European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:010OBS00060.12I.0724.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Revisionsbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Das Erstgericht stellte im zweiten Rechtsgang mit Urteil vom 2. 9. 2011 fest, dass der von der beklagten Partei erhobene Anspruch auf Rückersatz des an die Klägerin in der Zeit vom 14. 6. 2006 bis 31. 12. 2006 geleisteten Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von 2.920,53 EUR nicht zu Recht bestehe. Nach seinen wesentlichen Feststellungen gewährte die beklagte Partei der Klägerin anlässlich der Geburt ihrer Tochter E***** am 9. 4. 2006 für den Zeitraum 14. 6. 2006 bis 31. 12. 2006 Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 2.920,53 EUR. Die Klägerin bezog vom Amt der Niederösterreichischen Landesregierung für ihre Tätigkeit als Dorfhelferin für die Monate Juni 2006 bis einschließlich Dezember 2006 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 7.212,38 EUR. Nach Punkt 12. des Dienstvertrags der Klägerin werden über Anordnung geleistete Überstunden durch Freizeit ausgeglichen.
Zu Beginn der Mutterschutzfrist am 21. 2. 2006 bestand ein offener Urlaubsanspruch der Klägerin im Ausmaß von 400 Stunden sowie ein offenes Überstundenguthaben im Ausmaß von 528 Stunden (= 66 Tage). Durch den Beginn des Mutterschutzes war die im Dienstvertrag vorgesehene und in der Praxis auch so gehandhabte Abgeltung der von der Klägerin geleisteten Überstunden durch Zeitausgleich nicht mehr möglich. Die Klägerin beantragte die Gewährung von Urlaub im Anschluss an den Mutterschutz. Sie befand sich daher nach Ende der Mutterschutzfrist am 13. 6. 2006 von 14. 6. 2006 bis 24. 8. 2006 im Urlaub. Es ist bei Dorfhelferinnen üblich, dass die offenen Überstunden nach Beendigung des Mutterschutzes ausbezahlt werden, weil es sich dabei um einen „familienfeindlichen“ Beruf handelt und es daher unüblich ist, dass Dorfhelferinnen in ihren Beruf zurückkehren. Obwohl die Klägerin keinen Antrag auf finanzielle Abgeltung ihrer offenen Überstundenleistung gestellt hatte, wurden ihr die 66 Tage offener Überstunden, die sie geleistet hatte und deren Abgeltung ursprünglich durch Zeitausgleich geplant war, im Zeitraum vom 25. 8. 2006 bis 29. 11. 2006 (durch Weiterzahlung des Entgelts) ausbezahlt. Am 29. 11. 2006 wurde die Klägerin bei der Gebietskrankenkasse abgemeldet.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, der gemäß § 8 KBGG maßgebliche Gesamtbetrag der Einkünfte für das Jahr 2006 habe 15.901,70 EUR betragen und damit den maßgebenden Grenzbetrag von 14.600 EUR um ca 9 % überschritten. Im Hinblick auf eine Anwendung des § 1 lit a KBGG‑Härtefälle‑VO sei daher die Frage zu prüfen, ob diese geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze durch die Klägerin auch unvorhersehbar gewesen sei. Diese Frage sei zu bejahen, weil die Klägerin die Auszahlung der Überstunden nicht beantragt habe und in ihrem Dienstvertrag eine Abgeltung geleisteter Überstunden durch Zeitausgleich vorgesehen gewesen sei. Die Klägerin habe sich in einem aufrechten Dienstverhältnis befunden und sie hätte daher den Zeitausgleich für die von ihr geleisteten Überstunden auch zu einem späteren Zeitpunkt noch in Anspruch nehmen können.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei keine Folge. Es führte in rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen aus, die Auszahlung der von der Klägerin geleisteten Überstunden im Zeitraum 25. 8. 2006 bis 29. 11. 2006 sei ohne ihr Zutun und entgegen den bisherigen Gepflogenheiten und den Bestimmungen des aufrechten Dienstvertrags erfolgt. Der vom Erstgericht gezogene Schluss, die Überschreitung der Zuverdienstgrenze sei für die Klägerin damit unvorhersehbar gewesen, sei nicht zu beanstanden. Mangels einer entsprechenden Vereinbarung mit dem Arbeitgeber habe die Klägerin weder wissen können wann noch in welchem Ausmaß bzw Zeitraum ihre Überstunden ausbezahlt werden. Damit seien die von ihr dadurch erzielten Einkünfte tatsächlich nicht vorhersehbar gewesen und es sei der Klägerin auch keine Verletzung einer Überprüfungspflicht hinsichtlich zu erwartender Einkünfte vorzuwerfen.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil die Frage der Unvorhersehbarkeit der Überschreitung der Zuverdienstgrenze und auch die Frage des zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs nur einzelfallbezogen gelöst werden könne.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass das Klagebegehren der Klägerin abgewiesen und die Berechtigung der beklagten Partei zur Rückforderung des Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von 2.920,53 EUR gegenüber der Klägerin ausgesprochen werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen bzw ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist, wie sich aus den folgenden Ausführungen ergeben wird, wegen Vorliegens sekundärer Feststellungsmängel zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.
Die beklagte Partei macht im Wesentlichen geltend, die im Dienstvertrag vorgesehene Abgeltung geleisteter Überstunden durch Zeitausgleich ändere nichts an der vom Erstgericht festgestellten Praxis des Arbeitgebers der Klägerin, wonach bei Dorfhelferinnen offene Überstunden nach Beendigung des Mutterschutzes ausbezahlt werden, weil Dorfhelferinnen nach dem Mutterschutz bzw der Karenz üblicherweise nicht mehr in ihren Beruf zurückkehren. Eine durchschnittlich aufmerksame Versicherte hätte daher aufgrund dieser üblichen Vorgangsweise ihres Arbeitgebers mit der Auszahlung von Überstunden rechnen müssen. Daran könne auch die im Dienstvertrag vorgesehene Abgeltung von Überstunden durch Zeitausgleich nichts ändern, weil die Klägerin den Zeitausgleich durch Weiterzahlung des Entgelts für die von ihr geleisteten Überstunden konsumiert habe. Die Klägerin habe nach Ablauf der Mutterschutzfrist während nahezu sechs Monaten das Entgelt für Urlaub bzw Zeitausgleich ausbezahlt erhalten und habe daher mit einer Überschreitung der Zuverdienstgrenze rechnen müssen. Sie könne sich auch nicht mit Erfolg auf eine allfällige gegenteilige ‑ unrichtige ‑ Auskunft ihres Arbeitgebers berufen.
Dazu ist Folgendes auszuführen:
1. Gemäß § 31 Abs 2 zweiter Satz KBGG ist der Empfänger einer Leistung nach dem KBGG auch dann zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn sich ohne dessen Verschulden aufgrund des von der Abgabenbehörde an die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse übermittelten Gesamtbetrags der maßgeblichen Einkünfte ergibt, dass die Leistung nicht oder nicht in diesem Umfang gebührt hat.
2. Nach § 1 lit a der KBGG‑Härtefälle‑VO idF BGBl II 2004/91 ist in Fällen einer geringfügigen, unvorhersehbaren Überschreitung der Zuverdienstgrenze auf die Rückforderung zu verzichten. Eine geringfügige, unvorhersehbare Überschreitung liegt nur dann vor, wenn die Grenzbeträge gemäß den §§ 2 Abs 1 Z 3 und 9 Abs 3 KBGG um nicht mehr als 15 % überstiegen werden.
2.1 Die maßgebende Zuverdienstgrenze von 14.600 EUR wurde durch die gemäß § 8 KBGG für das Jahr 2007 ermittelten Einkünfte der Klägerin von 15.901,70 EUR um ca 9 % überschritten, sodass eine bloß geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze im Sinne des Härtefalltatbestands des § 1 lit a KBGG‑Härtefälle‑VO vorliegt. Es ist daher im vorliegenden Fall nur noch zu prüfen, ob diese bloß geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze „unvorhersehbar“ war.
2.2 Es wurde in der Rechtsprechung bereits dargelegt, dass die beiden für das Bestehen eines Härtefalls erforderlichen Voraussetzungen auf das Vorliegen unterschiedlicher Kriterien abstellen, nämlich einerseits auf die objektive Höhe der Überschreitung der Grenzbeträge und andererseits auf die subjektive Vorhersehbarkeit bzw Unvorhersehbarkeit der Überschreitung der Grenzbeträge für den Leistungsempfänger (10 ObS 186/10s ua). Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass der Verordnungsgeber nicht den Begriff „unvorhergesehen“, der die konkreten subjektiven Verhältnisse des Leistungsempfängers ansprechen würde, sondern den Begriff „unvorhersehbar“, der auf objektive Gesichtspunkte abstellt, verwendet hat. Das Kriterium der „Unvorhersehbarkeit“ ist daher dann gegeben, wenn die Überschreitung der Zuverdienstgrenze trotz Anlegung eines (objektiv) zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs nicht erkannt werden konnte (vgl RIS‑Justiz RS0124751). Als „unvorhersehbar“ wurden daher in der Rechtsprechung beispielsweise nicht zu erwartende Einkünfte, wie etwa die Entlohnung für Supplierstunden, die von einer Lehrerin überraschend gehalten werden mussten (vgl 10 ObS 143/09s, SSV‑NF 23/66; 10 ObS 145/09k), oder Überstunden, die wegen der Kündigung einer Arbeitskollegin überraschend geleistet werden mussten und nicht wie üblich durch Zeitausgleich abgegolten wurden (10 ObS 156/09b), beurteilt. Hingegen wurde die Argumentation, die Überschreitung der Zuverdienstgrenze sei subjektiv unverschuldet erfolgt, weil die Leistungsempfängerin auf eine unrichtige oder missverstandene Rechtsauskunft der beklagten Gebietskrankenkasse, eines Steuerberaters oder des Arbeitgebers vertraut habe (vgl 10 ObS 31/11y; 10 ObS 37/11f ua), unter Hinweis auf die verschuldensunabhängige Rückzahlungsverpflichtung nach § 31 Abs 2 zweiter Satz KBGG nicht anerkannt. Die Frage der Unvorhersehbarkeit der Überschreitung der Zuverdienstgrenze und auch des zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs kann nur einzelfallbezogen beurteilt werden (RIS‑Justiz RS0124751 [T2]).
2.3 „Unvorhersehbar“ ist eine Überschreitung der Zuverdienstgrenze somit dann, wenn diese Überschreitung von einem Menschen mit gewöhnlichen geistigen Fähigkeiten auch unter Bedachtnahme auf die ihm zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwartet werden konnte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass den Leistungsbezieher eine Überprüfungspflicht hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden Einkünfte trifft und der Gesetzgeber die Möglichkeit eines Verzichts auf den Bezug von Kinderbetreuungsgeld für bestimmte Zeiträume (§ 5 Abs 6 KBGG) geschaffen hat (vgl zuletzt 10 ObS 8/12t mwN).
3. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die als Folge der Auszahlung des offenen Überstundenguthabens an die Klägerin eingetretene geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze sei für die Klägerin unvorhersehbar gewesen, weil sie ohne ihr Zutun und entgegen den bisherigen Gepflogenheiten und den Bestimmungen des aufrechten Dienstvertrags erfolgt sei, lässt nach den zutreffenden Ausführungen der Revisionswerberin die weitere Feststellung des Erstgerichts außer Acht, wonach es üblich ist, dass bei Dorfhelferinnen Überstunden nach Beendigung des Mutterschutzes ausbezahlt werden, weil es sich dabei um einen „familienfeindlichen“ Beruf handelt und es deswegen unüblich ist, dass die Dorfhelferinnen in ihren Beruf zurückkehren. Ist der Verbrauch des Zeitausgleichs (insbesondere durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses) unmöglich geworden, sind noch offene Überstunden in jedem Fall in Geld auszugleichen. Eine Rückumwandlung des Zeitausgleichs in eine Abgeltung in Geld kann aber auch jederzeit einvernehmlich erfolgen.
3.1 Beim Arbeitgeber der Klägerin bestand nach den Feststellungen ganz offensichtlich die Praxis, offene Überstundenguthaben nach Beendigung des Beschäftigungsverbots der Arbeitnehmerin nach § 5 MSchG in der Weise, dass die Arbeitnehmerin bei Weiterzahlung des Entgelts die offenen Überstundenguthaben konsumierte, finanziell abzugelten. In diesem Zusammenhang gab auch die Klägerin bei ihrer Einvernahme vor dem Erstgericht in der Tagsatzung am 21. 10. 2010 an, die Einsatzleiterin habe ihr in Bezug auf ihren offenen Urlaub und ihr offenes Überstundenguthaben telefonisch mitgeteilt, dass die entsprechende finanzielle Abgeltung dieser beiden Ansprüche entweder sofort oder nach dem zweiten Geburtstag des Kindes erfolge. Der Arbeitgeber bevorzuge eine sofortige finanzielle Abgeltung; die Klägerin werde dadurch die Zuverdienstgrenze nicht überschreiten. Sie (die Klägerin) habe sich auf die Richtigkeit dieser Angaben der Einsatzleiterin verlassen.
3.2 Das Erstgericht hat ausgehend von einer vom erkennenden Senat nicht geteilten Rechtsansicht im zweiten Rechtsgang keine Feststellungen mehr über den Inhalt dieses Gesprächs zwischen der Klägerin und der Einsatzleiterin getroffen. Es hat insbesondere keine Feststellungen darüber getroffen, ob die festgestellte Praxis des Arbeitgebers der Klägerin, die offenen Überstunden nach Beendigung des Beschäftigungsverbots finanziell abzugelten, der Klägerin bekannt war. Diese fehlenden Feststellungen sind aber für die Beurteilung der Frage, ob die Klägerin im maßgebenden Zeitraum ihres Kinderbetreuungsgeldbezugs unvorhersehbare Zahlungen von ihrem Arbeitgeber für die Abgeltung ihres offenen Überstundenguthabens erhalten hat, von entscheidungswesentlicher Bedeutung. Erst nach Vorliegen dieser Feststellungen wird abschließend beurteilt werden können, ob die Überschreitung der Zuverdienstgrenze für die Klägerin trotz Anlegung eines zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs unvorhersehbar war.
3.3 Der Umstand, dass die Auszahlung des Überstundenguthabens nach den Feststellungen ohne Antrag der Klägerin erfolgte, würde eine mögliche Rückforderung des Kinderbetreuungsgeldes nicht ausschließen, wenn die Klägerin auch ohne entsprechende eigene Antragstellung und ohne entsprechende Vereinbarung mit ihrem Arbeitgeber bereits aufgrund der üblichen Vorgangsweise ihres Arbeitgebers mit einer Auszahlung ihres Überstundenguthabens im maßgebenden Bezugsraum des Kinderbetreuungsgeldes rechnen musste und die entsprechende Zahlung ihres Arbeitgebers auch tatsächlich angenommen hat. Eine Überschreitung der Zuverdienstgrenze wäre für die Klägerin nach ständiger Rechtsprechung schließlich auch nicht deshalb „unvorhersehbar“, weil sie sich dabei auf eine „unrichtige“ Auskunft ihres Arbeitgebers verlassen hat (10 ObS 9/12i mwN).
Da es somit jedenfalls einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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