OGH 10ObS78/16t

OGH10ObS78/16t28.6.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Mag. Ziegelbauer als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*****, vertreten durch Dr. Clemens Pichler, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 30. März 2016, GZ 25 Rs 30/16x‑16, mit dem infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 16. November 2015, GZ 34 Cgs 152/15k‑12, als nichtig aufgehoben und die Klage zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00078.16T.0628.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Rekurses selbst zu tragen.

Begründung

Die 1992 geborene Klägerin beantragte bei der Beklagten am 22. 4. 2015 die Gewährung geeigneter Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation aufgrund einer Angst‑/Panik‑Störung.

Der Rehabilitationsausschuss der Beklagten lehnte die Gewährung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation mit Beschluss vom 26. 6. 2015 ab.

Mit Schreiben vom 30. 6. 2015 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Pensionsversicherungsanstalt gemäß §§ 300 ff ASVG durch Gewährung geeigneter Maßnahmen Vorsorge für die Rehabilitation von Versicherten treffe. Voraussetzung hiefür sei allerdings, dass der bestehende Leidenszustand derart gravierend sei, dass die Versicherte infolge ihres Leidens oder Gebrechens ohne Rehabilitation wahrscheinlich invalide sei oder in absehbarer Zeit werde. Aufgrund der der Beklagten vorliegenden ärztlichen Befunde sei festgestellt worden, dass ihr die in dem zu prüfenden Zeitraum ausgeübte Tätigkeit (Restaurantfachfrau [Kellnerin]) weiterhin zumutbar sei.

Mit ihrer am 29. 7. 2015 beim Erstgericht eingebrachten Klage bekämpft die Klägerin dieses von ihr in der Klage als „Bescheid“ bezeichnete Schreiben vom 30. 6. 2015 und begehrt, die Beklagte schuldig zu erkennen, ihr geeignete Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zu gewähren. Die Ablehnung der Gewährung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation sei jedenfalls dann beim Arbeits‑ und Sozialgericht bekämpfbar, wenn – wie im Fall der Klägerin – das Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt bzw der Ermessensspielraum gesetzwidrig überschritten worden sei.

Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit Urteil statt. Die Beklagte habe die Gewährung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gemäß § 303 Abs 1 ASVG iVm § 198 ASVG ohne nachvollziehbare Begründung abgelehnt. Sie habe dadurch nicht nach pflichtgemäßem Ermessen gehandelt, sodass die Klägerin zur Anfechtung des Bescheids der Beklagten berechtigt gewesen sei, auch wenn die Klägerin auf eine Leistung wie die hier begehrten Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation keinen individuellen Rechtsanspruch habe.

Das Berufungsgericht hob infolge der Berufung der Beklagten dieses Urteil und das ihm vorausgegangene Verfahren erster Instanz mit dem angefochtenen Beschluss als nichtig auf und wies die Klage zurück. Gemäß § 67 Abs 1 ASGG dürfe vom Versicherten in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1, 4 und 6 bis 8 ASGG sowie über die Kostenersatzpflicht eines Versicherungsträgers nach § 65 Abs 1 Z 5 ASGG – vorbehaltlich des § 68 ASGG – eine Klage nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden oder den Bescheid nicht innerhalb der in § 67 Abs 1 Z 2 ASGG genannten Fristen erlassen habe. Das Schreiben der Beklagten vom 30. 6. 2015 sei jedoch kein Bescheid, weil es keinen erkennbaren Willen aufweise, eine bindende Regelung für die Klägerin zu erlassen. Ihr Antrag sei nicht abschlägig erledigt worden, sondern es sei ihr lediglich mitgeteilt worden, dass ihr die Tätigkeit als Restaurantfachfrau weiterhin zumutbar sei. Auch ein Säumnisfall liege nicht vor: ein solcher setze voraus, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet sei. Dies sei hier aber nicht der Fall. Bei den Maßnahmen der Rehabilitation in der Pensionsversicherung nach den §§ 301 ff ASVG handle es sich grundsätzlich um eine Pflichtaufgabe des Pensionsversicherungsträgers, die jedoch nicht als Pflichtleistung mit individuellem Rechtsanspruch, sondern als freiwillige Leistung ohne individuellen Rechtsanspruch normiert sei. Die nach dem 1. 1. 1964 geborene Klägerin habe auch gemäß § 367 Abs 1 ASVG idF des SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, keinen Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, weil der noch nach dem BBG 2011, BGBl I 2010/111, in dieser Bestimmung enthaltene Begriff der „beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation“ mit dem SRÄG 2012 durch den Begriff der „medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation“ ersetzt worden sei. Insbesondere sei mit dem SRÄG 2012 auch die Bestimmung des § 253e ASVG für den Personenkreis, dem auch die Klägerin angehöre, aufgehoben worden. Berufliche Maßnahmen der Rehabilitation seien von der Beklagten seit dem Ablauf des 31. 12. 2013 daher nur mehr als Pflichtaufgaben und Ermessensleistungen gemäß § 303 ASVG zu erbringen. Es sei an der bis zum Inkrafttreten des BBG 2011 herrschenden Rechtsprechung festzuhalten, wonach keine Verpflichtung des Pensionsversicherungsträgers zur Erlassung eines Bescheids über einen Antrag auf Gewährung von beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation bestehe, der – wie hier – unabhängig von einem Pensionsantrag gestellt worden sei. Daher fehle es für die Klage an der Prozessvoraussetzung der Zulässigkeit des Rechtswegs.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der – von der Beklagten nicht beantwortete – Rekurs der Klägerin, mit dem diese die Stattgebung ihrer Klage anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

1. Der Umstand, dass das Berufungsgericht für den angefochtenen Beschluss (unter Hinweis auf § 11a Abs 4 ASGG) auch fachkundige Laienrichter beigezogen hat, ändert nichts daran, dass sich die Besetzung des erkennenden Senats im vorliegenden Fall nach § 11a Abs 3 Z 2 ASGG zu richten hat (10 ObS 120/07f, SSV‑NF 21/68; RIS‑Justiz RS0122493).

2. Wenn das Berufungsgericht unter Nichtigerklärung des erstinstanzlichen Verfahrens und des Urteils die Klage zurückweist, ist sein Beschluss gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO stets, also unabhängig insbesondere vom Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage, anfechtbar ( E. Kodek in Rechberger ZPO 4 , § 519 Rz 8; RIS‑Justiz RS0043882 [T11]). Der Rekurs der Klägerin ist daher zulässig. Er ist jedoch nicht berechtigt.

Da die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts zutreffend ist, kann gemäß § 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO auf die Richtigkeit dieser Ausführungen verwiesen werden.

Den Rekursausführungen ist noch Folgendes entgegenzuhalten:

3.1 Die Klägerin hält auch in ihrem Rekurs an der Ansicht fest, dass das Schreiben der Beklagten vom 30. 6. 2015 als Bescheid zu qualifizieren sei, weil darin ihr Antrag, ihr Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zu gewähren, abschlägig erledigt worden sei.

3.2 Für die Qualifikation eines Schreibens als Bescheid ist nach der vom Berufungsgericht zutreffend wiedergegebenen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Voraussetzung, dass der Inhalt dieses Schreibens einen eindeutigen „Bescheidwillen“ der Beklagten erkennen lässt (RIS‑Justiz RS0085557 [T1]). Maßgeblich für den – nach den zum AVG entwickelten Kriterien zu beurteilenden (10 ObS 2/01v, SSV‑NF 15/22) – Bescheidcharakter ist demnach der Bescheidwille bzw das „autoritative Wollen“ (10 ObS 67/05h, SSV‑NF 20/14; RIS‑Justiz RS0085681). Fehlt ein Bescheidwille, ist eine bloße Verständigung oder Mitteilung anzunehmen (10 ObS 156/15m; RIS‑Justiz RS0085557).

3.3 Mit dem Schreiben vom 30. 6. 2015 teilte die Beklagte der Klägerin inhaltlich mit, dass sie ihre berufliche Tätigkeit als Restaurantfachfrau weiter ausüben könne und (deshalb) keine Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation getroffen werden. Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass dieses Schreiben schon nach seinem Wortlaut bloß eine Information, nicht aber ein auf eine abschließende Erledigung des Rechtsverhältnisses oder Rechts gerichtetes „autoritatives Wollen“ der Beklagten enthält.

3.4 Behördliche Akte sind darüber hinaus im Zweifel in einem gesetzeskonformen Sinn zu verstehen ( Fink , Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 264 mwH). Daher ist als zusätzliches Indiz dafür, dass es im konkreten Fall an einem Bescheidwillen der Beklagten fehlte, die – vom Berufungsgericht zutreffend wiedergegebene – Rechtslage heranzuziehen, wonach der Pensionsversicherungsträger Rehabilitationsmaßnahmen iSd §§ 301 ff ASVG (daher unabhängig von der Geltendmachung des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit) als Pflichtaufgabe nach pflichtgemäßem Ermessen zu erbringen, darüber jedoch keinen Bescheid zu erlassen hat. Dies gilt unverändert auch nach der Rechtslage seit dem SRÄG 2012 (ausführlich jüngst 10 ObS 119/15w mzwH). Vor diesem Hintergrund verdeutlicht der Umstand, dass die Beklagte für das Schreiben vom 30. 6. 2015 gerade nicht die Bescheidform wählte, im konkreten Fall daher den fehlenden Bescheidcharakter.

4.1 Die Klägerin argumentiert im Rekurs, dass die Statuierung einer Leistungsverpflichtung der Beklagten im Rahmen der Hoheitsverwaltung untrennbar mit entsprechenden Rechtsschutzgarantien verknüpft sein müsse. Es würde daher eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes und des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf den gesetzlichen Richter bedeuten, wäre der Klägerin die Möglichkeit der gerichtlichen Nachprüfbarkeit der Ermessensentscheidung der Beklagten verwehrt.

4.2 Damit übergeht die Rekurswerberin aber, dass der Gesetzgeber die Entscheidung getroffen hat, die Gewährung von Maßnahmen der Rehabilitation in der Pensionsversicherung gemäß §§ 301 ff ASVG aus der Bescheidpflicht ausdrücklich auszunehmen (dies ergibt sich aus der Nichterwähnung von § 222 Abs 3 ASVG in § 367 Abs 1 Satz 2 ASVG). Dieser Leistungsbereich ist daher aus der Hoheitsverwaltung herausgenommen, sodass Maßnahmen der Rehabilitation in der Pensionsversicherung gemäß §§ 301 ff ASVG als privatwirtschaftlich zu qualifizieren sind ( Fink, Sukzessive Zuständigkeit 157). Gegen die Entscheidung des Gesetzgebers, die – nicht im Zusammenhang mit der Geltendmachung des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit stehenden – Leistungen der Rehabilitation in der Pensionsversicherung gemäß §§ 301 ff ASVG grundsätzlich der Privatwirtschaftsverwaltung des Pensionsver-sicherungsträgers zuzuordnen, bestehen nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs keine verfassungsrechtlichen Bedenken (10 ObS 68/09m, SSV‑NF 24/7; 10 ObS 174/13f, 10 ObS 120/14s).

Dem Rekurs war daher nicht Folge zu geben.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Nach dieser Bestimmung setzt ein Kostenersatzanspruch nach Billigkeit nicht nur voraus, dass die Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse des Versicherten einen Kostenersatz nahelegen, sondern auch, dass tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten des Verfahrens vorliegen ( Neumayr in ZellKomm² § 77 ASGG Rz 13 mwH). Schwierigkeiten von der nach dieser Bestimmung erforderlichen Qualität lagen aber im Rekursverfahren nicht vor und wurden von der Rekurswerberin auch nicht geltend gemacht (RIS‑Justiz RS0085829).

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