OGH 9ObA33/13p

OGH9ObA33/13p24.7.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner und Mag. Ernst Bassler als weitere Richter in den verbundenen Arbeitsrechtssachen der klagenden Parteien 1. T***** D*****, 2. B***** J*****, 3. F***** L*****, 4. H***** N*****, 5. H***** P*****, 6. A***** S*****, 7. V***** R*****, 8. J***** M*****, 9. J***** S*****, und 10. N***** W*****, alle vertreten durch Dr. Norbert Moser, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei T***** GmbH, *****, vertreten durch Bruckmüller Zeitler Rechtsanwälte GmbH in Linz, wegen zu 1. 81,40 EUR brutto sA und 2. bis 10. je 86,70 EUR brutto sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. Jänner 2013, GZ 7 Ra 78/12p‑13, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 10. Juli 2012, GZ 35 Cga 59/12b‑9, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, binnen 14 Tagen der erstklagenden Partei 81,40 EUR brutto samt 8,38 % Zinsen seit 20. 3. 2012 und den zweit‑ bis achtklagenden Parteien und der zehntklagenden Partei je 86,70 EUR brutto samt 8,38 % Zinsen seit 1. 4. 2012 sowie der neuntklagenden Partei 86,70 EUR brutto samt 8,38 % Zinsen seit 2. 11. 2011 zu bezahlen, abgewiesen wird.

Die klagenden Parteien sind schuldig, der beklagten Partei jeweils 1/10 der mit 3.351,74 EUR (darin 558,58 EUR an USt) bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Erstklägerin war bis 19. 3. 2012, die Zweit‑ bis Neuntklägerinnen sind beim beklagten Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen beschäftigt. Auf die Arbeitsverhältnisse kommt der Kollektivvertrag für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung (KVAÜ) zur Anwendung. Die Klägerinnen waren von der Beklagten bereits vor dem 1. 11. 2011 einem Unternehmen überlassen, auf dessen Dienstverträge mit seinem Stammpersonal der Kollektivvertrag für die eisen‑ und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie (im Folgenden: KV‑Metallindustrie) anzuwenden ist. Die Erstklägerin verrichtete, die Zweit‑ bis Neuntklägerinnen verrichten Tätigkeiten der Beschäftigungsgruppe B dieses Kollektivvertrags.

Bei den Kollektivvertragsverhandlungen 2011 wurden ab 1. 11. 2011 sowohl die kollektivvertraglichen Mindestlöhne (Art IX Z 20 des KV‑Metallindustrie) als auch die Ist‑Löhne (Art IX Z 4 und Anhang II des KV‑Metallindustrie) je nach Beschäftigungsgruppe zwischen 4,0 % und 4,4 % erhöht. Die Erhöhung der Ist‑Löhne erfolgte jedoch mindestens um 80 EUR pro Monat.

Im Anhang II des KV‑Metallindustrie, der die Überschrift „Vereinbarung über die Erhöhung der Monatslöhne, Akkord‑, Prämienverdienste und Zulagen“ trägt, wird für die Arbeitnehmer/innen in Zeitlohn unter Z 1 festgehalten:

„Die tatsächlichen Monatslöhne der in den Betrieben beschäftigten Arbeitnehmer/innen, ausgenommen die gewerblichen Lehrlinge, werden um

BG A bis B 4,4 %

BG C bis D 4,3 %

BG E bis F 4,2 %

BG G 4,0 %

mindestens jedoch um 80 EUR pro Monat (...), erhöht.

Erreichen die so erhöhten Ist‑Löhne nicht die neuen Mindestlöhne, so sind sie entsprechend anzuheben.

Überstundenpauschalien sind um den gleichen Prozentsatz zu erhöhen.“

In einem Protokoll zum Lohnabschluss 2011 wurde von den Fachverbänden des Eisen‑/Metall‑Sektors und der Gewerkschaft PRO‑G nachstehende Vereinbarung geschlossen:

1. Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne ab 1. 11. 2011 (Beilage 1):

BG A bis B 4,4 %

BG C bis D 4,3 %

BG E bis F 4,2 %

BG G 4,0 %.

2. Erhöhung der Ist‑Löhne im selben Ausmaß wie Absatz 1, mindestens jedoch um € 80,-- pro Monat (auch bei KV‑Sitzer; bei Teilzeitbeschäftigten aliquotiert sich der genannte Eurobetrag pro Monat in dem Umfang, das dem Ausmaß der vereinten Wochenarbeitszeit im Verhältnis zur kollektivvertraglichen Normalarbeitszeit entspricht), ab 1. 11. 2011 (siehe Anhang II). Das ist eine Erhöhung um durchschnittlich 4,2 %.

...“

Die Beklagte erhöhte die Überlassungslöhne der Klägerinnen ab 1. 11. 2011 unter Berücksichtigung der kollektivvertraglichen Mindestlohnerhöhung von 4,4 %, nicht jedoch unter Berücksichtigung des Mindestbetrags von 80 EUR pro Monat. Der von der Beklagten an die Klägerinnen ausbezahlte Überlassungslohn berücksichtigt den in Abschnitt IX/4a lit b des KVAÜ festgesetzten Referenzzuschlag.

Die Klägerinnen begehren mit ihren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Klagen die der Höhe nach unstrittigen Lohndifferenzen, die sich aus der Lohnerhöhung auf Basis der Erhöhung des kollektivvertraglichen Mindestlohnes von 4,4 % und jener auf Basis der Erhöhung der Mindestlöhne um 80 EUR pro Monat ergeben. Der Begriff der „tatsächlichen Löhne“ im Anhang II Z 1 des KV‑Metallindustrie umfasse sowohl die kollektivvertraglichen Mindestlöhne als auch die Ist‑Löhne. Da nach Abschnitt IX/3 des KVAÜ für die Dauer der Überlassung die Mindestlöhne im Beschäftigerbetrieb für die Höhe der Überlassungslöhne maßgeblich seien, sei der Überlassungslohn so zu errechnen, dass der um 80 EUR erhöhte Mindestlohn um den Referenzzuschlag zu erhöhen sei. Auch eine richtlinienkonforme Interpretation der zum damaligen Zeitpunkt in Österreich noch nicht umgesetzten Leiharbeits‑RL 2008/104/EG führe ausgehend vom Grundsatz der Gleichbehandlung der Stammarbeiter des Beschäftigerbetriebs und der überlassenen Arbeitskräfte („Equal‑Pay“) zum selben Ergebnis.

Die Beklagte bestritt und beantragte Klagsabweisung. Die Erhöhung der Löhne um den Mindestbetrag von 80 EUR betreffe nach dem klaren Wortlaut der Bestimmungen der Art IX Z 4 iVm Anhang II Z 1 des KV‑Metallindustrie ausschließlich die Ist‑Löhne. Die Mindestlöhne nach Art IX Z 20 des KV‑Metallindustrie seien davon nicht umfasst. Für die Berechnung des Überlassungslohnes seien nach Abschnitt IX/3 des KVAÜ nur das kollektivvertragliche Mindestentgelt und nicht die tatsächlich bezahlten Löhne (Ist‑Löhne) maßgeblich. Auch eine richtlinienkonforme Interpretation führe zu keinem anderen Ergebnis, weil klare nationale Regelungen ‑ wie hier ‑ auch durch Auslegung nicht umgedeutet werden könnten. Überdies könnten die Mitgliedstaaten gemäß Art 5 Abs 2 RL 2008/104/EG Ausnahmen vorsehen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Aufgrund des klaren Wortlauts des KV‑Metallindustrie in Art IX Z 4 und Anhang II seien nur die tatsächlichen Mindestlöhne, also die Ist‑Löhne und nicht die Mindestlöhne um den Mindestbetrag von 80 EUR pro Monat zu erhöhen. Eine richtlinienkonforme Interpretation des § 10 Abs 1 AÜG und des Abschnitts IX des KVAÜ gebiete jedoch, auch den Überlassungslohn der Klägerinnen auf Basis der im Anhang II des KV‑Metallindustrie festgelegten Ist‑Lohnerhöhung, damit um den Mindestbetrag von zumindest 80 EUR pro Monat zu erhöhen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten keine Folge. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass die Vereinbarung über die Erhöhung der tatsächlichen Monatslöhne grundsätzlich eine Ist‑Lohnerhöhung darstelle. Die Klagebegehren seien schon deshalb berechtigt, weil nach Abschnitt IX/3 des KVAÜ iVm § 10 Abs 4 AÜG den überlassenen Arbeitskräften der vergleichbaren Arbeitnehmern im Beschäftigerbetrieb für eine vergleichbare Tätigkeit zustehende kollektivvertragliche Lohn gebühre. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Klägerinnen gemäß Abschnitt IX/4a des KVAÜ einen erhöhten Überlassungslohn erhielten. Die ausbezahlten Referenzzuschläge sollten nur eine Annäherung an das in der Metallindustrie übliche Ist‑Lohnniveau und nicht einen Ausgleich zu dem vergleichbaren Arbeitnehmern zustehenden Mindestlohn darstellen.

Die ordentliche Revision erachtete das Berufungsgericht für zulässig, weil der Frage, ob die kollektivvertragliche Erhöhung aller tatsächlichen Löhne (auch Mindestlöhne) der vor einem bestimmten Stichtag beschäftigten Arbeitnehmer um einen Mindestbetrag auch Auswirkungen auf ebenfalls bereits vor dem Stichtag überlassene Arbeitskräfte habe, eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.

In ihrer dagegen gerichteten Revision beantragte die Beklagte die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Klagsabweisung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerinnen beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu, ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig (RIS‑Justiz RS0109942) und auch berechtigt.

1. Die dem normativen Teil eines Kollektivvertrags angehörenden Bestimmungen sind nach den Grundsätzen der §§ 6, 7 ABGB, also nach der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und der Absicht des Normgebers auszulegen (RIS‑Justiz RS0008782; RS0008807). Maßgeblich ist daher, welchen Willen des Normgebers der Leser dem Text entnehmen kann (RIS‑Justiz RS0010088). Denn die Normadressaten, denen nur der Text des Kollektivvertrags zur Verfügung steht, können die Vorstellungen, die die Kollektivvertragsparteien beim Abschluss vom Inhalt der Norm besessen haben, weder kennen noch feststellen. Sie müssen sich vielmehr darauf verlassen können, dass die Absicht der Parteien in erkennbarer Weise im Vertragstext ihren Niederschlag gefunden hat (9 ObA 3/12z; 9 ObA 14/12t ua). Den Kollektivvertragsparteien darf grundsätzlich unterstellt werden, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten, sodass bei mehreren an sich in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, wenn alle anderen Auslegungsgrundsätze versagen, jener der Vorzug zu geben ist, die diesen Anforderungen am meisten entspricht (RIS‑Justiz RS0008828; RS0008897).

2. Im vorliegenden Fall haben die Kollektivvertragsparteien mit dem Lohnabschluss 2011 die kollektivvertraglichen Mindestlöhne laut Mindestlohntabelle (Art IX Z 20 des KV‑Metallindustrie) um die jeweiligen nach den Beschäftigungsgruppen A‑G gestaffelten Prozentsätze zwischen 4,0 % und 4,4 % mit Wirksamkeit ab 1. 11. 2011 erhöht. Die Ist‑Löhne wurden um die gleichen Prozentsätze, mindestens jedoch um 80 EUR pro Monat erhöht. Nach Art IX Z 4 des KV‑Metallindustrie ist die kollektivvertragliche Ist‑Lohn‑Erhöhung im Anhang II geregelt. Anhang II Z 1 des KV‑Metallindustrie verwendet den Begriff der „tatsächlichen Monatslöhne“ (der in den Betrieben beschäftigten Arbeitnehmer/innen). Dies lässt im Zusammenhang mit dem ebenfalls im Anhang II Z 1 des KV‑Metallindustrie enthaltene Satz „Erreichen die so erhöhten Ist‑Löhne nicht die neuen Mindestlöhne, so sind sie entsprechend anzuheben.“ erkennen, dass die Kollektivvertragsparteien von einem weiten Verständnis des Begriffs „Ist-Löhne“ ausgehen und daher alle zum Zeitpunkt 1. 11. 2011 in einem dem KV‑Metallindustrie zugehörigen Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer nicht nur in den Genuss der prozentuellen Lohnerhöhung, sondern gegebenenfalls auch in den der Erhöhung um den Mindestbetrag von 80 EUR kommen sollten. Dieses schon aus dem Text des Kollektivvertrags erzielte Auslegungsergebnis steht auch in Einklang mit der in Punkt 2. des Protokolls zum Lohnabschluss getroffenen Klarstellung der Kollektivvertragsparteien, wonach die Erhöhung der Ist‑Löhne auch bei „KV‑Sitzer“ zum Tragen kommt. Unter den Begriff „KV‑Sitzer“ ist dabei schon seinem Wortlaut nach jeder im Betrieb beschäftigte Arbeitnehmer zu verstehen, der entsprechend seiner Einstufung einen kollektivvertraglichen Mindestlohn erhält.

Nur für die ab 1. 11. 2011 neu beschäftigten Mitarbeiter ist daher die Mindestlohntabelle nach Art IX Z 20 des KV‑Metallindustrie maßgeblich. Diese Auslegung entspricht ‑ wie auch die Klägerinnen in ihren Rechtsmittelschriften ausführlich darlegen ‑ dem offenkundigen Zweck dieser Lohnregelung. Eine Mindestbetragserhöhung sichert, dass gerade die geringsten Einkommen überdurchschnittlich erhöht werden. Dass jemand, der knapp mehr als den Mindestlohn verdient, in den Genuss der Mindestbetragserhöhung kommen sollte, hingegen jemand, der nur den Mindestlohn verdient, sie nicht bekäme, entspräche weder einer vernünftigen noch zweckentsprechenden und schon gar nicht einer den gerechten Ausgleich sozialer und wirtschaftlicher Interessen dienender Auslegung des Kollektivvertrags. Der erkennbare Wille der Kollektivvertragsparteien bei dem differenzierten Lohnabschluss 2011 war es, durch den Sockelbetrag von 80 EUR den Arbeitnehmern mit einem niedrigeren Lohn eine höhere Lohnerhöhung zu gewähren, aber andererseits Neueinstellungen nicht überdurchschnittlich zu verteuern. Durch eine solche Regelung wird einerseits die Kaufkraft und damit die Inlandsnachfrage erhalten bzw verbessert und andererseits eine Ausweitung der Beschäftigung unterstützt, wodurch diejenigen Arbeitnehmer, die zum Produktivitätszuwachs bzw den positiven Branchenergebnissen beigetragen haben, besonders Bedacht genommen wurde.

Zusammengefasst kann daher als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass die aufgrund des Lohnabschlusses 2011 im KV‑Metallindustrie festgehaltenen Regelungen zwingend vorsehen, dass kein (Stamm‑)Mitarbeiter, der schon vor dem 1. 11. 2011 in einem dem des KV‑Metallindustrie unterliegendem Betrieb mit dem Mindestlohn beschäftigt war, ab 1. 11. 2011 einen niedrigeren Lohn beziehen kann, als den in der alten Mindestlohntabelle vorgesehenen Mindestlohn, erhöht um 80 EUR.

3. Für die Beschäftigung von Arbeitskräften, die zur Arbeitsleistung an Dritte überlassen werden, gilt das Arbeitskräfteüberlassungsgesetz (§ 1 Abs 1 iVm § 3 Abs 1 AÜG). Dieses Gesetz bezweckt den Schutz der überlassenen Arbeitskräfte ua in arbeitsvertraglichen Angelegenheiten (§ 2 Abs 1 Z 1 AÜG). Im AÜG werden arbeitsrechtliche Mindestansprüche für die überlassenen Arbeitskräfte normiert (9 ObA 111/07z; 9 ObA 123/06p ua). Nach § 10 Abs 1 Satz 2 AÜG bleiben Normen der kollektiven Rechtsgestaltung, denen der Überlasser unterworfen ist, unberührt (Grundsatz der Tarifautonomie). Damit wird ein Vorrang des für Arbeitskräfte überlassenen normativ anzuwendenden Kollektivvertrags festgelegt (9 ObA 111/07z mwN; RIS‑Justiz RS0050699 [T4] ua). Derartige Normen bestehen für Arbeiter aufgrund des am 1. 3. 2002 in Kraft getretenen Kollektivvertrags für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung (KVAÜ).

4. § 10 AÜG regelt im Abschnitt III (Besondere Bestimmungen) die Ansprüche der Arbeitskraft. Nach § 10 Abs 1 Satz 1 AÜG in der bis 31. 12. 2012 in Kraft gestandenen Fassung BGBl I 2005/104 hat die Arbeitskraft Anspruch auf ein angemessenes, ortsübliches Entgelt, das mindestens einmal monatlich auszuzahlen und schriftlich abzurechnen ist. Nach Satz 3 dieser Bestimmung ist bei der Beurteilung der Angemessenheit für die Dauer der Überlassung auf das im Beschäftigerbetrieb vergleichbaren Arbeitnehmern für vergleichbare Tätigkeiten zu zahlende kollektivvertragliche oder gesetzlich festgelegte Entgelt Bedacht zu nehmen. Nach § 10 Abs 3 AÜG idF BGBl I 2005/104 gelten während der Überlassung die arbeitszeitrechtlichen Vorschriften des im Beschäftigerbetrieb auf vergleichbare Arbeitnehmer anzuwendenden Kollektivvertrags und einer auf vergleichbare Arbeitnehmer anzuwendenden gesetzlich festgelegten Regelung auch für die überlassene Arbeitskraft.

Mit der Novelle BGBl I 2012/98 wurde dem § 10 Abs 1 AÜG folgender Satz angefügt: „Darüber hinaus ist auf den im Beschäftigerbetrieb für vergleichbare Arbeitnehmer mit vergleichbaren Tätigkeiten geltenden sonstigen verbindlichen Bestimmungen allgemeiner Art Bedacht zu nehmen, es sei denn, es gelten ein Kollektivvertrag, dem der Überlasser unterworfen ist, sowie eine kollektivvertragliche, durch Verordnung festgelegte oder gesetzliche Regelung des Entgelts im Beschäftigerbetrieb.“

Nach § 10 Abs 3 AÜG idF BGBl I 2012/98 gelten während der Überlassung für die überlassene Arbeitskraft die im Beschäftigerbetrieb für vergleichbare Arbeitnehmer gültigen gesetzlichen, kollektivvertraglichen sowie sonstigen im Beschäftigerbetrieb geltenden verbindlichen Bestimmungen allgemeiner Art, die sich auf Aspekte der Arbeitszeit und des Urlaubs beziehen.

5. Für die Dauer der Überlassung ist somit auf das an Arbeitnehmer des Beschäftigerbetriebs für vergleichbare Arbeiten zu zahlende kollektivvertragliche Mindestentgelt (sofern dieses höher ist als das Grundentgelt) Bedacht zu nehmen (RIS‑Justiz RS0050789). § 10 AÜG nähert somit die Entgeltansprüche weitgehend jenen der Stammarbeitnehmer an (Schindler in ZellKomm² § 10 AÜG Rz 2 unter Hinweis auf RV 450 BlgNR 17. GP 19).

Eine Angleichung an die im Beschäftigerbetrieb gezahlten überkollektivvertraglichen Ist‑Löhne für die Dauer der Beschäftigung sieht das Gesetz jedoch nicht vor (9 ObA 111/07z mwN; RIS‑Justiz RS0050688; RS0050789 [T2, T4]; Tomandl, Arbeitskräfteüberlassung 2010 [86]). Eine gänzliche Harmonisierung des Lohnniveaus zwischen Überlasser und Beschäftiger ist im Bereich der Arbeitskräfteüberlassung nicht vorgesehen (9 ObA 111/07z; Schindler in ZellKomm² § 10 AÜG Rz 4).

6. Auch wenn das im Beschäftigerbetrieb bestehende Lohnniveau (die betrieblichen Ist‑Löhne) nicht geschützt wird, besteht doch nach Abschnitt IX/3 des KVAÜ für die Dauer der Überlassung Anspruch auf den im Beschäftigerbetrieb vergleichbaren Arbeitnehmern für vergleichbare Tätigkeiten zu zahlenden kollektivvertraglichen Lohn, wenn dieser höher ist, als der in Abschnitt IX/1 und 2 des KVAÜ geregelte Mindestlohn/Grundlohn. Für Hochlohnbranchen, also jene Kollektivvertragsbereiche, in denen Kollektivvertragslöhne in etwa jener Höhe, die in Abschnitt IX/1 und 2 des KVAÜ vorgesehen ist, gelten und diese in der betrieblichen Praxis (erheblich) überzahlt werden, erfolgt nach Abschnitt IX/3 des KVAÜ eine pauschale Annäherung an dieses branchenübliche Ist‑Lohnniveau durch die Regelung über erhöhte Überlassungslöhne in Form prozentueller Referenzzuschläge (9 ObA 111/07z; Schindler, KVAÜ 199 ff). Diese Zuschläge kommen bei der Überlassung in Betriebe zum Tragen, für deren vergleichbare Arbeitnehmer ein Kollektivvertrag gilt, der von einem der in Abschnitt IX/4 des KVAÜ genannten Referenz‑Verbände abgeschlossen wurde (9 ObA 111/07z). Dies ist auch hier der Fall. Die Klägerinnen erhalten einen Überlassungslohn unter Anwendung des nach Abschnitt IX/4a lit b erster Satz des KVAÜ festgesetzten erhöhten Zuschlags zu dem im ersten Satz des Abschnitts IX/3 des KVAÜ bezeichneten kollektivvertraglichen Lohnes.

7. In Abschnitt IX/5 des KVAÜ wird festgelegt, dass der überlassene Arbeitnehmer durch die vollständige Bezahlung des Mindestlohnes/Grundlohnes gemäß Punkt 1 und 2 dieses Abschnitts unter Beachtung der Bestimmungen über das Überlassungsentgelt das ortsübliche und angemessene Entgelt erhält. Im Anhang IV des KVAÜ (Protokoll vom 15. 1. 2002) verpflichten sich die Kollektivvertragspartner schließlich, die in Abschnitt IX/3 zweiter Absatz genannten Prozentsätze nach oben oder unten anzupassen, wenn sich der im gewichteten Mittel der im Abschnitt IX/4 genannten Branchen festgestellte Überzahlungsprozentsatz gegenüber dem Stand vom April bzw Oktober 2001 in einem solchen Ausmaß ändert, dass die vereinbarten Prozentsätze um zumindest 0,5 % nach oben oder nach unten anzupassen wären.

8. In der Entscheidung 9 ObA 130/04i (DRdA 2005/31 [zust Geppert]) hat der Oberste Gerichtshof unter Bezugnahme auf die Literatur eingehend erläutert, weshalb daher die im KVAÜ festgelegten Erhöhungssätze in pauschalierender Form die von den Kollektivvertragsparteien ermittelten überkollektivvertraglichen Löhne widerspiegeln. Es bestehe kein Grund zur Annahme, dass dabei etwa die mit 31. 3. 2003 im Anhang IIa des KV‑Metallindustrie vorgesehene Einmalzahlung (110 EUR jährlich) unberücksichtigt gelassen worden wäre. Derartige Einmalzahlungen, die häufig anlässlich der jährlichen Gehaltsabschlüsse im Zusammenhang mit Kollektivvertragsverhandlungen festgelegt werden, seien auch nicht mit den üblichen Sonderzahlungen oder mit Zulagen und Zuschlägen zum Grundlohn iSd Abschnitt VII des KVAÜ vergleichbar, sondern stellten eine allgemeine Entgelterhöhung dar, die aus verschiedenen Gründen nicht in einer prozentuellen Erhöhung des bisherigen Grundlohnes, sondern in einer einmaligen Zahlung an sämtliche zu bestimmten Stichtagen im Betrieb beschäftigten Dienstnehmer in gleicher Höhe bestehe.

9. Auch der im Lohnabschluss 2011 festgelegte Mindestbetrag von 80 EUR, um den jedenfalls die Löhne sämtlicher bereits vor dem 1. 11. 2011 beschäftigten Stammmitarbeiter des Beschäftigerbetriebs zu erhöhen waren, stellt ‑ wie eine Einmalzahlung ‑ eine allgemeine Entgelterhöhung dar, die aber ‑ ebenso wie die Einmalzahlung ‑ nicht in die Mindestlohntabelle Eingang gefunden hat. Der Differenzbetrag zwischen dem nach den festgelegten Prozentsätzen berechneten Erhöhungsbetrag der Mindestlöhne und dem Betrag von 80 EUR ist somit vom Referenzzuschlag umfasst. Den Parteien des KVAÜ kann nicht unterstellt werden, dass sie, hätten sie tatsächlich eine andere Regelung beabsichtigt, nicht spätestens nach der zu 9 ObA 130/04i ergangenen Entscheidung eine Klarstellung bzw Änderung des Kollektivvertrags vorgenommen hätten. Eine derartige Regelung erschiene aber auch nicht sachgerecht: Geht man davon aus, dass der Überlassungslohn inklusive des Referenzzuschlags in etwa dem überkollektivvertraglichen Lohn (Ist‑Lohn) eines Stammmitarbeiters des Beschäftigerbetriebs entspricht, dann würde der überlassene Arbeitnehmer ‑ ausgehend vom Standpunkt der Klägerinnen ‑ letztlich eine größere Lohnerhöhung erhalten, als die vergleichbarer Stammmitarbeiter. Mit dem Entgeltsystem des KVAÜ soll aber, wie bereits oben erwähnt, nur eine pauschale Annäherung an das branchenübliche Ist‑Lohnniveau des Beschäftigerbetriebs erreicht werden, nicht aber eine Besserstellung der überlassenen Arbeitnehmer gegenüber den Stammmitarbeitern des Beschäftigerbetriebs.

10. Aber auch unter dem Gesichtspunkt der erst durch die Novellierung des Arbeitskräfteüberlassungsgesetzes BGBl I 2012/98 (die meisten Bestimmungen traten mit 1. 1. 2013 in Kraft; siehe § 23 Abs 15 bis 17 AÜG) in das nationale Recht umgesetzten Leiharbeits‑RL 2008/104/EG ist für die Klägerinnen nichts gewonnen.

Nach dem in Art 5 Abs 1 der Leiharbeits‑RL 2008/104/EG normierten Gleichbehandlungsgebot sollen Leiharbeitskräfte in Bezug auf die wesentlichen Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen so behandelt werden, wie Arbeitnehmer, die unmittelbar im Beschäftigerbetrieb eingestellt worden wären. Gemäß der Begriffsdefinition des Art 3 Abs 1 lit f und lit ii iVm Art 5 der Leiharbeits‑RL bezeichnet der Ausdruck „wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die durch Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift, Tarifvertrag und/oder sonstige verbindliche Bestimmungen allgemeiner Art, die im entleihenden Unternehmen gelten, festgesetzt sind und sich auch auf das Arbeitsentgelt beziehen. Art 5 Abs 2 und der Leiharbeits‑RL sehen jedoch bestimmte Möglichkeiten für die Mitgliedstaaten vor, von dem in Art 5 Abs 1 der Leiharbeits‑RL normierten Gleichbehandlungsgebot abweichende Regelungen im innerstaatlichen Recht zu treffen.

Dass die durch Gesetz usw, aber auch durch Kollektivvertrag festgelegten Entgeltregelungen für Stammarbeitnehmer des Beschäftigers als Mindestanspruch einzuhalten sind, entsprach bereits der Gesetzeslage vor dem 1. 1. 2013 (§ 10 Abs 1 Satz 3 AÜG). Nur hinsichtlich betrieblicher Regelungen war daher die Leiharbeits‑RL ‑ im Sinne einer Ergänzung des § 10 Abs 1 AÜG durch Anfügen eines 4. Satzes ‑ umzusetzen (Schindler, Die neue EU‑Leiharbeits‑RL ‑ der Umsetzungsbedarf in Österreich, DRdA 2009, 176 [177]). Dabei hat der Gesetzgeber die in Art 5 Abs 3 der Leiharbeits‑RL vorgesehene Möglichkeit zur Abweichung vom Gleichbehandlungsgebot durch Kollektivvertrag genutzt. Die Sozialpartner einigten sich darauf, ein Abweichen zuzulassen, wenn ein Kollektivvertrag gilt, dem der Überlasser unterworfen ist, sowie eine kollektivvertragliche, durch Verordnung festgelegte oder gesetzliche Regelung des Entgelts im Beschäftigerbetrieb besteht. Bestehende Überlasser‑Kollektivverträge mit sogenannten Referenzzuschlägen auf den jeweiligen Kollektivvertrag gelten nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (RV 1903 BlgNR XXIV. GP 3) als zulässige Abweichungen, sofern auch für den jeweiligen Beschäftiger eine normativ zwingende, überbetriebliche Entgeltregelung besteht. Mit den Referenzzuschlägen sollen betriebliche Überzahlungen pauschal abgegolten werden, was offenbar dem Bedürfnis der Sozialpartner nach Gleichbehandlung in ausreichendem Ausmaß entsprechen soll (Ercher‑Lederer, Neues aus der Gesetzgebung: Besserer Schutz für Leiharbeitskräfte ZAS 2013/19, 106 [107 f]).

Auch in der Leiharbeits‑RL, die in der Revisionsbeantwortung der Klägerinnen ohnehin nicht mehr thematisiert wird, findet sich daher keine taugliche Grundlage für die Begehren der Klägerinnen.

11. Der Revision der Beklagten ist danach Folge zu geben und das Klagebegehren abzuweisen.

12. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Da die Klägerinnen nicht solidarisch haften, war die Ersatzverpflichtung nach Kopfteilen ‑ eine erhebliche Verschiedenheit der Beteiligung am Rechtsstreit hinsichtlich der Erstklägerin liegt nicht vor ‑ aufzuteilen (§ 46 Abs 1 ZPO; 6 Ob 82/11v).

Arbeitsrechtliche Rechtsmittelverfahren dritter Instanz sind bei einem Revisionsinteresse bis 1.450 EUR gebührenfrei (Anm 5 zu TP 3 GGG).

Die von der Beklagten als vorprozessuale Kosten geltend gemachten Auslagen für die beiden von ihr eingeholten Rechtsgutachten vor Prozessbeginn (eines davon durch die Beklagtenvertreter), waren nicht zuzusprechen. Rechtsgutachten dienen typischerweise der Vergewisserung über die eigene rechtliche Situation und damit nicht primär der späteren Prozessführung, auch wenn sie im Einzelfall vielleicht gerade deshalb eingeholt worden sind, um das Gericht von einer bestimmten Rechtsansicht zu überzeugen (Bydlinski, Der Anspruch auf Ersatz „vorprozessualer Kosten“ [Teil 1] unter besonderer Berücksichtigung von Mahn‑ und Inkassospesen, JBl 1998, 69 [79]; vgl auch Bydlinski in Fasching/Konecny², II/1, Rz 39 und 44 zu § 41 ZPO). Lege ausnahmsweise doch eine eindeutige Prozessbezogenheit vor, dann scheitert ein Zuspruch dieser Kosten daran, dass es sich nicht um eine ganz diffizile Rechtsfrage handelt, die Parteienvertreter hinreichend rechtskundig sind und auch von den Gerichten erwartet werden kann, dass sie eine rechtlich richtige Entscheidung treffen (Bydlinski, Der Anspruch auf Ersatz „vorprozessualer Kosten“ [Teil 1] unter besonderer Berücksichtigung von Mahn‑ und Inkassospesen, JBl 1998, 69 [79]; vgl auch Obermaier, Kostenhandbuch² Rz 393).

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