvor verwahrlost, wies mangelnde Hygiene auf, war zurückgezogen, sprachlos und isoliert und besuchte nur selten die Schule. Die Ursache für diese Problematik bestand im familiären Umfeld. Die obsorgeberechtigte Mutter war weder einsichtig noch kooperationsbereit. Sie ignorierte die schädlichen Verhaltensweisen des Kindes oder förderte diese sogar. In die Wohngemeinschaft hat sich der Minderjährige gut eingelebt. Seit dieser Unterbringung besucht er die Schule und hat einen guten Kontakt zu den Betreuern. Nach Kontakten mit der Mutter wirkt er verstört.

Die vom Kinder- und Jugendhilfeträger dargelegte Gefährdung des Kindeswohls bei einer Pflege und Erziehung durch die Mutter und überhaupt im Fall eines Zusammenlebens mit dieser hatte sich im Verfahren somit bewahrheitet. Eine Pflege und Erziehung durch die Mutter ist damit ausgeschlossen.

3. Die von beiden Eltern beantragte Übertragung der Obsorge (zumindest) an den Vater hätte zur Voraussetzung, dass eindeutig feststehen müsste, dass dies dem Kindeswohl dient (1 Ob 167/14m; 4 Ob 153/15f). Auch diese Frage haben die Vorinstanzen mit nicht korrekturbedürftiger Begründung verneint.

Der Vater ist zumeist den ganzen Tag außer Haus. Auch sonst kümmert er sich kaum um den Minderjährigen, sondern zeigt vielmehr ein abwertendes und aufbrausendes Verhalten und lässt die Mutter gewähren. In Wirklichkeit verstehen beide Eltern die Probleme und Bedürfnisse des Kindes nicht und negieren diese. Dem Vater mangelt es ebenfalls an Kooperationsbereitschaft bzw an Kooperationsfähigkeit mit Außenstehenden. Auch er vermag dem Minderjährigen nicht das familiäre Umfeld zu bieten, das für einen adäquaten Umgang mit Problemsituationen, eine altersgerechte Entwicklung sowie für die Schaffung sozialer Kontakte und Verantwortung erforderlich wäre. Eine Übertragung der Obsorge an den Vater kommt schon aufgrund seiner eingeschränkten Erziehungsfähigkeit nicht in Betracht. Außerdem würde sich in diesem Fall für den Minderjährigen im Vergleich zur früheren Situation nichts ändern, weil er dem schädlichen sozialen Umfeld weiterhin ausgesetzt wäre.

Macht eine sorgfältige Abwägung der Lebensumstände und der persönlichen Verhältnisse der Betroffenen konkrete Maßnahmen im Interesse des Kindeswohls unumgänglich, so ist – wie hier – ein Eingriff in das Elternrecht nach Art 8 EMRK gerechtfertigt (vgl auch RIS‑Justiz RS0118080). Nach der ermittelten Tatsachengrundlage liegt die von den Eltern behauptete psychogene Erkrankung des Minderjährigen als Ursache für seine massiven Anpassungsschwierigkeiten und seine Defizite bei Problembewältigung und Artikulation nicht vor.

4. Insgesamt vermag der außerordentliche Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen. Er war daher zurückzuweisen.

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