European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0030OB00082.16D.0614.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das restliche Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 130 EUR für die Monate August bis Dezember 2006, von 145 EUR für die Monate Jänner bis Dezember 2007, von 170 EUR für die Monate Jänner bis Oktober 2008, von 330 EUR für die Monate Jänner bis April 2011, von 335 EUR für die Monate Jänner bis September 2012, von 225 EUR für die Monate Oktober bis Dezember 2012, von 660 EUR für September 2013 und 115 EUR für Oktober 2013, jeweils samt 4 % Zinsen daraus ab dem zweiten der genannten Monate, binnen 14 Tagen zu bezahlen, abgewiesen wird.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens wird bis zur rechtskräftigen Erledigung der Sache vorbehalten.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin maturierte 1982 im Iran und schloss daraufhin ein Kurzstudium in Astrophysik ab, das in Österreich nicht anerkannt wurde. Bis zu ihrem Umzug nach Österreich im Jahr 1985 studierte sie im Iran Medizin.
Von 1986 bis 1993 studierte die Klägerin in Wien technische Physik. Von 1990 bis 1993 absolvierte sie nach Nostrifizierung des iranischen Medizinstudiums den ersten Studienabschnitt Medizin in Österreich. Beide Studien konnte sie nicht abschließen.
Vom 1. Oktober 1991 bis 23. Februar 1993 arbeitete die Klägerin als Sprechstundenhilfe in der Ordination eines Allgemeinmediziners. Am 17. April 1993 kam die mit dem Beklagten gemeinsame Tochter auf die Welt, im Anschluss daran bezog die Klägerin bis Ende April 1995 Karenzgeld.
Von Mai 1995 bis Juni 2001 folgte eine weitere Berufstätigkeit in der Ordination des Allgemeinmediziners im Ausmaß von zumindest 20 Wochenstunden, welche aus Anlass der Geburt des Sohnes (am 17. Oktober 1997) von Mai 1997 bis April 1999 unterbrochen war.
Von Juli bis Ende 2001 bezog die Klägerin Arbeitslosenentgelt. Von Jänner bis Mai 2002 arbeitete sie als Ordinationshilfe bei einem Zahnarzt, teils in Vollzeit, teils in Teilzeit. Von Juni bis September 2002 war die Klägerin als Angestellte in einer Wirtschaftsprüfungskanzlei tätig.
Von September 2002 bis Juni 2003 sowie von Oktober 2003 bis März 2004 war die Klägerin als arbeitslos beim AMS gemeldet, in der weiteren Zeit bis Herbst 2006 nicht mehr. Die Gründe dafür lagen nicht in der Sphäre des AMS, sondern vielmehr darin, dass sich die Klägerin wegen der Trennung und der damit verbundenen Auseinandersetzungen (zu) belastet fühlte, sodass sie bis zu einmal monatlich psychologische Betreuung in Anspruch nahm; in ärztliche Behandlung begab sie sich nicht.
Die Streitteile ehelichten einander am 14. September 1990. Im Jahr 2003 kam es zur Trennung.
Mit Vergleich vom 9. Oktober 2003 verpflichtete sich der Beklagte, der Klägerin bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 1.550 EUR zu bezahlen. Die Ehe der Streitteile wurde mit Urteil vom 11. August 2005 aus gleichteiligem Verschulden geschieden. Die Rechtskraft trat mit 18. Juli 2006 ein. Seit Juli 2006 leistete der Beklagte der Klägerin keine Unterhaltszahlungen mehr.
Der Beklagte verdient als Angestellter monatlich 7.000 EUR netto (12 x jährlich).
Ab September 2005 musste der Klägerin klar sein, dass die Unterhaltsleistung des Beklagten in absehbarer Zeit enden würde. Erst ab Oktober 2006 meldete sie sich wieder beim AMS als arbeitssuchend. Ab 13. November 2006 bezog sie vom AMS eine Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhalts in wechselnder Höhe zwischen 270 und 630 EUR netto (teilweise inklusive Krankengeld) und besuchte verschiedenste Ausbildungskurse. Ab 15. Oktober 2008 war die Klägerin im Ausmaß von 20 bis 25 Wochenstunden berufstätig (monatlicher Nettoverdienst etwa 635 EUR). Ab Juli 2010war die Klägerin neuerlich arbeitslos. Es folgten weitere Beschäftigungsverhältnisse, immer wieder unterbrochen durch Arbeitslosigkeit. Seit Ende 2012 ist die Klägerin (mit kurzen Unterbrechungen) mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 1.200 bis (seit August 2014) 1.575 EUR monatlich tätig.
Ab August 2006 hielt die Klägerin im Hinblick auf die Suche nach einer Beschäftigung die Vorgaben des AMS ein und entwickelte darüber hinaus auch eine gewisse Eigeninitiative bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Dass sie aber all ihre Kräfte darauf konzentriert, oder Energien, die mit einer Ausübung einer Beschäftigung im Ausmaß von 20 oder 30 Stunden pro Woche vergleichbar wären, darauf verwendet hätte, kann nicht festgestellt werden. Hätte die Klägerin sich entsprechend angestrengt, eine Beschäftigung zu finden und alle ihre Fähigkeiten eingesetzt, so hätte sie bei einer derartigen Arbeitssuche ab November 2005 bis August 2006 eine Halbtagsbeschäftigung als Ordinationshilfe, Handels‑ oder Empfangsmitarbeiterin mit einem durchschnittlichen monatlichen Nettogehalt von 600 EUR finden können. Hätte sie in der beschriebenen Intensität bereits ab September 2005 nach einer Beschäftigung gesucht, hätte sie ab August 2006 eine Vollzeitbeschäftigung als Empfangsmitarbeiterin finden und netto monatlich 1.200 EUR unter Einschluss der Sonderzahlungen verdienen können.
Von Sommer 2006 bis Herbst 2008 besuchte der Sohn der Streitteile die dritte und vierte Klasse Volksschule. Diese verfügte über eine Nachmittagsbetreuung, in der die Kinder bis 18:00 Uhr bleiben konnten. Tatsächlich holte ihn die Klägerin aber meistens früher von der Schule ab.
Ab Sommer 2010 besuchte der Sohn die Unterstufe desselben Gymnasiums wie die Tochter. Auch dieses verfügte über eine Nachmittagsbetreuung. Teilweise fuhren die Kinder dann gemeinsam nach Hause, teils holte sie die Klägerin ab. Daran änderte sich bis zum Ende der Unterstufe im Sommer 2012 nicht viel. Seit der Oberstufe kommt der Sohn zwischen 17:00 und 19:00 Uhr nach Hause. Dass die Kinder einer besonderen Betreuung durch die Mutter bedurft hätten, etwa weil Deutsch nicht ihre Muttersprache ist, kann nicht festgestellt werden.
Der Lebensbedarf der Klägerin betrug 2006 730 EUR, 2007 745 EUR, 2008 770 EUR, 2009 775 EUR, 2010 790 EUR, 2011 810 EUR, 2012 835 EUR, 2013 850 EUR, 2014 860 EUR und 2015 870 EUR.
Die Klägerin begehrte, gestützt auf §§ 68 und 68a EheG, nachehelichen Unterhalt in monatlicher Höhe von 850 EUR für den Zeitraum von August 2006 bis Jänner 2011 und in Höhe von monatlich 1.450 EUR ab Februar 2011.
Der Beklagte wendete ein, die Klägerin habe es unterlassen, sich angemessen um Arbeit zu bemühen. Da die Kinder unter der Woche durch Nachmittagsbetreuung und ‑unterricht versorgt seien, hätte die Klägerin eine Beschäftigung im Ausmaß von 30 Stunden pro Woche als Ordinationshilfe annehmen oder sich zur Heimhilfe umschulen lassen können. Überdies habe die Klägerin den Unterhaltsanspruch aufgrund mehrerer näher beschriebener Verhaltensweisen verwirkt.
Das Erstgericht verpflichtete den Beklagten zu monatlichen Unterhaltsleistungen in Höhe von 130 EUR für August bis Dezember 2006, 145 EUR für Jänner bis Dezember 2007, 170 EUR für Jänner bis Oktober 2008, 330 EUR für Jänner bis April 2011, 335 EUR für Jänner bis September 2012, 225 EUR für Oktober bis Dezember 2012, 660 EUR für September 2013 und 115 EUR für Oktober 2013. Das Unterhaltsmehrbegehren der Klägerin wies es hingegen ab (rechtskräftig).
Das Berufungsgericht bestätigte die Unterhaltsverpflichtung des Beklagten und ließ die ordentliche Revision (nachträglich) mit der Begründung zu, weil der Klägerin „doch für einen langen Zeitraum nach Scheidung der Ehe nachehelicher Unterhalt gemäß § 68a EheG gewährt wurde und eine Klarstellung zu den maßgeblichen Kriterien nach § 68a Abs 1 bis 3 EheG notwendig erachtet werde“. Einen Verwirkungstatbestand iSd § 74 EheG habe die Klägerin nicht gesetzt. Im Hinblick auf das Alter der Kinder (im Jahr 2006 13 und 8 ¾ Jahre und im Jahr 2008 15 und 10 ¾ Jahre) habe das Erstgericht die Klägerin zutreffend nur auf die Höhe einer Teilzeitbeschäftigung angespannt. Eine Ganztagsbeschäftigung sei jedenfalls erst bei Kinder ab Beendigung der Schulpflicht möglich, sei ihnen doch erst in diesem Alter eine gewisse Selbstversorgung tagsüber zumutbar.
Die Revision des Beklagten, mit der er die gänzliche Abweisung des Unterhaltsbegehrens anstrebt, ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Gemäß § 68 EheG kann bei Scheidung aus gleichteiligem Verschulden dem Ehegatten, der sich nicht selbst unterhalten kann, ein Beitrag zu seinem Unterhalt zugebilligt werden, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens‑ und Erwerbsverhältnisse des anderen Ehegatten der Billigkeit entspricht. Dies setzt voraus, dass der Anspruchswerber seinen Unterhalt nicht selbst decken kann, also weder aus den Erträgnissen oder dem Stamm seines Vermögens noch aus zumutbarer Erwerbstätigkeit (4 Ob 203/10x; 8 Ob 127/03i, je mwN; Koch in KBB4 Rz 1 zu § 68 EheG). Beim Unterhalt nach § 68 EheG kommt die zur „Anspannung“ Unterhaltspflichtiger entwickelte Rechtsprechung sinngemäß zur Anwendung (8 Ob 63/02a; RIS‑Justiz RS0116388).
Fest steht, dass die Klägerin schon zum Zeitpunkt, ab dem sie Unterhaltsleistungen begehrt, eine Vollzeitbeschäftigung mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 1.200 EUR finden hätte können. Daher fehlt unabhängig von weiteren Billigkeitsüberlegungen jedenfalls die Voraussetzung für die Unterhaltsgewährung nach § 68 EheG: Wird doch der Lebensbedarf der Klägerin mit 730 EUR (2006) bis 870 EUR (2015) festgestellt und orientiert sich die Rechtsprechung vielfach an der Höhe der Ausgleichszulage (4 Ob 203/10x mwN).
2. Gemäß § 68a EheG hat einem Ehegatten, soweit und solange ihm aufgrund der Pflege und Erziehung eines gemeinsamen Kindes unter Berücksichtigung dessen Wohles nicht zugemutet werden kann, sich selbst zu erhalten, der andere unabhängig vom Verschulden an der Scheidung Unterhalt nach dessen Lebensbedarf zu gewähren. Die Unzumutbarkeit der Selbsterhaltung wird vermutet, solange das Kind das fünfte Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Dieser neu eingeführte Unterhaltstypus ist nur für bestimmte Härtefälle als Ausnahmeregelung gedacht (RV 1653 BlgNR 20. GP 13 und 26; RIS‑Justiz RS0118107).
Hat sich ein Ehegatte während der Ehe aufgrund der einvernehmlichen Gestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft der Haushaltsführung sowie gegebenenfalls der Pflege und Erziehung eines gemeinsamen Kindes oder der Betreuung eines Angehörigen eines der Ehegatten gewidmet und kann ihm aufgrund des dadurch bedingten Mangels an Erwerbsmöglichkeiten, etwa wegen mangelnder beruflichen Aus‑ oder Fortbildung, der Dauer der ehelichen Lebensgemeinschaft, seines Alters oder seiner Gesundheit, nicht zugemutet werden, sich ganz oder zum Teil selbst zu erhalten, so hat ihm insoweit der andere Ehegatte unabhängig vom Verschulden an der Scheidung den Unterhalts nach dessen Lebensbedarf zu gewähren (§ 68a Abs 2 EheG). Die hier aufgezählten Begriffe „Dauer der ehelichen Lebensgemeinschaft“, „Alter“ und „Gesundheit“ sind zu dem Begriff „mangels an Erwerbsmöglichkeiten“ als gleichrangige Kriterien für eine mögliche Ursache der Unzumutbarkeit der Erwerbstätigkeit aufzufassen. Dadurch soll der Ehegatte bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen unterhaltsberechtigt sein, dem aufgrund des Mangels an Erwerbsmöglichkeiten oder der Dauer der ehelichen Lebensgemeinschaft oder seines Alters oder seiner Gesundheit eine Selbsterhaltung nicht zugemutet werden kann. Der bloßen Unzumutbarkeit steht die Unmöglichkeit der Selbsterhaltung schon aus einem Größenschluss gleich (RIS‑Justiz RS0118900).
Eine Erwerbstätigkeit ist zumutbar, wenn sich das Kind oder die Kinder tagsüber in einer Betreuungseinrichtung aufhalten, wenn es also andere Betreuungsmöglichkeiten als durch den Unterhalt ansprechenden ehemaligen Ehegatten gibt. Maßgeblich ist nur die Betreuungsnotwendigkeit nach der Scheidung, auf die Modalitäten der Betreuung vor der Scheidung kommt es nicht an (Gitschthaler/Höllwerth, Ehe‑ und Partnerschaftsrecht, § 68a EheG Rz 7 ff). Jedenfalls hat der Unterhaltsberechtigte seine Arbeitskraft nur insoweit für die Beschaffung des eigenen Unterhalts einzusetzen, als dies nach den Umständen des Einzelfalls zumutbar erscheint (RIS‑Justiz RS0080396).
Die Klägerin erfüllt nach keiner der genannten Bestimmungen die Voraussetzungen für den von ihr erhobenen Unterhaltsanspruch.
Ausgehend von den getroffenen Feststellungen wäre die Klägerin in der Lage gewesen, spätestens im August 2006, also ab jenem Zeitpunkt, von dem ab sie Unterhalt begehrt, eine Vollzeitbeschäftigung mit einem Monatsnettoeinkommen von 1.200 EUR zu finden. Zum damaligen Zeitpunkt bedurften beide Kinder keiner umfassenden Betreuung mehr, weil auch für den kleineren Sohn die Möglichkeit einer Nachmittagsbetreuung bis 18:00 Uhr zur Verfügung stand. Schon während aufrechter Ehe und bei einem noch wesentlich größeren Betreuungsbedarf der kleinen Kinder war die Klägerin – abgesehen von der jeweiligen Karenzzeit – teilweise, zeitweise sogar Vollzeit berufstätig. Es bedurfte daher nach Beendigung der Ehe keiner grundsätzlichen Umstellung und es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin alters‑ oder gesundheitsbedingt oder wegen mangelnder Ausbildung nicht in der Lage gewesen wäre, einer Erwerbstätigkeit zur Deckung ihres Lebensbedarfs nachzugehen. Die Klägerin fühlte sich zwar aufgrund der Trennung und des nachfolgenden Scheidungsverfahrens belastet, sie nahm auch psychologische Betreuung in Anspruch (einmal im Monat); dass sie dadurch gehindert gewesen wäre, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen bzw sich auf eine solche vorzubereiten und bis zum hier maßgeblichen Zeitpunkt (August 2006) auch zu beginnen, widerspricht aber den bereits wiedergegebenen Feststellungen.
Dass der Klägerin im Zeitraum August 2006 bis Oktober 2008 nur eine Halbtagsbeschäftigung zumutbar gewesen wäre, weil die Kinder in zwei verschiedenen Schulen waren, ist ebenfalls nicht zutreffend, weil es in beiden Schulen und damit für beide Kinder eine Nachmittagsbetreuungsmöglichkeit gab. Die Tochter war im August 2006 bereits 13 Jahre alt, sie von ihrer Schule persönlich abzuholen, war daher nicht mehr erforderlich.
Ein vom Gesetzgeber bei der Schaffung der Ausnahmeregelung des § 68a EheG ins Auge gefasster Härtefall liegt somit hier nicht vor (vgl 10 Ob 35/04a).
Aufgrund welcher Überlegungen für die Klägerin sogar noch ab 2011, als die Tochter bereits fast volljährig und der Sohn 13 Jahre alt war, ein tagsüber gegebener, ins Gewicht fallender Betreuungsbedarf vorgelegen haben soll, ist nicht nachvollziehbar.
Das Unterhaltsbegehren der Klägerin muss daher scheitern, ohne dass auf den Verwirkungseinwand (§ 74 EheG) und die fehlende Einmahnung des auch für die Vergangenheit begehrten Unterhalts (§ 72 EheG) einzugehen war.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 3 ZPO.
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