OGH 9Ob5/13w

OGH9Ob5/13w24.4.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Mag. Ziegelbauer sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj A***** S*****, geboren am ***** 1998, *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie‑Rechtsvertretung, Bezirke 12, 13, 23, 1230 Wien, Rösslergasse 15), wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs des Vaters Mag. M***** B*****, vertreten durch Mag. Babak Rousta, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 6. Juni 2012, GZ 42 R 230/12b‑35, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom 26. März 2012, GZ 30 Pu 181/10y‑30, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0090OB00005.13W.0424.000

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Das Rekursgericht ließ über Zulassungsvorstellung des Vaters den ordentlichen Revisionsrekurs aus Gründen der Rechtssicherheit und der Einzelfallgerechtigkeit zu. Es sei allenfalls doch zweifelhaft, welche Anspannung des Vaters gerechtfertigt sei.

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulässigkeitsausspruch (§ 71 Abs 1 AußStrG) nicht zulässig, weil der Einzelfallcharakter der zu lösenden Frage eine Qualifikation als erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG ausschließt. Die Begründung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 Satz 4 AußStrG).

Die Anwendung des Anspannungsgrundsatzes richtet sich jeweils nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls. Dabei ist die für die Ausmittlung des konkreten Unterhaltsbedarfs zu bestimmende Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen danach zu messen, wie ein pflichtbewusster Familienvater in der konkreten Lage des Unterhaltspflichtigen die diesem zur Erzielung von Einkommen zur Verfügung stehenden Mittel an Arbeitskraft und Vermögen vernünftigerweise einsetzen würde (RIS‑Justiz RS0113751). Auch die Art der Anspannung ist eine Frage des Einzelfalls (RIS‑Justiz RS0007096). Ob den Unterhaltsschuldner ein Verschulden daran trifft, dass er keine Erwerbstätigkeit ausübt, ist ebenfalls in der Regel keine Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG (RIS‑Justiz RS0007096 [T5]). Dass dem Rekursgericht bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Einzelfall eine vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmende korrekturbedürftige Fehlbeurteilung unterlaufen ist, zeigt der Revisionsrekurs nicht auf.

Der unterhaltspflichtige Elternteil darf Änderungen in seinen Lebensverhältnissen, die mit Einschränkung seiner Unterhaltspflichten verbunden wären, nur insoweit vornehmen, als dies bei gleicher Sachlage ein pflichtbewusster Familienvater in aufrechter Ehe getan hätte (RIS‑Justiz RS0047590). Verliert ein Unterhaltspflichtiger seinen Arbeitsplatz, dann hat er alle nach den konkreten persönlichen und Arbeitsmarktverhältnissen sinnvollen Anstrengungen zu unternehmen, wieder einen Arbeitsplatz mit entsprechenden Verdienstmöglichkeiten zu finden (RIS‑Justiz RS0047503). Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (RIS-Justiz RS0047686).

Zutreffend geht der Revisionsrekurswerber davon aus, dass die freie Berufswahl einem bislang unselbständig erwerbstätigen unterhaltspflichtigen Elternteil grundsätzlich auch den Wechsel in eine selbständige Tätigkeit ermöglicht. Dabei ist die vom Unterhaltspflichtigen tatsächlich getroffene Entscheidung über die Berufswahl danach zu beurteilen, ob die Entscheidung nach der subjektiven Kenntnis und Einsicht des Unterhaltspflichtigen im Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung zu billigen war. Nicht eine in rückblickender Betrachtung sich als bestmögliche Entscheidung über den Einsatz der Kräfte darstellende Verhaltensweise ist maßgebend, sondern die vom Unterhaltspflichtigen nach seinen jeweils gegebenen konkreten Umständen für den Entscheidungszeitpunkt als vertretbar zu erkennende Maßnahme (6 Ob 586/93; 6 Ob 116/00b; 6 Ob 228/00y).

Bei Begründung einer selbständigen Erwerbstätigkeit durch den Unterhaltspflichtigen muss während der von der Art des Betriebs und der Zielstrebigkeit sowie den persönlichen Bemühungen des Unternehmers abhängigen Übergangsfrist vom Unterhaltsberechtigten auch eine vorübergehende Unterhaltsreduktion in Kauf genommen werden (RIS‑Justiz RS0087653). Einem Unterhaltspflichtigen wird also bei der Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit eine gewisse Anlaufphase ‑ deren Länge jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt (3 Ob 541/95; 8 Ob 1512/90 ua) ‑ zugebilligt, in welcher sich das Unternehmen konsolidieren soll (8 Ob 1512/90; 6 Ob 228/00y ua).

Einkommenseinbußen sind aber nur dann hinzunehmen, wenn es sich um die Begründung einer realistischen Einkommensquelle handelt und in absehbarer Zeit mit einem gegenüber dem bisherigen höheren angemessenen Einkommen gerechnet werden kann. Sind in absehbarer Zeit keine entsprechenden Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit zu erwarten, muss der Unterhaltspflichtige eine unselbständige Erwerbstätigkeit annehmen (8 Ob 1512/90; 4 Ob 91/10a; RIS‑Justiz RS0087653). Das Recht auf freie Berufswahl darf das Recht des Unterhaltsberechtigten auf angemessenen Unterhalt nicht völlig in den Hintergrund drängen. Die Anforderungen an die Anspannung steigen dabei mit dem Umfang der Sorgepflichten (7 Ob 28/12m; 1 Ob 81/10h; RIS‑Justiz RS0047568).

Im vorliegenden Fall hat der für zwei minderjährige Kinder unterhaltspflichtige Vater nach seinem unverschuldeten Arbeitsplatzverlust Ende August 2007 nie begonnen, eine selbständige Tätigkeit auszuüben. Vielmehr scheiterte er bereits beim Versuch, in der ‑ für ihn aufgrund seiner Ausbildung (Studium der Publizistik) und zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Marketingmanager im Bildungsbereich fremden ‑ Gastronomiebranche ein neues Unternehmen zu gründen. Ein pflichtbewusster Familienvater in der Situation des hier unterhaltspflichtigen Vaters (RIS‑Justiz RS0047421; vgl auch RS0113751) hätte nach Verlust seiner Angestelltentätigkeit nicht weit über ein Jahr mit der Planung einer für ihn gänzlich neuen (und offenbar mangels Eigenkapital auch unrealistischen) selbständigen Tätigkeit verbracht, sondern insbesondere auch angesichts seiner beiden Sorgepflichten sogleich mit der Suche nach einer seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechenden unselbständigen Tätigkeit begonnen. Währenddessen wäre dem Vater ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden, die Möglichkeiten einer neuen selbständigen Tätigkeit auszuloten. Nicht an der Tatsache des Berufswechsels in eine selbständige Tätigkeit ‑ so der Revisionsrekurswerber ‑ (zu der es ja nie gekommen ist), trifft ihn ein Verschulden, sondern an der unterlassenen Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz am allgemeinen Arbeitsmarkt unmittelbar nach Erhalt der Kündigung durch seinen früheren Arbeitgeber.

Da es dem Vater bei intensiver persönlicher breit angelegter Arbeitsplatzsuche ‑ unterstützt durch laufende Auswertung des Annoncenmarkts, Kontaktaufnahme von Personalberatungsfirmen und nur zusätzlichen Inanspruchnahme der Dienstleistungen des AMS ‑ ausgehend von dem hier maßgeblichen Zeitpunkt Ende August 2007 mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gelungen wäre, innerhalb eines Zeitraums von 6 ‑ 8 Monaten wieder eine unselbständige Beschäftigung als (Marketing‑)Sachbearbeiter zu erlangen, führt die Anspannung auf das reale Einkommen, das der Vater ab diesem Zeitpunkt ins Verdienen bringen hätte können, entgegen seiner Ansicht auch nicht zu einer bloßen Fiktion (vgl RIS‑Justiz RS0047579). Wenn die Vorinstanzen daher das vom Vater zu diesem Zeitpunkt mögliche Einkommen der Unterhaltsbemessung zugrunde gelegt und nicht seine Verdienstmöglichkeiten erst nach Scheitern der Bemühungen um eine neue selbständige Erwerbstätigkeit erforscht haben, dann liegt nach den konkreten Umständen des Einzelfalls keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung vor. Von einer gegen die Grundprinzipien des Unterhaltsrechts verstoßenden Entscheidung kann keineswegs gesprochen werden. Der vom Kläger mehrfach erwähnten Entscheidung 1 Ob 58/00m lag ein anderer Sachverhalt zugrunde. Dort scheiterte ein schon mehrere Jahre tätiger Unternehmer nach seinem Wechsel von einer unselbständigen in eine selbständige Tätigkeit, weshalb er nicht mehr auf das Einkommen angespannt werden durfte, das er rein fiktiv in einem von ihm seit vielen Jahren nicht mehr ausgeübten Beruf als unselbständig Erwerbstätiger erzielen könnte.

Insgesamt vermag der außerordentliche Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG darzustellen. Das Rechtsmittel ist daher zurückzuweisen.

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