OGH 2Ob93/15p

OGH2Ob93/15p25.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Landeskrankenanstalten-Betriebsgesellschaft‑KABEG, Kraßniggstraße 15, 9020 Klagenfurt am Wörthersee, vertreten durch Dr. Hans Herwig Toriser, Rechtsanwalt in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei M*****, vertreten durch Dr. Manfred Angerer und andere Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, wegen 15.505,64 EUR sA, im Verfahren über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Rekursgericht vom 23. März 2015, GZ 2 R 57/15t‑19, womit infolge Rekurses der beklagten Partei der Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 10. [richtig: 4.] Dezember 2014, GZ 25 Cg 45/14b‑15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00093.15P.0525.000

 

Spruch:

A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Handelt es sich bei der Klage eines inländischen Dienstgebers auf Ersatz des durch die Entgeltfortzahlung an seinen im Inland wohnhaften Dienstnehmer auf ihn verlagerten Schadens um eine „Klage in Versicherungssachen“ im Sinne des Art 8 der Verordnung (EG) Nr 44/2001, wenn

(a) der Dienstnehmer bei einem Verkehrsunfall in einem Mitgliedstaat (Italien) verletzt wurde,

(b) die Klage sich gegen den in einem weiteren Mitgliedstaat (Frankreich) ansässigen Haftpflichtversicherer des Schädigerfahrzeugs richtet und

(c) der Dienstgeber als Anstalt öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit eingerichtet ist?

2. Wenn Frage 1 bejaht wird:

Ist Art 9 Abs 1 lit b in Verbindung mit Art 11 Abs 2 der Verordnung (EG) Nr 44/2001 dahin auszulegen, dass der das Entgelt fortzahlende Dienstgeber als „Geschädigter“ den Haftpflichtversicherer des Schädiger-fahrzeugs vor dem Gericht des Orts, an dem der Dienstgeber seinen Sitz hat, verklagen kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist?

B. Das Verfahren über das Rechtsmittel der klagenden Partei wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Begründung

I. Sachverhalt:

Am 26. 3. 2011 ereignete sich in Italien ein Verkehrsunfall, an dem ein in Österreich wohnhafter Dienstnehmer der klagenden Partei als Radfahrer und die Lenkerin eines bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Pkws beteiligt waren. Dabei erlitt der Radfahrer diverse Verletzungen.

Die klagende Partei ist eine Anstalt öffentlichen Rechts, die Krankenanstalten betreibt, und hat ihren Sitz in Klagenfurt am Wörthersee. Die beklagte Partei ist ein Versicherungsunternehmen mit Sitz in Frankreich.

II. Anträge und Vorbringen der Parteien:

Die klagende Partei nimmt die beklagte Partei auf den Ersatz eines mit insgesamt 15.505,64 EUR sA bezifferten Schadens in Anspruch. Sie bringt vor, das Alleinverschulden an dem Unfall treffe die Lenkerin des Pkws. Als Dienstgeberin des Verletzten habe sie an diesen während seiner unfallbedingten Krankenstände die Dienstbezüge weiter bezahlt. In diesem Umfang sei der Ersatzanspruch des Dienstnehmers auf den Dienstgeber übergegangen.

Die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts stützt die klagende Partei auf Art 9 Abs 1 lit b in Verbindung mit Art 11 Abs 2 VO (EG) Nr 44/2001. Beim Landesgericht Klagenfurt sei überdies das Parallelverfahren des Dienstnehmers anhängig, in dem die internationale Zuständigkeit bereits bejaht worden sei.

Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren und erhob die Einrede der fehlenden internationalen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts. Sie wendet ein, im dritten Abschnitt des Kapitels II der VO (EG) Nr 44/2001 werde ein eigenes System der Verteilung gerichtlicher Zuständigkeiten in Versicherungssachen festgelegt. Der Zweck dieser Sonderregeln diene laut Erwägungsgrund 13 dem Schutz der schwächeren Partei. Die klagende Partei könne diesen Schutz als Dienstgeberin für sich nicht in Anspruch nehmen.

III. Bisheriges Verfahren:

Das Erstgericht verwarf die Einrede nach abgesonderter Verhandlung. Es vertrat die Ansicht, der klagenden Partei, die bloß einen vom Dienstnehmer abgeleiteten Anspruch geltend mache, stehe der Gerichtsstand des Art 9 Abs 1 lit b in Verbindung mit Art 11 Abs 2 VO (EG) Nr 44/2001 zur Verfügung. Dabei sei nicht entscheidend, ob es sich um ein größeres oder ein kleineres Unternehmen handle. Eine juristische Person sei gegenüber einem Versicherungsunternehmen unabhängig von ihrer Größe die schwächere Partei.

Das Gericht zweiter Instanz änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es der Einrede der fehlenden internationalen Zuständigkeit stattgab und die Klage zurückwies. Es verwies auf die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen C-463/06 , FBTO Schadeverzekeringen/Odenbreit, und C-347/08 , Vorarlberger Gebietskrankenkasse/WGV‑Schwäbische Allgemeine Versicherungs AG. Der Verweis des Art 11 Abs 2 auf Art 9 Abs 1 lit b VO (EG) Nr 44/2001 gewähre dem Geschädigten einen eigenen Heimatgerichtsstand. Das gelte auch dann, wenn der Geschädigte eine juristische Person sei. Vom Begriff „Geschädigter“ seien auch mittelbar geschädigte Personen umfasst. Der erwähnte Gerichtsstand komme aber solchen Personen nicht zu, die gegenüber dem Haftpflichtversicherer nicht als schwächere Partei zu qualifizieren seien. Dabei sei wesentlich, ob der Geschädigte „wirtschaftlich schwächer und rechtlich weniger erfahren“ als ein Haftpflichtversicherer sei. Dies sei bei einer Anstalt öffentlichen Rechts, die für die Betriebsführung von fünf Spitälern errichtet sei, zu verneinen.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat über einen Revisionsrekurs der klagenden Partei zu entscheiden, mit dem sie die Anwendung des Art 9 Abs 1 lit b in Verbindung mit Art 11 Abs 2 VO (EG) Nr 44/2001 anstrebt.

IV. Unionsrechtliche Grundlagen:

1. Die maßgebenden Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr 44/2001 des Rates vom 22. 12. 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen lauten:

Kapitel II

Zuständigkeit

Abschnitt 1

Allgemeine Vorschriften

Artikel 2

(1) Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.

[….]

Artikel 3

(1) Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.

[…]

Abschnitt 3

Zuständigkeit für Versicherungssachen

Artikel 8

Für Klagen in Versicherungssachen bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5 nach diesem Abschnitt.

[…]

Artikel 9

(1) Ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

a) vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat,

b) in einem anderen Mitgliedstaat bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, [...]

[…]

Artikel 11

[…]

(2) Auf eine Klage, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt, sind die Artikel 8, 9 und 10 anzuwenden, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist.

[...]

2. Die maßgebenden Bestimmungen der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 9. 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht, 2009/103/EG, lauten:

Artikel 1

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

[…]

2. „Geschädigter“ jede Person, die ein Recht auf Ersatz des von einem Fahrzeug verursachten Schadens hat;

[…]

Artikel 18

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Geschädigte eines Unfalls, der durch ein durch die Versicherung nach Artikel 3 gedecktes Fahrzeug verursacht wurde, einen Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen haben, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt.

V. Innerstaatliche Rechtsgrundlagen:

1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Gesetzes vom 25. 2. 1993 über die Organisation und die Betriebsführung der Landeskrankenanstalten (Kärntner Landeskrankenanstalten-Betriebsgesetz ‑ K‑LKABG), LGBl Nr 44/1993, lauten:

§ 2

(1) Zur Verwirklichung des Zieles dieses Gesetzes wird eine Anstalt öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit eingerichtet. Die Anstalt öffentlichen Rechts führt die Bezeichnung 'Landeskrankenanstalten- Betriebsgesellschaft ‑ KABEG' […] Die KABEG ist in das Firmenbuch einzutragen.

[…]

§ 3

(1) Der KABEG obliegt im Rahmen dieses Gesetzes die Betriebsführung der Landeskrankenanstalten als öffentliche Krankenanstalten des Landes im Sinne der Kärntner Krankenanstaltenordnung 1999 ‑ K‑KAO, LGBl Nr 26, in der jeweils geltenden Fassung. Die einzelnen Landeskrankenanstalten haben keine eigene Rechtspersönlichkeit.

[…]

(4) Die KABEG ist nicht auf Gewinn ausgerichtet. Sie hat ihre Aufgaben gemeinnützig zu erfüllen. Allfällige Überschüsse der Gebarung hat die KABEG zur Verwirklichung der Ziele dieses Gesetzes zu verwenden.

[…]

(6) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben darf die KABEG Unternehmen errichten, Beteiligungen an anderen Unternehmen eingehen, diese erwerben und veräußern.

2. § 1358 ABGB lautet:

Wer eine fremde Schuld bezahlt, für die er persönlich oder mit bestimmten Vermögensstücken haftet, tritt in die Rechte des Gläubigers und ist befugt, von dem Schuldner den Ersatz der bezahlten Schuld zu fordern. [...]

§ 67 VersVG lautet:

(1) Steht dem Versicherungsnehmer ein Schadenersatzanspruch gegen einen Dritten zu, so geht der Anspruch auf den Versicherer über, soweit dieser dem Versicherungsnehmer den Schaden ersetzt. […]

[...]

VI. Vorlagefragen:

1. Vorbemerkungen:

1.1 Der Oberste Gerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Rechtsansicht, dass der Anspruch des bei einem Verkehrsunfall verletzten Dienstnehmers auf Ersatz des Verdienstentgangs, den dieser durch die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit erleidet, in Analogie zu § 1358 ABGB, § 67 VersVG durch Legalzession auf den Dienstgeber übergeht, sofern dieser gesetzlich zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist. Der Schaden des Dienstnehmers wird durch die Lohnfortzahlung auf den Dienstgeber überwälzt (2 Ob 21/94 SZ 67/52; RIS‑Justiz RS0043287). Dies gilt auch für ein öffentlich‑rechtliches Dienstverhältnis (2 Ob 2282/96v SZ 69/223).

1.2 Die Verordnung (EU) Nr 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 12. 2012 über die gerichtliche Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist nach deren Art 66 Abs 1 auf das vorliegende Verfahren, das vor dem 10. 1. 2015 eingeleitet wurde, noch nicht anzuwenden.

1.3 Es liegt eine Zivilsache im Sinne des Art 1 Abs 1 der VO (EG) Nr 44/2001 vor. Die klagende Partei handelt nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse, sondern als Privatrechtssubjekt (RIS‑Justiz RS0115355). Somit ist der Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet.

1.4 Die Ersatzansprüche des (der) Geschädigten sind gemäß Art 3 des Haager Übereinkommens über das auf Straßenverkehrsunfälle anzuwendende Recht nach italienischem Recht zu beurteilen. Darin besteht auch zwischen den Parteien Einigkeit. Nach diesem Recht bestimmt sich nach Art 9 des Übereinkommens auch die Frage, ob den geschädigten Personen ein unmittelbarer Anspruch gegen den Versicherer des Haftpflichtigen zusteht. Der Oberste Gerichtshof geht davon aus, dass nach italienischem Recht ein Direktanspruch gegen den Versicherer des Haftpflichtigen zulässig ist.

2. Zur Frage 1:

2.1 Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 13. 12. 2007, C‑463/06, FBTO Schadeverzekeringen/Odenbreit festgestellt, dass die Verweisung in Art 11 Abs 2 auf Art 9 Abs 1 lit b der VO (EG) Nr 44/2001 dahin auszulegen ist, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Orts in einem Mitgliedstaat, an dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, soferne eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig ist.

2.2 In seinem Urteil vom 17. 9. 2009, C‑347/08, Vorarlberger Gebietskrankenkasse/WGV‑Schwäbische Allgemeine Versicherungs AG hat der Gerichtshof die Frage, ob sich auch ein Sozialversicherungsträger, auf den die Ansprüche eines bei einem Unfall unmittelbar Geschädigten infolge einer Legalzession übergegangen sind, auf diesen Gerichtsstand stützen und die Klage bei Gericht seines Sitzes einbringen kann, verneint.

Dabei hat der Gerichtshof einerseits klargestellt, dass der Begriff des Geschädigten in Art 11 Abs 2 VO (EG) Nr 44/2001 nicht auf das unmittelbar betroffene Unfallopfer beschränkt ist, sondern auch mittelbar geschädigte Personen einschließt (Rn 25 ff).

Andererseits erblickte er den Grund für die besonderen Zuständigkeiten in Versicherungssachen darin, die wirtschaftlich schwächere und rechtlich weniger erfahrene Partei durch Zuständigkeitsvorschriften, die für sie günstiger als die allgemeine Regelung sind, zu schützen (Rn 40; Erwägungsgrund 13). Daraus ergebe sich, dass die in der VO (EG) Nr 44/2001 insoweit vorgesehenen Zuständigkeits-regeln in Versicherungssachen nicht auf Personen ausgedehnt werden dürften, die dieses Schutzes nicht bedürften (Rn 41). Es sei aber nicht vorgebracht worden, dass ein Sozialversicherungsträger als Partei wirtschaftlich schwächer und rechtlich weniger erfahren sei als ein Haftpflichtversicherer. Allgemein sei im Rahmen der Beziehungen zwischen gewerblich Tätigen des Versicherungssektors, von denen keiner als der gegenüber dem anderen Schwächere angesehen werden könne, ein besonderer Schutz nicht gerechtfertigt (Rn 42; EuGH 26. 5. 2005, C‑77/04, GIE Réunion européenne/Zurich Espaňa und Société pyrénéenne de transit d'automobiles [Soptrans]). Folglich könne sich ein Sozialversicherungsträger als Legalzessionar von Ansprüchen eines bei einem Unfall unmittelbar Geschädigten nicht auf Art 9 Abs 1 lit b in Verbindung mit Art 11 Abs 2 VO (EG) Nr 44/2001 berufen (Rn 43). Ein Legalzessionar der Ansprüche des unmittelbar Geschädigten hingegen, der selbst als schwächere Partei angesehen werden könne, müsste aber in den Genuss der besonderen Zuständigkeitsregeln kommen können. Dies wäre insbesondere bei den Erben eines Unfallopfers der Fall (Rn 44).

2.3 Nach allgemeiner Auffassung steht der Klägergerichtsstand nach Art 9 Abs 1 lit b in Verbindung mit Art 11 Abs 2 VO (EG) Nr 44/2001 grundsätzlich auch einer unmittelbar geschädigten juristischen Person offen, da sich weder aus dem Wortlaut des Art 11 noch aus dem ihm zugrunde liegenden Schutzzweck eine generelle Beschränkung auf natürliche Personen ableiten lässt. Eine im Einzelfall vorzunehmende konkret-individuelle Betrachtung der tatsächlichen Unterlegenheit des Klägers im Verhältnis zum beklagten Versicherer wird wegen der damit verbundenen Rechtsunsicherheit und der Unvereinbarkeit mit dem Anliegen des Verordnungsgebers, ein vorhersehbares Zuständigkeits-regime zu schaffen (Erwägungsgrund 11), überwiegend abgelehnt (vgl Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht9 [2011] Art 11 EuGVO Rn 4; Staudinger in Rauscher, EuZPR/EuIPR [2011] Art 11 Brüssel I‑VO Rn 6b; je mwN). Der Europäische Gerichtshof hat sich zu dieser Frage bisher noch nicht geäußert.

2.4 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil C‑347/08 deutlich gemacht, dass sich ‑ von Sozial-versicherungsträgern und gewerblich Tätigen des Versicherungssektors abgesehen ‑ Legalzessionare der Ansprüche des unmittelbar Geschädigten auf die besonderen Zuständigkeitsregeln stützen könnten, wenn sie selbst als „schwächere Partei“ anzusehen wären und als Beispiel die Erben des Unfallopfers genannt. Ob auch juristische Personen als „schwächere“ Legalzessionare in Frage kommen, wurde nicht erwähnt.

Offen blieb aber insbesondere, nach welchen Kriterien die Unterlegenheit des Legalzessionars geprüft und beurteilt werden soll. Die Ermittlung, wer „wirtschaftlich schwächer und rechtlich unerfahrener“ ist als ein gewerblich tätiger Haftpflichtversicherer, kann im Falle eines klagenden Unternehmers bei konkret-individueller Betrachtung mangels vergleichbarer Parameter durchaus zu erheblichen praktischen Problemen führen. Gerade bei Dienstgebern, die als Legalzessionare die auf sie übergangenen Ansprüche ihrer Dienstnehmer geltend machen, kann das Spektrum vom „kleinen“ Einzelunternehmer über mittlere, gesellschaftsrechtlich organisierte Unternehmen bis zu Großunternehmen, öffentlich‑rechtlichen Institutionen oder Gebietskörperschaften reichen. Bei einer Anstalt öffentlichen Rechts, wie sie im vorliegenden Fall als Klägerin auftritt, könnte möglicherweise die Unterlegenheit gegenüber einem Haftpflichtversicherer schon grundsätzlich zu verneinen sein (in diesem Sinne bereits OLG Koblenz, DAR 2013, 30 [Schneider], zu einer Gebietskörperschaft; vgl auch die zu Art 5 Nr 2 VO [EG] Nr 44/2001 ergangene Entscheidung des EuGH vom 15. 1. 2004, C‑433/01, Freistaat Bayern/Blijdenstein, auf welche der Gerichtshof in C‑347/08 verweist).

2.5 Der Europäische Gerichtshof scheint, ohne dies ausdrücklich auszusprechen, vom Erfordernis einer konkreten Einzelfallbetrachtung auszugehen. Dieser Ansatz birgt allerdings wie beim unmittelbar Geschädigten die Gefahr der Rechtsunsicherheit in sich und steht mit den Zielen der VO (EG) Nr 44/2001 in einem Spannungsverhältnis, müssen doch laut Erwägungsgrund 11 die Zuständigkeitsvorschriften in hohem Maße vorhersehbar sein. Andererseits bleibt durch diese Sichtweise der persönliche Anwendungsbereich der Art 8 ff VO (EG) Nr 44/2001 zugunsten der Grundregel des Art 2 VO eng umgrenzt (dies abwägend Lüttringhaus, Der Direktanspruch im vergemeinschafteten IZVR und IPR nach der Entscheidung EuGH VersR 2009, 1512 [Vorarlberger Gebietskrankenkasse], VersR 2010, 183 [188]).

2.6 Der Gerichtshof nennt als Legalzessionare, die als schwächere Partei in den Genuss der besonderen Zuständigkeitsregeln kommen müssten, ohne weitere Differenzierung „die Erben“ des Unfallopfers. Diese Aussage könnte doch auf eine typisierende Betrachtung hindeuten, wie sie in der überwiegenden Lehre bei den unmittelbar Geschädigten bevorzugt wird (siehe oben; vgl auch Garber, Internationale Zuständigkeit für die Klage als Legalzessionar von Schadenersatzansprüchen, JBl 2012, 382 [384]). Jedenfalls erscheint eine solche Interpretation nicht gänzlich ausgeschlossen. Umgelegt auf Dienstgeber, die auf sie übergegangene Ersatzansprüche der Dienstnehmer als Legalzessionare geltend machen, könnten auch diesen ganz allgemein und unabhängig von der Größe ihres Unternehmens und/oder ihrer Rechtsform die besonderen Gerichtsstände der Art 8 ff VO (EG) Nr 44/2001 offen stehen, zumindest wenn es sich nicht um Sozialversicherungsträger oder im Versicherungssektor gewerblich tätige oder sonstige regelmäßig mit der Regulierung von Schadensfällen befasste Dienstgeber handelt.

Ein Argument zugunsten einer derartigen Lösung wäre, dass ein einheitlicher Lebenssachverhalt nicht auf der Ebene der internationalen Zuständigkeit noch weiter zersplittert wird. So ist im gegenständlichen Fall etwa der Schadenersatzprozess des unmittelbar Geschädigten vor einem österreichischen Gericht anhängig, während der den Lohn fortzahlende Dienstgeber des Geschädigten, bleiben ihm die Gerichtsstände nach den Art 8 ff VO (EG) Nr 44/2001 verwehrt, die Klage gemäß Art 2 VO (EG) Nr 44/2001 am Sitz des Haftpflichtversicherers, also in Frankreich, oder am Gerichtsstand des Schadensorts gemäß Art 5 Nr 3 VO (EG) Nr 44/2001 (vgl 2 Ob 210/11p ZVR 2012/61 [Mayr] = JBl 2012, 382 [Garber] = EvBl 2012/93 [Frauenberger-Pfeiler] = IPrax 2013/32 [Looschelders]), demnach in Italien, einbringen müsste. Sind auch auf den Sozialversicherungsträger Ansprüche übergegangen, könnte dies nach einem Unfallgeschehen zu Prozessen in drei verschiedenen Mitgliedstaaten führen.

2.7 Nicht ausdrücklich eingegangen ist der Europäische Gerichtshof in seinen bisherigen Entscheidungen auf die Frage, ob bei Verneinung der Schutzbedürftigkeit des Klägers überhaupt eine Versicherungssache im Sinne des Art 8 VO (EG) Nr 44/2001 vorliegen kann. Diese Frage ist nach verbreiteter Meinung im Schrifttum vorrangig zu behandeln, weil ihre Beantwortung darüber entscheidet, ob dem Kläger die besonderen Zuständigkeiten in Versicherungssachen, demnach auch jene nach Art 9 Abs 1 lit b in Verbindung mit Art 11 Abs 2 VO (EG) Nr 44/2001, überhaupt offen stehen (so etwa G. Wagner in Stein/Jonas, Kommentar zur (d)ZPO²² X [2011] Art 11 EuGVVO Rn 13 mwN). Der Oberste Gerichtshof folgt in der Formulierung seiner Frage dieser überzeugenden dogmatischen Argumentation.

2.8 Der Begriff der Versicherungssache ist in Art 8 VO (EG) Nr 44/2001 nicht näher definiert. Nach allgemeiner Ansicht ist eine autonome Auslegung geboten. Entscheidende Bedeutung kommt dabei sowohl dem Streitgegenstand als auch den beteiligten Personen zu. Demzufolge werden alle Rechtsstreitigkeiten einbezogen, die ihren Grund in einem Versicherungsverhältnis haben, sich also auf dessen Abschluss, Durchführung und Beendigung beziehen. Dazu gehört auch die Direktklage des Geschädigten gegen den Versicherer gemäß Art 11 Abs 2 VO (Simotta in Fasching, ZPO² V/1 [2008] Art 8 EuGVVO Rz 7 f; Staudinger in Rauscher, EuZPR/EuIPR [2011] Art 8 Brüssel I‑VO Rn 10 und 16). Es bedarf einer Klarstellung durch den Europäischen Gerichtshof, ob und unter welchen Voraussetzungen auch die Direktklage von Dienstgebern, die auf sie übergegangene Ersatzansprüche der Dienstnehmer als Legalzessionare geltend machen, als „Klage in Versicherungssachen“ zu beurteilen ist.

3. Zur Frage 2:

Diese Frage knüpft unmittelbar an die vorstehenden Erwägungen an. Die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil vom 17. 9. 2009, C‑347/08, Vorarlberger Gebietskrankenkasse/WGV-Schwäbische Allgemeine Versicherungs AG lassen nicht eindeutig erkennen, ob der dort klagende Sozialversicherungsträger nicht trotz der Verneinung seiner Unterlegenheit gegenüber dem beklagten Haftpflichtversicherer als „Geschädigter“ im Sinne des Art 11 Abs 2 VO (EG) Nr 44/2011 angesehen wurde (dies bejahend 2 Ob 210/11p; dazu krit Garber [JBl 2012, 382] und Looschelders [Iprax 2013/32]). Nach (nunmehriger) Ansicht des Obersten Gerichtshofs kann ein Kläger, dem mangels Schutzwürdigkeit die Berufung auf die besonderen Gerichtsstände der Art 8 ff VO (EG) Nr 44/2011 schon grundsätzlich versagt bleibt, nicht trotzdem „Geschädigter“ im Sinne des Art 11 Abs 2 VO sein. Nur bei Vorliegen einer Versicherungssache, welche die Schutzbedürftigkeit des Klägers voraussetzt, muss dieser auch als ‑ unmittelbar oder mittelbar ‑ „Geschädigter“ zu qualifizieren sein. Auch dazu wird der Europäische Gerichtshof um Klarstellung ersucht.

VII. Verfahrensrechtliches:

Als Gericht letzter Instanz ist der Oberste Gerichtshof zur Vorlage verpflichtet, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass kein Raum für vernünftige Zweifel besteht. Solche Zweifel liegen hier vor.

Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist das Verfahren über das Rechtsmittel der klagenden Partei auszusetzen.

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