OGH 6Ob205/12h

OGH6Ob205/12h16.11.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Verlassenschaftssache nach G***** G*****, verstorben am *****, zuletzt wohnhaft *****, über den Revisionsrekurs von 1. E***** G*****, 2. P***** G*****, beide vertreten durch Dr. Franz Amler, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 22. August 2012, GZ 23 R 317/12h‑7x, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Lilienfeld vom 11. Mai 2012, GZ 1 A 44/08v‑73, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass dem Erstgericht die Schätzung der Liegenschaft EZ ***** GB ***** und der vom Verstorbenen in diese Liegenschaft getätigten Investitionen aufgetragen wird.

Das Erstgericht hat die weiteren Veranlassungen vorzunehmen.

Die Parteien haben die Kosten des Revisionsrekursverfahrens selbst zu tragen.

Der (weitere) Revisionsrekurs vom 2. 10. 2012 wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der Erblasser setzte mit Testament vom 16. 7. 2007 seine Lebensgefährtin R***** S***** zur Alleinerbin ein; die Töchter P***** und E***** G***** wurden auf den Pflichtteil gesetzt. Aufgrund widersprechender Erbantrittserklärungen fand in der Folge ein Verfahren über das Erbrecht gemäß §§ 160 ff AußStrG statt. Letztlich wurde die unbedenkliche Erbantrittserklärung der Testamentserbin R***** S***** gerichtlich angenommen und ihr Erbrecht festgestellt.

Zwischen der Erbin und den beiden Kindern des Verstorbenen ist beim Landesgericht St. Pölten ein Zivilverfahren über die Pflichtteilsansprüche anhängig.

Am 19. 4. 2012 fand beim Gerichtskommissär eine Tagsatzung statt. Der Vertreter der Erbin gab eine eidesstättige Vermögenserklärung ab und stellte Schlussanträge. Die Verlassenschaftskuratorin Mag. S***** F***** erstattete ihren Schlussbericht und beantragte ihre Enthebung. Der Rechtsvertreter der Kinder des Erblassers beantragte die Schätzung der Liegenschaft EZ ***** GB ***** im Hinblick auf getätigte Investitionen des Erblassers. Der Erbenvertreter sprach sich gegen die Schätzung der Liegenschaft aus, weil Pflichtteilsansprüche ohnedies Gegenstand des Streitverfahrens vor dem Landesgericht St. Pölten seien und die Gutachtenseinholung keine Veränderung der Position der Pflichtteilsberechtigten bewirken würde.

Das Erstgericht ordnete die Inventarisierung des Nachlasses und Schätzung der Fahrnisse an, wies jedoch den Antrag auf Schätzung der Liegenschaft ab und widerrief die bereits erfolgte Bestellung eines Immobiliensachverständigen zur Verkehrswertermittlung. Pflichtteilsberechtigte könnten zwar die Errichtung eines Inventars fordern. P***** und E***** G***** hätten jedoch mit Notariatsakt vom 5. 9. 2007 auf ihre Pflichtteile hinsichtlich der Liegenschaft EZ ***** GB ***** verzichtet, sodass der Wert der Liegenschaft aufgrund ihres Verzichts ohne Bedeutung für ihre Pflichtteilsansprüche sei.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung.

Die Kinder des Erblassers hätten mit Notariatsakt vom 5. 9. 2007 einen Erb‑ und Pflichtteilsverzichtsvertrag mit dem Erblasser abgeschlossen, in dem sie hinsichtlich der Liegenschaft EZ ***** GB ***** einen Verzicht auf deren gesetzliches Erb‑ und Pflichtteilsrecht erklärt hätten. Hinsichtlich der behaupteten Investitionen des Erblassers zu Lebzeiten sei darauf zu verweisen, dass zu Lebzeiten des Erblassers verschenkte und übergebene Gegenstände nicht zum Nachlass gehörten und somit nicht im Sinne des § 166 AußStrG zu inventarisieren seien.

Erhebliche Rechtsfragen würden nicht aufgezeigt, sodass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Der Revisionsrekurs der Kinder des Erblassers, den die Erbin beantwortet hat, ist entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden ‑ Ausspruch des Rekursgerichts zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1.1. Vorweg ist festzuhalten, dass auch im außerstreitigen Verfahren dieselbe Partei innerhalb der noch offenen Rechtsmittelfrist nicht mehrere Rechtsmittelschriften gegen die gleiche Entscheidung einbringen darf. Dies gilt auch dann, wenn der zweite Schriftsatz nur Richtigstellungen oder Nachträge enthält (RIS‑Justiz RS0007007 [T7]). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht nach ständiger Rechtsprechung für weitere Rechtsmittelschriften, Nachträge oder Ergänzungen dann, wenn diese am selben Tag wie der erste Rechtsmittelschriftsatz bei Gericht einlangten (RIS‑Justiz RS0041666 [T53]). Abgesehen von dieser Ausnahme sind eingebrachte Ergänzungen und „Berichtigungen“ zurückzuweisen (RIS‑Justiz RS0007007 [T11, T19]).

1.2. Im vorliegenden Fall brachten die Revisionsrekurswerberinnen am 1. 10. 2012 mittels elektronischem Rechtsverkehr (ERV) einen als „außerordentlichen Revisionsrekurs“ bezeichneten Schriftsatz (ON 79) ein. Am 2. 10. 2012 wurde mittels ERV ein neuerlicher außerordentlicher Revisionsrekurs eingebracht (ON 80), der die Erklärung enthält, dass es sich beim zuerst eingebrachten Schriftsatz um einen „irrtümlich gesendeten Entwurf“ handle, der als „gegenstandslos“ zu betrachten sei.

1.3. Im Sinne der zitierten Judikatur ist jedoch der zuerst eingebrachte außerordentliche Revisionsrekurs zu behandeln und der am 2. 10. 2012 eingebrachte weitere außerordentliche Revisionsrekurs zurückzuweisen.

2.1. Stellt ein volljähriger Noterbe einen Antrag auf Inventarisierung und Schätzung des Nachlasses, ist zwingend das Inventar zu errichten (§ 165 Abs 1 Z 6 AußStrG), wobei der Wert des Nachlassvermögens am Todestag des Erblassers einzusetzen ist (2 Ob 189/11z; RIS‑Justiz RS0007898; vgl auch zur Rechtslage vor dem AußStrG 2003 RIS‑Justiz RS0110041). Nach § 166 Abs 1 AußStrG dient das Inventar als vollständiges Verzeichnis der Verlassenschaft, nämlich aller körperlichen Sachen und aller vererblichen Rechte und Verbindlichkeiten des Verstorbenen und ihres Werts „im Zeitpunkt seines Todes“ (vgl RIS‑Justiz RS0109531).

2.2. Die Inventarserrichtung kommt ihrem Wesen nach einem besonderen außerstreitigen Beweissicherungsverfahren gleich. Die Ergebnisse des Inventars führen zu keiner Umkehr der Beweislast (RIS‑Justiz RS0007726). Der Inhalt eines aufgenommenen Inventars ist ‑ ebenso wie ein eidesstättiges Vermögensbekenntnis des Erben ‑ auf den Fortgang und das Ergebnis einer vom Noterben erhobenen Pflichtteilsklage ohne Einfluss (RIS‑Justiz RS0007784 [T5]).

2.3. Auch nach Einbringung der Pflichtteilsklage hat das Recht des Pflichtteilsberechtigten auf Inventarisierung des Nachlasses keineswegs seine Bedeutung verloren. Es dient der Ermittlung des vom Erben durch den Erbgang erworbenen Vermögens (RIS‑Justiz RS0007915, RS0012914).

3. Bei Entscheidung über den Antrag des Noterben auf Inventur und Schätzung des Nachlasses ist nur dessen Eigenschaft als Noterbe zu prüfen, nicht aber, ob die Pflichtteilsforderung, etwa durch Verjährung, erloschen ist. Diese Prüfung bleibt dem Prozess über den Pflichtteilsanspruch vorbehalten. Das Gericht hat daher nicht zu prüfen, ob die Forderung materiell zu Recht besteht (RIS‑Justiz RS0013007 [T6]). Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass das Recht auf Inventarisierung weder durch Zweckmäßigkeitserwägungen noch durch Kostenaspekte eingeschränkt werden kann (7 Ob 71/01v). Das Recht auf Inventarisierung steht dem Noterben ohne weitere Voraussetzungen zu (6 Ob 8/02y). Aus diesem Grund wurde auch der Einwand, die Pflichtteilsforderung sei bereits zwischen dem Erben und der Noterbin außergerichtlich verglichen worden, für unerheblich angesehen (9 Ob 126/03z). Diese Auffassung ist auf den hier vorliegenden Fall eines beschränkten Erb‑ und Pflichtteilsverzichts jedenfalls dann zu übertragen, wenn die Auslegung dieses Vertrags nicht völlig zweifelsfrei ist und geltend gemacht wird, dieser Verzicht umfasse nicht nachträglich getätigte Investitionen in diese Liegenschaft. Ob diese Auffassung zutrifft, ist im Sinne der zitierten Judikatur ausschließlich im Streitverfahren zu prüfen.

4. Das Argument, zu Lebzeiten des Erblassers verschenkte Sachen seien nicht zu inventarisieren (2 Ob 189/11z mwN), geht ins Leere, erfolgten die Investitionen des Erblassers doch in eine unzweifelhaft zur Verlassenschaft gehörige Liegenschaft. Ob den Revisionsrekurswerberinnen aufgrund des von ihnen abgegebenen Erb‑ und Pflichtteilsverzichts Ansprüche aus der Liegenschaft und den Investitionen des Erblassers in die Liegenschaft zukommen, ist demgegenüber nur im streitigen Verfahren zu prüfen und schränkt das Recht auf Errichtung eines vollständigen Inventars im Verlassenschaftsverfahren nicht ein.

5. Damit war dem Revisionsrekurs spruchgemäß Folge zu geben.

6. Für einen Kostenzuspruch bestand gemäß § 185 AußStrG kein Raum.

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