OGH 7Ob21/18s

OGH7Ob21/18s21.2.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** J*****, vertreten durch MMag. Johannes Pfeifer, Rechtsanwalt in Liezen, gegen die beklagte Partei N***** Aktiengesellschaft *****, vertreten durch Dr. Berthold Garstenauer, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 26.617,66 EUR sA, Rente und Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 20. Dezember 2017, GZ 4 R 150/17m‑82, mit dem das Teilurteil des Landesgerichts Leoben vom 17. Mai 2017, GZ 7 C 39/14k‑78, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0070OB00021.18S.0221.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 197,82 EUR (darin enthalten 32,97 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Kläger schloss im September 2007 mit der Beklagten einen Lebensversicherungsvertrag mit Gewinnbeteiligung samt einer Berufsunfähigkeitszusatzver-sicherung, der die Bedingungen S 605/2 für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung BUZ Plus (2006) zugrundelagen. Der Vermögensberater riet dem Kläger zu einem solchen Versicherungsabschluss, damit er auch im Falle seiner Berufsunfähigkeit die Kreditraten für den fremdfinanzierten Kauf seines Hauses bedienen könne. Der Versicherungsschutz begann am 1. Oktober 2007, vereinbarungsgemäß sollte er am 1. Oktober 2030 enden. Mit Sonderklausel 203 wurde die „Erkrankung der Schulter rechts“ aufgrund der Angaben des Klägers zur Frage 6 des Antrags vom 11. September 2007 (Operationen, Unfall, Verletzungen, Vergiftungen in den letzten zehn Jahren) vom Versicherungsschutz für Berufsunfähigkeit ausgeschlossen.

Bei allen anderen, insbesondere auch den folgenden Gesundheitsfragen hatte der Kläger als Antwort „Nein“ angekreuzt:

„1. Leiden oder litten Sie in den letzten 10 Jahren an Krankheiten, Störungen oder Beschwerden (zB des Herzens oder Kreislaufs/erhöhtem Blutdruck, der Atmungs-, Verdauungs-, Harn- oder Geschlechtsorgane, Nerven, Sinnesorgane, Milz, Drüsen, Haut, Knochen, Gelenke, Wirbelsäule, des Gehirns, Rückenmarks, Gemüts, Blutes, Fettstoffwechsels, an Geschwülsten, Gicht, Rheumatismus, Infektionen, Allergien)? Besteht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit?

3. Nehmen oder nahmen Sie in den letzten 10 Jahren Drogen, Betäubungs- oder Rauschmittel? Werden oder wurden Sie in den letzten zehn Jahren wegen der Folgen von Alkoholgenuss beraten oder behandelt?

4. Sind Sie in den letzten 5 Jahren ärztlich untersucht, beraten oder behandelt worden? Von welchen Ärzten (Anschrift)? Wurden in den letzten 12 Monaten Arzneimittel verordnet? Welche? Einnahme: von/bis?

5. Bestehen Folgen früherer Krankheiten, Unfälle oder Verletzungen?“

In dieser Fragenliste wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass er als Antragsteller gemäß § 16 VersVG verpflichtet sei, die Gesundheitsfragen richtig und vollständig zu beantworten, weil unvollständige und unrichtige Angaben den Versicherer daran hindern würden, die Gesundheitsverhältnisse der zu versichernden Person richtig abzuschätzen, und dass bei schuldhafter Verletzung dieser Pflicht der Versicherer unter bestimmten Umständen vom Vertrag zurücktreten oder ihn anfechten und gegebenenfalls die Leistung verweigern könne.

Im Zusammenhang mit den Fragen nach Krankheiten, Störungen oder Beschwerden des „Gemüts“ bzw Untersuchungen, Beratungen oder Behandlungen durch Ärzte in den letzten zehn Jahren wies der Vermögensberater den Kläger darauf hin, dass diese Fragen nur dann mit „Ja“ zu beantworten seien, wenn es sich um „gravierende Erkrankungen“ gehandelt habe, ohne diesen Begriff näher zu definieren.

Tatsächlich war der Kläger im Jahr 2002 zweimal beim Nervenfacharzt in Behandlung, der ihm ein Antidepressivum verschrieb und folgenden Befund samt Diagnose erstellte:

„Seit Jahren fällt dem Patienten, besonders im Frühjahr auf, dass eine Veränderung in seinem psychischen Verhalten bestünde, dabei innere Unruhe, Gefühl des Angespanntseins, dann wieder Erschöpfung mit Müdigkeit, Mattigkeit. Dabei auch in dieser Phase ab und zu mehr Alkohol, wie auch zuletzt am Pfingstmontag Abnahme des Führerscheins. In den letzten Jahren häufige Berufsplatzwechsel, sei zuletzt bei einer Leihfirma im Burgenland als Schlosser beschäftigt gewesen.

Diagnose: Eher saisonal bedingtes psychovegetativ somatisches Beschwerdesyndrom mit einer Verstimmungssymptomatik.“

Am 21. Oktober 2005 suchte der Kläger die Ordination eines Neurologen und Psychiaters wegen neurologischer Beschwerden auf, der auch einen rein neurologischen Befund erstellte.

Im Jänner 2007 war der Kläger bei seiner Hausärztin, die ihm zur Gewichtsabnahme ein ein Sättigungsgefühl bewirkendes Medikament verschrieb. Bei einer Ordination am 20. August 2007 riet sie ihm, dieses Arzneimittel wegen der von ihm angegebenen Stimmungsschwankungen abzusetzen, und gab ihm ein Ärztemuster eines Stimmungsaufhellers mit.

Diese vor Antragstellung liegenden Erkrankungen bzw Ordinationsbesuche gab der Kläger bei der Ausfüllung des Antrags deshalb nicht an, weil es sich dabei aus seiner Sicht nicht um „schwere Erkrankungen“ handelte. Die Behandlung beim Nervenfacharzt hatte der Kläger vergessen.

Am 15. Jänner 2013 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Leistung wegen Berufsunfähigkeit und gab an, dass er an einer Anpassungsstörung (Burnout‑Syndrom) und einem chronischen Cervicalsyndrom leide.

Mit Schreiben vom 25. Februar 2013 focht die Beklagte den Vertrag gemäß § 10 Z 4 der Allgemeinen Bedingungen der fondsgebundenen Lebensversicherung in Verbindung mit § 9 Z 2 der Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung rückwirkend ab Beginn an und erklärte den Rücktritt. Gleichzeitig überwies sie dem Kläger das vorhandene Deckungskapital von 588 EUR.

Der Kläger begehrt ua die Feststellung, dass die Verpflichtung der Beklagten zur Erbringung von Leistungen aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung aufrecht bleibe und ihr(e) Rücktritt/Kündigung/Aufhebung des Versicherungsvertrags mit Schreiben vom 25. Februar 2013 unwirksam sei.

Er habe die Lebensversicherung samt Berufsunfähigkeitszusatzversicherung zur Absicherung der Rückzahlung der Raten des Kredits für die Sanierung eines Hauses abgeschlossen. Seine Berufsunfähigkeit sei durch eine organische Gehirn-, Nerven-, allenfalls auch Lungenerkrankung entstanden, möglicherweise auch durch eine psychische Erkrankung (Polyneuropathie, Enzephalopathie), die ihre Ursache im jahrelangen Einatmen giftiger Lösungsmittel, Chemikalien und Schadstoffe habe. Er habe nicht arglistig gehandelt. Nach den dem Vertrag zugrundeliegenden Versicherungsbedingungen sei drei Jahre nach dem Vertragsabschluss kein Rücktritt der Beklagten mehr möglich.

Die Beklagte bestreitet das rechtliche Interesse des Klägers am Feststellungsbegehren, weil für das ebenfalls gestellte Leistungsbegehren das aufrechte Bestehen des Versicherungsvertrags ohnehin Vorfrage sei. Auch sei sie zum Vertragsrücktritt bzw zur Vertragsanfechtung berechtigt, weil der Kläger Vorbeschwerden und Vorerkrankungen, die in kausalem Zusammenhang zu den nunmehr behaupteten leistungsauslösenden Beschwerden (Burnout, chronisches Cervicalsyndrom) geführt hätten, verschwiegen und damit gegen § 16 VersVG verstoßen habe; er sei dabei arglistig vorgegangen.

Das Erstgericht gab mit (richtig) Teilurteil dem Feststellungsbegehren statt. Der Nachweis, dass der Kläger seine vorvertragliche Anzeigeobliegenheit iSd § 163 VersVG arglistig verletzt habe, sei der insoweit beweisbelasteten Beklagten nicht gelungen. Sie könne daher mehr als drei Jahre nach Abschluss des Versicherungsvertrags nicht mehr zurücktreten.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Teilurteil mit der Maßgabe, dass es mit Wirksamkeit zwischen den Streitteilen feststellte, dass der Versicherungsvertrag (Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeitszusatz-versicherung) zwischen den Streitteilen aufrecht bestehe. Es verwarf die Tatsachenrüge, verneinte ein arglistiges Vorgehen des Klägers und bejahte eine analoge Heranziehung des § 163 VersVG auf die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Das Berufungsgericht bewertete den Streitgegenstand mit 30.000 EUR übersteigend und ließ die Revision nicht zu.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag, das Klagebegehren abzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Beklagte macht zusammengefasst geltend, dass § 163 VersVG nicht analog für die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung gelte und das Berufungsgericht dem Kläger zu Unrecht keine objektive Obliegenheitsverletzung und keine Arglist vorgeworfen habe.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist mangels Rechtsprechung zur Frage der analogen Anwendbarkeit des § 163 VersVG auf die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

Das von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu prüfende (RIS-Justiz RS0039123) rechtliche Interesse am Feststellungsbegehren ist gegeben, weil der Versicherer bereits seinen Rücktritt vom Vertrag erklärt hat. Der Kläger hat daher ein über die bloße Vorfragenprüfung für seine Leistungsbegehren hinausgehendes Interesse an der Klärung des Bestehens des Versicherungsvertrags.

I. Objektive Obliegenheitsverletzung

I.1. Bei der Beantwortung von Gesundheitsfragen ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. In der Krankenversicherung kommt es nicht nur auf die Erheblichkeit der einzelnen Krankheit, sondern auch auf die Häufigkeit des durch die behandelten Krankheiten geprägten Gesamtbilds des Gesundheitszustands an. Beschwerden und Schmerzen sind bei entsprechender Frage auch dann anzeigepflichtig, wenn sie noch nicht eindeutig einer Krankheit zugeordnet worden sind. Ihre Einschätzung durch den Versicherungsnehmer als harmlos spielt für die Entstehung der Pflicht keine Rolle, sofern sie nicht offenkundig belanglos sind und alsbald vergehen. Angabepflichtig sind auch indizierende Umstände, also äußere Umstände, die auf das Bestehen eines gefahrenerheblichen Zustands schließen lassen. Auch ohne das Vorliegen einer ärztlichen Diagnose muss der Antragsteller Symptome, wegen der er sich in ärztliche Behandlung begeben hat, angeben; Bewertung und Beurteilung müssen dem Versicherer überlassen bleiben (RIS-Justiz RS0080641 [T6]). Grundsätzlich begründet eine Fehlinformation über gefahrenerhebliche Umstände Leistungsfreiheit (RIS-Justiz RS0080637). Ein Umstand, nach dem der Versicherer ausdrücklich und schriftlich gefragt hat, gilt im Zweifel als erheblich (RIS-Justiz RS0080628).

Angesichts der Belehrung im Formular und der konkreten Fragen hätte hier der Kläger erkennen müssen, dass insbesondere die seinen Arztbesuchen zugrundeliegenden Beschwerden mitzuteilen waren. Neurologische Beschwerden wären anzugeben gewesen, weil sich Frage 1. auch auf solche Beschwerden (arg „der Nerven“ „des Gemüts“) bezieht.

I.2. Dass der Kläger sich auf den Rat eines Dritten verlassen hat, exkulpiert ihn nicht. Zwar kann das Verhalten eines Agenten des Versicherers ein Verschulden des Versicherungsnehmers ausschließen (RIS-Justiz RS0080709), dass der Vermögensberater hier aber in diesem Sinn der Beklagten zuzurechnen wäre, ergibt sich weder aus dem Vorbringen noch den Feststellungen. Der Kläger hätte die Erläuterungen auf dem Fragebogen lesen oder zumindest genauer bei seinem Berater oder bei der Beklagten nachfragen müssen.

Die Beklagte hat damit eine objektive Obliegenheitsverletzung nachgewiesen und der Kläger dagegen weder den Beweis fehlenden Verschuldens noch den Kausalitätsgegenbeweis erbracht.

II. § 163 VersVG

II.1. Somit kommt es darauf an, ob die Beklagte wegen dieser Obliegenheitsverletzung berechtigt ist, vom Vertrag zurückzutreten.

Nach dem für die Lebensversicherung geltenden § 163 VersVG kann der Versicherer wegen einer Verletzung der dem Versicherungsnehmer beim Abschluss des Vertrags obliegenden Anzeigepflicht vom Vertrag nicht mehr zurücktreten, wenn seit dem Abschluss drei Jahre verstrichen sind. Das Rücktrittsrecht bleibt aber bestehen, wenn die Anzeigepflicht arglistig verletzt worden ist.

Hier liegt ein Lebensversicherungsvertrag mit einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung vor.

II.2. Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist eine Summenversicherung, die Versicherungsleistung erfolgt unabhängig vom Nachweis eines Schadens, insbesondere einer Einkommensbuße. Versicherte Gefahr in der Berufsunfähigkeitsversicherung ist der vorzeitige Rückgang oder der Verlust der beruflichen Leistungsfähigkeit (RIS‑Justiz RS0112258). Zweck der Berufsunfähigkeitsversicherung ist es, einen sozialen Abstieg des Versicherten im Arbeitsleben und in der Gesellschaft, das heißt im sozialen Umfeld, zu verhindern. Der Versicherungsfall ist gegeben, wenn Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfall kausal für den Rückgang der beruflichen Leistungsfähigkeit sind; dabei sind Art und Ursache der Krankheit, der Körperverletzung oder des Kräfteverfalls grundsätzlich (sofern nicht vertraglich Ausschlüsse vereinbart werden) gleichgültig (RIS-Justiz RS0111998).

II.3. In Deutschland regelt das VVG nunmehr die Berufsunfähigkeitsversicherung ausdrücklich und verweist dazu – soweit dies nicht mit der Natur dieser Versicherung unvereinbar ist – auf die Bestimmungen über die Lebensversicherung (§§ 172 ff VVG).

Bereits vor der VVG-Reform hat der BGH die Berufsunfähigkeitsversicherung (auch als Zuatzversicherung) als einen Fall der Lebensversicherung gesehen (BGH IVa ZR 317/86 = VersR 1988, 1233) bzw später deren Bestimmungen zumindest implizit als auf die Berufsunfähigkeitsversicherung anwendbar erachtet (BGH IV ZR 271/91 = VersR 1993, 871).

Dörner in MüKo VVG2 Vor §§ 172–177 ff Rz 1 bezeichnet die in erster Linie aufsichtsrechtlich begründete Einordnung der Berufsunfähigkeitsversicherung als Lebensversicherung als problematisch. Römer (Obliegenheiten in der Personenversicherung, r+s 1998, 45 [47]) befürwortete die Anwendung des § 163 VVG auf die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung.

II.4. Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass die österreichische Rechts- und Bedingungslage mit der (damaligen) deutschen vergleichbar ist (7 Ob 127/99y) und dass die Berufsunfähigkeitsversicherung zumindest Berührungspunkte mit der Lebensversicherung (und der Unfallversicherung) hat (7 Ob 128/14w).

Der Gesetzgeber ordnet in § 3 Abs 1 VersVG aufgrund der üblichen Langfristigkeit solcher Versicherungen für Lebens-, Berufsunfähigkeits- und Pensionsversicherungen die Papierform an (vgl die ErlRV zum VersRÄG 2010, 1632 BlgNR 24. GP 7). Da die Berufsunfähigkeitsversicherung in Anlage A zum VAG nicht als eigener Versicherungszweig genannt ist, nimmt die FMA in ihren Verordnungen nach § 92 VAG an, dass auch die Berufsunfähigkeitsversicherung regulatorisch der Lebensversicherung zuzurechnen ist, wenn sie sie auch als eigene Versicherungsart behandelt (vgl etwa § 5 der Lebensversicherung Gewinnplanverordnung).

II.5. Als Unterfall der (Ab-)Lebensversicherung ist die Berufsunfähigkeitsversicherung nicht anzusehen:

Die Versicherungssparten versichern nämlich unterschiedliche Risiken: Die Ablebensversicherung dient primär der Versorgung dritter Personen im Todesfall, die Berufsunfähigkeitsversicherung der Versorgung des Versicherungsnehmers selbst. Die Berufsunfähigkeit ist mit dem Tod in der Regel nicht vergleichbar. Gemeinsam ist den Sparten, dass sie jeweils das Risiko ungünstiger gesundheitlicher Entwicklung des Versicherungsnehmers versichern, langfristig abgeschlossen werden, die Versicherungsleistung der Sicherung der finanziellen Verhältnisse des Begünstigten dient und der Gesundheitszustand der Risikoperson für die Risikobeurteilung entscheidend ist. Der Leistungsfall tritt häufig erst Jahre nach Abschluss der Versicherung ein, sodass die Kausalität von bei Abschluss fahrlässig verschwiegenen Vorerkrankungen schwer festzustellen sein kann und tendenziell nicht entscheidend sein wird.

II.6. Gerade die zuletzt angeführten Gründe haben den Gesetzgeber veranlasst in der Krankenversicherung in § 178k VersVG eine vergleichbare Frist vorzusehen: Die ErlRV 1553 BlgNR 18. GP 35 zur VersVG-Novelle 1993 weisen dazu darauf hin, dass es sich beim Rücktritt in Wahrheit um einen Sonderfall der Irrtumsanfechtung handle. Im Regelfall sei anzunehmen, dass ein Risiko, das sich drei Jahre lang nicht verwirklicht habe, für die übernommene Deckungspflicht nicht mehr allzu große Bedeutung habe. Gerade in der Krankenversicherung sei es für den Versicherungsnehmer oft schwierig zu überblicken, welche Umstände für den Versicherer relevant seien und welche für ihn vernachlässigbar scheinen, sodass ihm eine fahrlässige Fehlbeurteilung besonders leicht unterlaufen könne. Der Versicherungsnehmer solle möglichst bald Gewissheit darüber erlangen, ob der Versicherungsschutz wirksam sei.

II.7. Die ErlRV 1553 BlgNR 18. GP 27 verweisen zur Verkürzung der Frist in § 163 VersVG auf § 178k VersVG. Auch der Sinn der Bestimmung des § 163 VersVG liegt darin, dem Lebensversicherungsvertrag, der für den Versicherungsnehmer oder seine Angehörigen essentielle Bedeutung haben kann, eine besondere Bestandfestigkeit zu verleihen. Dies geschieht dadurch, dass Rechtsfolgen, die an die – wenngleich schuldhafte – Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht oder eine Gefahrenerhöhung geknüpft sind und grundsätzlich unbefristet geltend gemacht werden können, entfallen, wenn ein bestimmter Zeitraum verstrichen ist. Mit den Interessen des Versicherers ist dies verträglich, weil eine besondere Gefahr, die sich während eines langen Zeitraums nicht ausgewirkt hat, für das übernommene Risiko nicht wesentlich erscheint (7 Ob 119/17a mwN).

II.8. Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist gesetzlich nicht geregelt. Die Anwendung der Dreijahresfrist des § 163 VersVG könnte daher nur analog erfolgen. Grundsätzlich zutreffend zeigt die Beklagte in diesem Zusammenhang auf, dass ein bloß rechtspolitisches Bedürfnis nach einer Regelung keine Analogie rechtfertigt (RIS-Justiz RS0103694, RS0008859). Die Analogie setzt vielmehr eine Gesetzeslücke voraus, das heißt, dass der Rechtsfall nach dem Gesetz nicht beurteilt werden kann, jedoch von Rechts wegen einer Beurteilung bedarf. Es muss also eine „planwidrige Unvollständigkeit“, somit eine nicht gewollte Lücke, vorliegen. Eine solche Lücke im Rechtssinn ist dort anzunehmen, wo das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie, unvollständig ist (RIS‑Justiz RS0098756 [T4]). Sie ist ausgeschlossen, wenn der Gesetzgeber eine Rechtsfolge bewusst nur für einen von mehreren Tatbeständen angeordnet hat (RIS‑Justiz RS0025102, RS0008757, RS0008866).

Die Rechtsprechung erkennt aber auch eine „teleologische“ Lücke an, wenn der nicht geregelte Fall alle motivierenden Merkmale der geregelten Fälle enthält und das Prinzip der Norm auch in einem ihrem Tatbestand ähnlichen Fall Beachtung fordert (RIS-Justiz RS0008839 [T1], RS0008841 [T2]). Zum Teil wird dies auch anerkannt, wenn für eine unterschiedliche Behandlung zweier Sachverhalte „kein Grund zu finden ist“ (RIS-Justiz RS0008870, auch RS0008826).

II.9. Dieselben Argumente für die Befristung des Rücktritts des Versicherers in der Lebensversicherung und der Krankenversicherung treffen auch auf die Berufsunfähigkeitsversicherung zu: Auch sie dient letztlich der langfristigen Versorgung einer Person (hier des Versicherungsnehmers selbst) im Falle einer unerwarteten Verschlechterung des Gesundheitszustands. Die Gesundheitsfragen sind in der Regel die gleichen, sodass auch hier dem Versicherungsnehmer besonders leicht fahrlässige Fehlangaben unterlaufen können, deren Kausalität für den Eintritt des Versicherungsfalls schwer festzustellen sein wird und die für das übernommene Risiko nach einem längeren Zeitraum nicht wesentlich erscheinen.

II.10. Wegen der gleichgelagerten Interessenlage wie in der Lebens- und Krankenversicherung ist daher sowohl bei der Berufsunfähigkeitsversicherung als auch bei der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung von einer unechten Lücke auszugehen, die wegen ihrer Berührungspunkte zur Lebensversicherung durch analoge Anwendung des § 163 VersVG zu füllen ist. Um dem zum Durchbruch zu verhelfen muss auch hier gelten, dass diese Regelung halbzwingend ist (§ 178 Abs 1 VersVG).

Die von der Beklagten zur Begründung eines möglichen Erörterungsmangels behauptete Regelung in den AVB ist daher nicht relevant.

III. Keine Arglist

Das Rücktrittsrecht des Versicherers bleibt hier daher hinsichtlich des gesamten Versicherungsvertrags (Lebensversicherung und Berufsunfähigkeitsversicherung) nur dann länger als drei Jahre nach Vertragsabschluss bestehen, wenn der Kläger die Anzeigepflicht arglistig verletzt hat, worauf sich die Beklagte auch beruft.

Arglist setzt bedingten Vorsatz voraus (RIS-Justiz RS0130762). Er muss sich darauf richten, dass der Versicherungsnehmer durch die Falsch- oder Nichtbeantwortung der Frage auf die Entscheidung des Versicherers Einfluss nehmen will und sich bewusst ist, dass der Versicherer möglicherweise seinen Antrag nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen annehmen wird, wenn er die Wahrheit sagt (RIS-Justiz RS0080027 [T1]).

Die Beweislast für das Vorliegen und die Voraussetzungen der Arglist trifft die Beklagte. Es besteht kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass ein Versicherungsnehmer, der Antragsfragen bewusst unrichtig beantwortet, regelmäßig mit Arglist in Bezug auf die Willensbildung des Versicherers handelt (RIS-Justiz RS0103030). Ob er diesen Vorsatz hatte, ist vielmehr eine Tatfrage (7 Ob 119/17a).

Hier steht fest, dass der Kläger – wenn auch irrtümlich – glaubte, nur gravierende Krankheiten angeben zu müssen und den zweimaligen Besuch bei einem Nervenfacharzt im Jahr 2002 vergessen hatte. Daraus allein kann ein Vorsatz des Klägers, auf die Entscheidung des Versicherers Einfluss nehmen zu wollen, nicht abgeleitet werden.

IV. Ergebnis:

Dem Kläger sind zwar fahrlässige Obliegenheitsverletzungen vorzuwerfen, aber nicht Arglist, sodass die Beklagte nicht zum Rücktritt vom Vertrag berechtigt ist. Es war daher die Entscheidung des Berufungsgerichts zu bestätigen.

V. Kosten:

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO. Als Berechnungsbasis war im Sinne der Erwägungen des Berufungsgerichts ein Streitwert in Höhe von 187,92 EUR heranzuziehen.

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