OGH 4Ob241/12p

OGH4Ob241/12p12.2.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** D*****, vertreten durch Dr. Thomas Fried, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Stadt W*****, vertreten durch Dr. Peter Rudeck und Dr. Gerhard Schlager, Rechtsanwälte in Wien, wegen 10.000 EUR sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 23. August 2012, GZ 36 R 194/12i‑45, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 27. April 2012, GZ 37 C 113/08f‑41, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass ‑ unter Einschluss des in Rechtskraft erwachsenen Ausspruchs über die teilweise Abweisung des Klagebegehrens durch das Berufungsgericht ‑ das Urteil des Erstgerichts insgesamt wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.615,90 EUR (darin 236,98 EUR USt und 194 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger erlitt am 1. 10. 2004 einen Unfall, bei dem seine Kunststoffbrille zerbrach und dadurch am linken Auge das Lid, die Hornhaut, die Iris und die Linse durch Schnitte verletzt wurden. Er wurde in einem von der Beklagten betriebenen Krankenhaus notoperiert. Dort wurde am 27. 7. 2005 im Rahmen einer Folgeoperation am linken Auge des Klägers die verlorengegangene körpereigene Linse durch eine Implantat-Linse (Iris‑Blendlinse) ersetzt. Die Folgeoperation wurde nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt, verbesserte aber ‑ entgegen den Erwartungen ‑ die unfallbedingt entstandene Blendung nicht.

Der Kläger begehrte 10.000 EUR sA an Schmerzengeld. Er sei vor der zweiten Operation nicht ausreichend auf die Alternative der Verwendung einer gewöhnlichen Kontaktlinse hingewiesen worden, die ohne Durchführung einer Operation verwendet werden hätte können.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger sei umfassend aufgeklärt worden. Zur durchgeführten Folgeoperation habe es keine gleichwertigen Behandlungsalternativen gegeben, weshalb eine diesbezügliche Aufklärung nicht erforderlich gewesen sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte ua fest, dass im Zeitpunkt der Folgeoperation die durchgeführte Linsenimplantation „state of the art“ war. Seit es Intraocularlinsen mit einem Irisblendring zur Implantation gibt, ist es ‑ besonders wie im vorliegenden Fall bei Augenverletzungen ‑ nicht mehr allgemein üblich, eine Kontaktlinse mit ringförmig aufgedrucktem Regenbogenhautmuster (Irisprintlinse) zu verwenden; diese Möglichkeit war im Operationszeitpunkt nicht mehr Stand der Wissenschaft und kam nur mehr als „Außenseitermethode“ zur Anwendung. Die zweite Operation hatte gute Chancen, sowohl die Blendempfindung zu reduzieren als auch die Sehfähigkeit zu verbessern; sie führte zwar nicht zu einer Verbesserung der Sehschärfe, doch kam es zur für die Gesamtoptik beider Augen günstigen Umkehr von der starken Weitsichtigkeit des linsenlosen linken Auges in eine Kurzsichtigkeit (wie auch beim rechten Auge des Klägers). Zusätzlich wurde durch die blau gefärbte Irisblende kosmetisch die Ansicht des „schwarzen Auges“ behoben. Die Blendung verbesserte sich durch den Eingriff nicht. Wenngleich sich durch die Operation nicht der erhoffte Erfolg eingestellt hatte, hat sich das Auge durch den Eingriff auch nicht verschlechtert. Ein Ersatz der Dioptrien mittels Kontaktlinse als Alternative zur Folgeoperation wäre zwar möglich gewesen, hätte jedoch nur bedingt funktioniert, zumal die Hornhautvernarbung zu einer massiven Unebenheit der Hornhautoberfläche geführt hatte und aus diesem Grund ein Anpassungsproblem mit den rund oder oval geschliffenen Kontaktlinsen bestanden hätte.

In rechtlicher Hinsicht verneinte das Erstgericht eine Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht vor der Folgeoperation. Der Kläger sei zwar nicht über Alternativen zur Operation (Iris‑Print‑Kontaktlinse, Nichtstun, Brille) informiert worden, doch seien keine adäquaten Behandlungsmethoden zur Verfügung gestanden.

Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil dahin ab, dass es dem Klagebegehren mit 1.300 EUR sA stattgab und das Mehrbegehren (unbekämpft) abwies; es sprach ‑ auf Antrag der Beklagten gemäß § 508 Abs 1 ZPO ‑ aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Zwar müsse der behandelnde Arzt mit dem Patienten nicht stets von sich aus alle theoretisch in Betracht kommenden Behandlungsmöglichkeiten erörtern, doch müsse er ihn über mehrere zur Wahl stehende diagnostische oder therapeutische Verfahren informieren, wenn damit jeweils unterschiedliche Risken, eine verschieden starke Intensität des Eingriffs und unterschiedliche Folgen (insbesondere in der Schmerzbelastung oder den Erfolgsaussichten) verbunden seien. Auch wenn man die Ansicht des Erstgerichts teile, dass die grundsätzlich möglichen Alternativen keine adäquaten Behandlungsmethoden gewesen wären, so hätte der Kläger zumindest auf die theoretische Möglichkeit eines Ersatzes der Dioptrien durch eine Kontaktlinse als weitere Alternative hingewiesen werden müssen. Es liege deshalb eine Verletzung der Aufklärungspflicht vor, die eine Haftung der Beklagten begründe. Das angemessene Schmerzengeld betrage 1.300 EUR.

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von höchstgerichtlicher Rechtsprechung abgewichen ist; das Rechtsmittel ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1.1. Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst (4 Ob 87/08k = RIS‑Justiz RS0123136 [T1]; vgl auch RS0038176).

1.2. Der Patient hat aus dem Behandlungsvertrag Anspruch auf Anwendung der nach dem Stand der Wissenschaft zu fordernden sichersten Maßnahmen zur möglichsten Ausschaltung oder Einschränkung bekannter Operationsgefahren (RIS‑Justiz RS0026368).

2.1. Ärzte haben nach § 1299 ABGB den Mangel der gewissenhaften Betreuung ihrer Patienten nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung zu vertreten, also jene Sorgfalt, die von einem ordentlichen und pflichtgetreuen Durchschnittsarzt in der konkreten Situation erwartet wird (RIS‑Justiz RS0038202).

2.2. Ein Verstoß gegen die Regeln medizinischer Kunst liegt vor, wenn die vom Arzt gewählte Maßnahme hinter dem in Fachkreisen anerkannten Standard zurückbleibt. Ein Arzt handelt fehlerhaft, wenn er das in Kreisen gewissenhafter und aufmerksamer Ärzte oder Fachärzte vorausgesetzte Verhalten unterlässt (RIS‑Justiz RS0026368 [T2]).

3. Grundlage für eine Haftung des Arztes oder des Krankenhausträgers wegen einer Verletzung der Aufklärungspflicht ist in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, in dessen körperliche Integrität durch den ärztlichen Eingriff eingegriffen wird. Der Patient muss in die jeweilige konkrete Behandlungsmaßnahme einwilligen (RIS‑Justiz RS0118355 [T3]).

4.1. Der Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht ist in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Wohles des Patienten abzugrenzen und erst in zweiter Linie auch unter Bedachtnahme auf sein Selbstbestimmungsrecht (RIS‑Justiz RS0026362). Die Auf-klärungsanforderungen dürfen nicht überspannt werden (RIS‑Justiz RS0026362 [T1]).

4.2. Entscheidend für den Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht ist, dass der Patient als Aufklärungsadressat die für seine Entscheidung maßgebenden Kriterien erfährt, die ihn in die Lage versetzen, die Tragweite seiner Zustimmung zum Eingriff zu überblicken und eine sachgerechte Entscheidung zu treffen (vgl RIS‑Justiz RS0026473 [T3], RS0026578 [T13], RS0026499 [T6], RS0026413 [T3], RS0026426 [T7, T9]).

4.3. Der Arzt muss nicht stets von sich aus alle theoretisch in Betracht kommenden Behandlungsmöglichkeiten oder Operationsmöglichkeiten mit dem Patienten erörtern, er muss ihn aber, um ihm eine selbstbestimmte Entscheidung zu ermöglichen, über mehrere zur Wahl stehende diagnostische oder therapeutische adäquate Verfahren informieren und das Für und Wider mit ihm abwägen, wenn jeweils unterschiedliche Risken entstehen können und der Patient eine echte Wahlmöglichkeit hat (RIS‑Justiz RS0026426 [T1]).

4.4. Eine Aufklärung über Behandlungsalternativen ist erforderlich, wenn für den konkreten Behandlungsfall mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen, die gleichwertig sind, aber unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen haben (4 Ob 65/09a mN zur deutschen Rsp bei gleicher Rechtslage).

5.1. Nach diesen Grundsätzen ist dem Erstgericht beizupflichten, dass die Ärzte der Beklagten den Kläger nicht von sich aus über die Möglichkeit einer Iris‑Print‑Kontaktlinse aufklären mussten, entsprach doch diese im Beratungszeitpunkt nicht mehr den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst und gelangte nur mehr als „Außenseitermethode“ zur Anwendung. Damit war diese Behandlungsalternative nicht gleichwertig zur durchgeführten Operation, und die behandelnden Ärzte der Beklagten traf insoweit keine Aufklärungspflicht.

5.2. Hinzu kommt, dass nach dem festgestellten Sachverhalt die Erfolgsaussichten der Operation als gut eingeschätzt wurden, die Verwendung einer Kontaktlinse als Alternative hingegen als problematisch: Da die Hornhautvernarbung zu einer massiven Unebenheit der Hornhautoberfläche geführt hatte, war im Fall der Verwendung einer Kontaktlinse mit Anpassungsproblemen zu rechnen und der Dioptrieausgleich hätte nur bedingt funktioniert (Ersturteil S 8). Damit wäre eine Kontaktlinse auch nicht die zielführendste Methode gewesen.

6. Der Revision ist Folge zu geben und das Ersturteil wiederherzustellen.

7. Die Kostenentscheidung ist in den § 41 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO begründet.

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