European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0040OB00206.16X.1025.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.286,72 EUR (darin 381,12 EUR USt) bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung sowie die mit 3.009,18 EUR (darin 274,53 EUR USt und 1.362 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die 72‑jährige Klägerin machte mit dem angeleinten Hund einer Freundin einen Spaziergang auf einer Straße im Ortsgebiet. Als sie sich in der Nähe des Hauses der Beklagten befand, lief deren Hund plötzlich aus der Einfahrt der Liegenschaft, bellte und sprang mit einem Satz auf den von der Klägerin geführten Hund. Dieser sprang darauf mit einem Ruck auf den Hund der Beklagten zu, wodurch die Klägerin zu Sturz kam und sich dabei verletzte. Der Hund der Beklagten befand sich zum Zeitpunkt des Vorfalls unbeaufsichtigt auf einer öffentlichen Straße. Es ist ihm auch schon vor dem Ereignis mehrfach gelungen, die Liegenschaft zu verlassen und in der Siedlung unbeaufsichtigt herumzulaufen.
Die Klägerin begehrte zuletzt 15.962,34 EUR an Schmerzengeld sowie Spesen für Pflegeaufwand, Heilbehelfe und Nebenkosten und die Feststellung, dass ihr die Beklagte für zukünftige Schäden aus dem Vorfall hafte. Sie machte im Wesentlichen eine nicht ordnungsgemäße Verwahrung des Hundes durch die Beklagte geltend.
Die Beklagte entgegnete, dass sie ihren Hund ordnungsgemäß verwahrt habe. Die Klägerin treffe das Alleinverschulden, zumindest aber das überwiegende Mitverschulden. Sie habe sich bewusst für einen Spaziergang mit einem Hund entschieden und sich auf das damit verbundene Risiko eingelassen. Die Klägerin sei im Hinblick auf die Führung eines Hundes offenkundig überfordert gewesen und hätte in der Lage sein müssen, den geführten Hund auch im Fall eines ruckartigen Zuges an der Leine zu beherrschen.
Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren im Ausmaß von 15.002,34 EUR sA und dem Feststellungsbegehren statt. Das Mehrbegehren von 960 EUR wurde rechtskräftig abgewiesen. Es beurteilte den eingangs zusammengefassten Sachverhalt rechtlich dahin, dass es der Beklagten nicht gelungen sei, die ordnungsgemäße Verwahrung des Tieres zu beweisen, sodass sie nach § 1320 ABGB hafte. Die nicht ordnungsgemäße Verwahrung sei für den Sturz und die Verletzungen der Klägerin kausal gewesen. Aus dem Umstand, dass die Klägerin selbst mit einem Hund unterwegs war, ergebe sich noch kein Mitverschulden.
Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil der Fall Anlass geben könnte, die Judikatur zum Rechtswidrigkeitszusammenhang bei der Tierhalterhaftung fortzuentwickeln. Auch das Berufungsgericht ging davon aus, dass die Beklagte eine korrekte Verwahrung nicht bewiesen habe. Allerdings sei hier der Rechtswidrigkeitszusammenhang zu verneinen. Zwar habe der Hund der Beklagten durch Bellen und Springen den von der Klägerin geführten Hund gereizt und dazu animiert, dass er ruckartig auf den Hund der Beklagten zuläuft. Die Klägerin sei aber durch das Verhalten des von ihr geführten Hundes umgerissen worden. Die Hundehalterhaftung habe nicht den Zweck, die durch die mangelnde Beherrschung des eigenen Hundes verursachten Verletzungen zu sanktionieren. Für die Beherrschung des eigenen geführten Hundes trage allein der Hundeführer (hier also die Klägerin) die Verantwortung. Die mangelhafte Verwahrung durch die Beklagte sei daher hier nicht entscheidend gewesen. Die Sachlage wäre „natürlich“ anders, wenn die Hunde bereits zu raufen begonnen hätten, als die Klägerin den von ihr geführten Hund noch an der Leine hielt. In einem solchen Fall wären auch die Bewegungen des anderen Hundes für den Sturz mitverantwortlich gewesen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts sei der Rechtswidrigkeitszusammenhang zu bejahen.
Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht die in der Judikatur zum Rechtswidrigkeitszusammenhang entwickelten Grundsätze unrichtig angewendet hat. Das Rechtsmittel ist auch berechtigt.
1. Der von der Beklagten gerügte sekundäre Feststellungsmangel zur Verwahrung des Hundes liegt nicht vor. Die Vorinstanzen haben vielmehr zutreffend erkannt, dass der Beklagten – auch unter Berücksichtigung der Beweislastumkehr des § 1320 ABGB – zur Last zu legen ist, dass sie nicht für die erforderliche Verwahrung gesorgt hat. Die Beklagte hat es ihrem Hund ermöglicht, frei auf einer öffentlichen Straße in einer Siedlung herumzulaufen, wobei es gleichgültig ist, ob der Hund geradezu bösartig ist oder nicht (RIS‑Justiz RS0030079).
2.1 Die Haftung für einen Schaden setzt voraus, dass der eingetretene Schaden im Schutzzweck der Norm gelegen und somit vom Rechtswidrigkeitszusammenhang erfasst ist. Aus § 1294 ABGB ergibt sich, dass der Schaden rechtswidrig zugefügt worden sein muss, weshalb Nachteile, die in einer Sphäre liegen, die nicht durch das Verbot des Angriffs geschützt ist, außer Betracht bleiben müssen (RIS‑Justiz RS0022416). Die Übertretung einer Schutznorm macht nur insofern für den durch die Übertretung verursachten Schaden haftbar, als durch die Schutznorm gerade dieser Schaden verhindert werden sollte (RIS‑Justiz RS0027553; RS0022933). Bei der Frage, welche Schadensfolgen dem Haftenden noch zuzurechnen sind, kommt es darauf an, aus welchen Gründen die die Haftpflicht anordnende Norm aufgestellt wurde und welche Schäden nach dem Zweck des Gesetzes von der Ersatzpflicht noch erfasst werden sollen (RIS‑Justiz RS0022872).
2.2 Auch die Haftung nach § 1320 ABGB ist nach der Rechtsprechung nur für solche Schäden gegeben, die im Rechtswidrigkeitszusammenhang stehen, wobei sich das Verschulden des Haftenden nicht auf den Schaden selbst beziehen muss. Es genügt, wenn die Veranlassung des schädigenden Verhaltens des Tieres verschuldet ist (RIS‑Justiz RS0030233). Dabei muss der eingetretene Schaden auf die „besondere Tiergefahr“ zurückzuführen sein, der durch die Pflicht zur sorgfältigen Verwahrung des Tieres begegnet werden soll (RIS‑Justiz RS0030520). Eine Haftung des Tierhalters gemäß § 1320 ABGB kommt demnach nur in Betracht, wenn der Schaden auf die „spezifische Gefährlichkeit des Tieres“ zurückzuführen ist (1 Ob 638/82 ZVR 1983/313; 3 Ob 507/96; RIS‑Justiz RS0030081).
3. In zahlreichen Entscheidungen hat der Oberste Gerichtshof bereits geklärt, dass bei der Haftung nach § 1320 ABGB darauf abzustellen ist, ob sich die „typische Tiergefahr“ verwirklicht hat.
3.1 Eine Haftung nach § 1320 ABGB wurde etwa auch dann bejaht, wenn der Schaden nur mittelbar auf das nicht ordnungsgemäß verwahrte Tier zurückzuführen war. In diesem Sinn wurde eine Haftung nach § 1320 ABGB für den Fall anerkannt, dass eine Minderjährige aus Angst vor dem Hund davongelaufen und gestürzt war, weil sich auch dabei die besondere Tiergefahr verwirklicht hat (5 Ob 559/85).
3.2 Auch die Beteiligung von Hunden des Klägers hindern eine Haftung nach § 1320 ABGB nicht. Zu 6 Ob 104/04v wurde eine Haftung des Tierhalters bejaht, dessen Hund der Hündin des Klägers nachgelaufen und dabei gegen das rechte Bein des Klägers geprallt war. Auch zu 6 Ob 227/05h musste die Tierhalterin nach § 1320 ABGB einstehen, obwohl auch die Klägerin ihren Hund frei laufen ließ, woraufhin der Rüde der Beklagten herbeilief und die Klägerin von hinten niederstieß.
3.3 Dass auch Schäden, die auf das Erschrecken eines anderen Tieres zurückzuführen sind, vom Schutzzweck des § 1320 ABGB erfasst sind, wurde bereits in der Entscheidung 1 Ob 638/82 (ZVR 1983/313) ausgeführt. Diese Entscheidung betraf einen Hund, der bellend auf die Straße lief und dadurch Pferde zum Scheuen brachte. Der Beklagte wendete damals ein, dass der Schaden auf die Pferde zurückzuführen sei und ihn keine Verantwortung dafür treffe, dass der Kläger seine Tiere nicht unter Kontrolle gehabt habe. Dessen ungeachtet wurde der Rechtswidrigkeitszusammenhang bejaht, weil § 1320 ABGB offenbar bezweckt, den Eintritt von Personen‑ und Sachschäden zu verhindern, die durch das gefährliche Verhalten eines nicht gehörig verwahrten Tieres hervorgerufen werden.
3.4 Zuletzt bejahte der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 6 Ob 142/16z den Rechtswidrig‑ keitszusammenhang. Zu prüfen war ein Schadenersatzanspruch eines Verkehrsteilnehmers, der von einem nicht ordnungsgemäß verwahrten Hund gebissen wurde, nachdem der Hund zuvor einen Verkehrsunfall verursacht hatte und dabei verletzt wurde. In der Entscheidung wurde unter Anknüpfung an Vorjudikatur festgehalten, dass die Verletzung noch vom Schutzzweck des § 1320 ABGB umfasst sei. Es sei auch nicht gänzlich außerhalb der allgemeinen Lebenserwartung, dass ein unbeaufsichtigt auf die Straße laufender Hund verletzt werden kann und dann in der Folge aus Angst einen Passanten angreift.
4. Demgegenüber wurde der Rechtswidrig‑ keitszusammenhang bei Handeln auf eigene Gefahr oder dann verneint, wenn sich gerade nicht die Gefahr einer sorgfaltswidrigen Verwahrung verwirklicht hat.
4.1 Eine Haftung liegt etwa dann nicht vor, wenn der Geschädigte mit dem frei umherlaufenden Hund längere Zeit gespielt hat und dabei gebissen wurde. Der Schutzzweck von § 1320 ABGB liegt nämlich nicht darin, erwachsene Menschen zu schützen, auf deren eigenem Willensentschluss es beruht, mit einem an sich gutmütigen Hund an einem öffentlichen Ort zu spielen (8 Ob 125/03w; vgl RIS‑Justiz RS0023006). Mit einer ähnlichen Begründung wurde eine Haftung auch für den Fall verneint, dass zwei Hundehalter ihre an sich gutmütigen Hunde im gegenseitigen Einverständnis frei laufen ließen, um ihnen einerseits den Auslauf und andererseits das Umhertollen miteinander zu ermöglichen, woraufhin sich einer der Hundehalter bei einem Zusammenstoß mit den spielenden Hunden verletzte (1 Ob 57/02t). Auch in einem solchen Fall kann dem Halter keine Vernachlässigung seiner Verwahrungs‑ und Beaufsichtigungspflicht vorgeworfen werden, weil der verletzte Hundehalter dem anderen gegenüber zu erkennen gab, dass er sich auf die mit dem gemeinsamen Umhertollen von Hunden üblicherweise verbundenen Gefahren einlässt.
4.2 Mit der Entscheidung zu 3 Ob 507/96 wurde unter Hinweis auf den fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhang die Klage eines Tierarztes abgewiesen, der einen Hund untersuchen sollte, nachdem dieser mangels Beaufsichtigung bei einem Unfall verletzt wurde. Die Bissverletzung des Tierarztes anlässlich der Untersuchung hätte genauso eintreten können, wenn der Tierarzt einen ordnungsgemäß verwahrten Hund untersucht hätte.
5. Im Unterschied zu jenen Fällen, in denen der Oberste Gerichtshof eine Haftung ablehnte, hat sich die Klägerin im gegenständlichen Fall der vom nicht ordnungsgemäß verwahrten Hund ausgehenden Gefahr nicht bewusst ausgesetzt, sondern wurde vielmehr vom herannahenden Hund der Beklagten überrascht. Ungeachtet des Umstands, dass sie durch die schreckhafte Reaktion des von ihr geführten Hundes verletzt wurde, ist hier der Rechtswidrigkeitszusammenhang zu bejahen. Die ruckartige Reaktion des geführten Hundes war unmittelbare Reaktion auf den „Angriff“ des Hundes der Beklagten. Damit hat sich gerade eine typische Gefahr eines unbeaufsichtigten Tieres verwirklicht, die darin liegt, dass durch das Verhalten des Hundes andere Tiere aufgeschreckt werden und dadurch einen Schaden verursachen.
6. Entgegen den Ausführungen in der Revisionsbeantwortung hat das Erstgericht auch zum Verhalten der Klägerin die notwendigen Feststellungen getroffen. Demnach steht fest, dass die Klägerin den von ihr geführten Hund gut beherrschte, mit seiner Beaufsichtigung nicht überfordert war und den Sturz durch eine Reaktion nicht mehr verhindern konnte. Auch sonst liegen keine Anhaltspunkte vor, aus denen sich ein Allein- oder Mitverschulden der Klägerin ergibt.
7. Aufgrund der zu den Schäden der Klägerin getroffenen Feststellungen bestehen weder gegen einen Zuspruch des Leistungsbegehrens in der vom Erstgericht festgelegten Höhe noch gegen die Stattgebung des Feststellungsbegehrens Bedenken.
8. Der Revision war daher Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
9. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf § 50 Abs 1 iVm § 41 Abs 1 ZPO.
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