OGH 2Ob32/10k

OGH2Ob32/10k7.10.2010

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Julia W*****, vertreten durch Dr. Klaus Fürlinger und Dr. Christoph Arbeithuber, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Mag. Franz Eschlböck, Rechtsanwalt in Wels, wegen 14.635,16 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse 2.180 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 26. November 2009, GZ 1 R 160/09v-29, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Wels vom 15. April 2009, GZ 26 Cg 118/08v-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 559,15 EUR (darin 93,19 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision mit der Begründung zu, dass zum Gebot des Fahrens auf Sicht „unter Berücksichtigung lichttechnischer und sehpyhsiologischer Erkenntnisse“ noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs existiere. Allenfalls weiche die zweitinstanzliche Entscheidung auch von dem Grundsatz ab, dass die nach dem Gebot des Fahrens auf Sicht einzuhaltende Geschwindigkeit auch auf schwer wahrnehmbare Hindernisse auf der Fahrbahn abgestellt werden müsse.

Rechtliche Beurteilung

Die von der beklagten Partei erhobene Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig.

Die Berücksichtigung allfälliger „lichttechnischer und sehphysiologischer Erkenntnisse“ dient der Unfallrekonstruktion (vgl Sacher in Fucik/Hartl/Schlosser/Wielke, Handbuch des Verkehrsunfalls II2 [2008] Rz 248 ff), betrifft daher nur die Tatsachenebene und begründet für sich noch keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO. Dass das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Gebot des Fahrens auf Sicht abgewichen wäre, ist ebenfalls nicht zu erkennen und wird auch in der Revision der beklagten Partei nicht aufgezeigt. Dazu ist auszuführen:

1. Der aus der Schutznorm des § 20 Abs 1 Satz 1 StVO abgeleitete Grundsatz des Fahrens auf Sicht bedeutet, dass ein Fahrzeuglenker seine Fahrgeschwindigkeit so zu wählen hat, dass er sein Fahrzeug beim Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig zum Stehen bringen und zumindest das Hindernis umfahren kann (2 Ob 65/05f mwN; 2 Ob 148/08s; RIS-Justiz RS0074750, RS0074808). Jeder Kraftfahrer muss daher seine Fahrweise so gestalten, dass der Weg des abzubremsenden Fahrzeugs in der Zeit vom Erkennen eines Hindernisses auf der Fahrbahn bis zum vollen Stillstand des Fahrzeugs nie länger als die durch ihn eingesehene Strecke ist. Diese Pflicht besteht auch auf Autobahnen (2 Ob 65/05f mwN; 2 Ob 148/08s; RIS-Justiz RS0074680).

Fährt ein Kraftfahrer bei Dunkelheit mit Abblendlicht, dann hat er, soweit nicht besondere Umstände die Sicht über die vom Abblendlicht erleuchtete Strecke hinaus ermöglichen, grundsätzlich mit einer Geschwindigkeit zu fahren, die ihm das Anhalten seines Fahrzeugs innerhalb der Reichweite des Abblendlichts gestattet (8 Ob 62/86 mwN; 2 Ob 154/88; vgl auch 2 Ob 55/95; 2 Ob 77/01i; 2 Ob 213/02s; RIS-Justiz RS0074769). Wird die Fahrbahn durch vorausfahrende und entgegenkommende Fahrzeuge entsprechend ausgehellt, wird das Gebot des Fahrens auf Sicht nicht verletzt (2 Ob 55/95; 2 Ob 162/01i; RIS-Justiz RS0074669).

Die Vorinstanzen gingen davon aus, dass der Klägerin eine Verletzung des § 20 Abs 1 StVO nicht vorgeworfen werden könne, weil die Ausleuchtung der von ihr in der Morgendämmerung befahrenen Richtungsfahrbahn der Westautobahn durch andere Fahrzeuge das Fahren auf Sicht (sogar) mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h gestattet habe. Diese Rechtsansicht, die auf in dritter Instanz nicht mehr überprüfbaren Feststellungen des Erstgerichts beruht, stimmt mit den dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung überein.

2. Dem widerspricht auch nicht der Umstand, dass die von einem geplatzten Reifen des Beklagtenfahrzeugs (einem bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten LKW-Zug) stammenden Reifenteile für die Klägerin erst „im künstlichen eigenen Licht 20 bis 30 m vor dem Erreichen“ als Hindernis auf der Fahrbahn erkennbar waren und sie ein Überfahren dieser Teile nur bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 40 km/h vermeiden hätte können.

Es trifft zwar zu, dass ein Fahrzeuglenker auch mit schwer wahrnehmbaren, also auch mit dunklen, unbeleuchteten Hindernissen auf der Fahrbahn rechnen muss (2 Ob 194/06b; RIS-Justiz RS0074714). Er braucht aber die Wahl seiner Geschwindigkeit nicht auf plötzlich, unvermutet und für ihn nicht vorhersehbar auftauchende Hindernisse abzustellen (RIS-Justiz RS0027564; vgl auch RS0074836); bloß abstrakt mögliche Gefahrenquellen müssen nicht berücksichtigt werden (RIS-Justiz RS0073490 [T1]). Die Frage, ob ein Hindernis vorhersehbar oder unvorhersehbar war, kann typischerweise nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden.

Die an deutsche Rechtsprechung und Lehrmeinungen anknüpfende Auffassung des Berufungsgerichts, ein Fahrzeuglenker müsse - insbesondere auf Autobahnen bei Dunkelheit - seine Geschwindigkeit nicht auf erst außergewöhnlich spät erkennbare Hindernisse, wie relativ kleine, zur Fahrbahn kontrastarme Gegenstände (hier: dunkle, kaum erhabene Reifenteile) einrichten, hält sich im Rahmen der zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Das erzielte Ergebnis entspricht überdies der Zweckbestimmung von Autobahnen auf denen generell mit höheren Geschwindigkeiten gefahren werden kann (vgl auch § 20 Abs 1 letzter Satz und Abs 2, § 46 Abs 1 und 3 StVO; ferner RIS-Justiz RS0027727). Die gegenteilige Rechtsansicht der beklagten Partei geht von einer unzulässigen ex-post-Betrachtung des Unfallgeschehens aus und wirft keine erhebliche Rechtsfrage auf.

3. Sonstige Umstände, welche die Klägerin allenfalls zur Einhaltung einer geringeren Geschwindigkeit veranlassen hätten müssen, werden in der Revision nicht dargetan. Da es der Lösung von erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO somit nicht bedurfte, ist die Revision als unzulässig zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die Klägerin hat in der Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen.

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