OGH 10ObS134/08s

OGH10ObS134/08s25.11.2008

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Ladislav (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kallab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Alfred G*****, vertreten durch Dr. Günther Romauch und Dr. Thomas Romauch, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter- Straße 65, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung und Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Juni 2008, GZ 10 Rs 43/08d-48, womit über Berufung der beklagten Partei das Teilurteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 20. November 2007, GZ 13 Cgs 192/08b-44, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der 1955 geborene Kläger ist Fleischhauer. Er hob Anfang September 2004 mit der linken Hand zwei Karrees mit einem Gesamtgewicht von ca 8 kg an, verspürte hierauf einen stechenden Schmerz in der linken Schulter und bemerkte einen „Schnalzer". Er suchte am 15. 9. 2004 das Krankenhaus Wiener Neustadt auf, weil die Schmerzen im Schultergelenk andauerten. Es wurde der Verdacht auf Supraspinatusläsion links gestellt. Ein MRT am 24. 9. 2004 ergab eine scheinbar vollständige Ruptur der Ansatzsehne des Musculus supraspinatus, des Musculus infraspinatus und teilweise auch eine Ruptur der Ansatzsehne des Musculus teres minor. Am 11. 10. 2004 wurde beim Kläger die offene Rotatorenmanschettenrekonstruktion links durchgeführt.

Mit Bescheid vom 29. 6. 2005 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers, das Ereignis von Anfang September 2004 als Arbeitsunfall anzuerkennen, ab.

Der Kläger begehrt mit seiner Klage

1. die Feststellung, dass das Ereignis von Anfang September 2004 einen Arbeitsunfall darstellt und ein Anspruch gemäß § 173 ASVG besteht, und

2. die Beklagte schuldig zu erkennen, dem Kläger eine Versehrtenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Das Unfallereignis sei nicht geeignet gewesen, eine gesunde Rotatorenmanschette zum Reißen zu bringen. Die vom Kläger geschilderte Tätigkeit sei für seinen Beruf nicht unüblich gewesen. Für den Riss der Rotatorenmanschette müssten degenerative Veränderungen als Ursache angenommen werden.

Das Erstgericht sprach im zweiten Rechtsgang mit Teilurteil aus, es werde festgestellt, dass die Gesundheitsstörung des Klägers, nämlich Riss der Rotatorenmanschette, Folge eines Arbeitsunfalls aus September 2004 sei. Es traf noch folgende Feststellungen:

Nach der operativen Rekonstruktion des Sehnenersatzes am Oberarmkopf und Erweiterung des subacromialen Raumes durch Acromioplastik resultieren subjektive Beschwerden des Klägers, insbesondere eine verminderte Belastbarkeit des Schultergelenks bei veränderter Gelenkmechanik.

Das Heben auch schwerer Gegenstände ruft grundsätzlich keinen Riss einer gesunden Rotatorenmanschette hervor, sodass ein degenerativer Vorschaden, der letztlich für den Riss der Rotatorenmanschette kausal war, angenommen werden muss. Ein Riss einer degenerativen Rotatorenmanschette hätte auch bei einer anderen alltäglichen Belastung, wie etwa beim Aufheben einer Mineralwasserkiste, erfolgen können.

Es existieren keine randomisierten prospektiven Untersuchungen, um die Frage zu beantworten, ob eine altersgemäße degenerative Abnützung oder eine darüber hinausgehende degenerative Vorschädigung vorliegt. Aus der rezenten Literatur geht aber doch hervor, dass als Ursache einer Ruptur alleine degenerative Schäden in 50 bis 95 Prozent der Fälle vorliegen. Es kann die Frage, ob nur eine altersbedingte Abnützung der Rotatorenmanschette oder eine darüber hinausgehende Vorschädigung vorgelegen ist, „im Sinne dieser Ausführungen" nicht beantwortet werden.

Weder dem Operationsbericht vom 11. 10. 2004 noch dem MRT-Befund vom 24. 9. 2004 ist ein dezidierter Hinweis darauf zu entnehmen, dass die befundenden Ärzte Stellung dazu genommen hätten, dass ein außergewöhnlicher, also überdurchschnittlicher degenerativer Prozess vorliege. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass derartige degenerative Veränderungen nicht vorgelegen wären. „Vielmehr ist festzuhalten, dass derartige Ausführungen nicht notwendigerweise in einen Operationsbericht aufgenommen werden."

Im konkreten Fall wurde beim Heben von zwei Karrees mit der linken Hand plötzlich ein stechender Schmerz in der linken Schulter verspürt. Neben der willentlichen Kraftanstrengung erfolgte keine zusätzliche Zugbelastung am Sehnengewebe. Der Muskel passt sich grundsätzlich durch Isometrie und Isotonie den jeweiligen Belastungsbedingungen an. Diese Anpassung findet ihre Grenze in der Muskelkraft und Dehnungsfähigkeit der Muskulatur, die stets geringer als die Zugfestigkeit der zugehörigen Sehne ist. Die Ursache des Sehnenrisses war also ausschließlich innere Gefügestörung, bedingt durch den mechanisch bedingten Verschleiß. Die Sehne wäre daher bei jeder anderen Belastung gerissen, die ihre noch verbliebene, fortschreitend absinkende Zugfestigkeit überschreitet. Die Bewertung des angeschuldigten Unfallereignisses ergibt somit, dass es austauschbar ist mit jeder anderen normalen Verrichtung des täglichen Lebens, der Sehnenriss wäre also zu etwa der selben Zeit in ungefähr gleichem Ausmaß eingetreten. Im konkreten Fall ist dem Operationsbericht zu entnehmen, dass eine Ruptur nahezu der gesamten Rotatorenmanschette vorlag. Ein freier Rand der Rotatorenmanschette war nicht zu erkennen. Eine spannungsfreie Rekonstruktion der Rotatorenmanschette war nicht möglich. Nach erfolgter Rekonstruktion war darüber hinaus eine AC-Plastik (Erweiterung des subacromialen Raumes durch Abmeißelung des Unterrandes des Schulterdaches) erforderlich. Alle diese Details des Operationsberichts sprechen für einen überwiegend degenerativ verursachten Schaden mit Defektbildung an der Rotatorenmanschette.

Rechtlich führte es aus, dem Kläger sei der Beweis gelungen, dass ein schädigendes Ereignis vorgelegen sei. Die Beklagte sei somit beweispflichtig dafür, dass über das übliche Ausmaß einer degenerativen Vorschädigung bei einem 49-jährigen Mann hinaus ein solcher Vorschaden vorgelegen und für das Eintreten des Unfallschadens „verantwortlich" gewesen sei. Dieser Gegenbeweis sei der Beklagten nicht gelungen. Es sei gemäß § 82 Abs 5 ASGG vorzugehen gewesen. Das Versehrtenrentenbegehren sei noch nicht entscheidungsreif.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts. Rechtlich führte es aus, nach der jüngsten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs seien Verletzungen, soweit sie auf altersbedingte natürliche Abnützung zurückzuführen seien, nicht als Anlageschaden anzusehen. Vielmehr sei für die Annahme eines Anlageschadens ein - bei genereller Betrachtung der körperlichen Konstitution der Versicherten - deutlich erkennbares Abweichen des Gesundheitszustands des Versicherten (vor dem Unfall) von der „Norm" erforderlich. In diesem Sinn seien altersentsprechende Abbauerscheinungen als mögliche „Anlageschäden" auszuklammern. Der ältere Versicherte solle nicht aufgrund seines Alters weniger geschützt sein als ein jüngerer, wenn bei ihm allein im Hinblick auf die altersgemäße Konstitution bestimmte Gesundheitsschäden leichter auslösbar seien als bei einem jüngeren Versicherten. Im Anlassfall stehe nur eine altersentsprechende degenerative Veränderung fest, nicht jedoch ein darüber hinausgehender „Anlageschaden". Dieser altersentsprechende degenerative Abbau sei bei der Prüfung der wesentlichen Bedingung für einen Arbeitsunfall nicht einzubeziehen. Es schade daher auch nicht, dass der degenerative, aber altersentsprechende Abbau soweit vorangeschritten gewesen sei, dass das Unfallereignis auch durch eine alltägliche Belastung ausgelöst hätte werden können. Die Beklagte treffe die Beweislast für einen über die altersgemäße Abnützung hinausgehenden degenerativen Vorschaden. Der Anscheinsbeweis sei nur dann zulässig, wenn eine typische formelhafte Verknüpfung zwischen der tatsächlichen bewiesenen Tatsache und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement bestehe; er dürfe nicht dazu dienen, Lücken der Beweisführung durch bloße Vermutungen auszufüllen. Eine typische formelhafte Verknüpfung, dass ein Riss der Rotatorenmanschette bei einem 49-jährigen Versicherten nur bei einem überdurchschnittlichen degenerativen Abbau und nicht auch bei einer altersentsprechenden degenerativen Abnützung durch ein Ereignis „wie das gegenständliche" eintreten könne, könne nicht angenommen werden. Aufgrund der dazu getroffenen Negativfeststellung bliebe die Annahme einer solchen überdurchschnittlich degenerativen Vorschadens beim Kläger eine bloße Vermutung.

Das Berufungsgericht sprach aus, die ordentliche Revision sei zulässig, weil die Frage, ob für das Vorliegen einer überdurchschnittlichen degenerativen Vorschädigung den beklagten Unfallversicherungsträger die Beweislast treffe, eine über den Einzelfall hinausgehende rechtliche Bedeutung habe.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1. Zur Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen muss es bereits aus Folgendem kommen:

Die Fällung des Teilurteils widerspricht § 65 Abs 2 und § 82 Abs 5 ASGG. Gemäß § 65 Abs 2 ASGG gilt als Feststellung eines Rechtsverhältnisses oder Rechts auch diejenige, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist; das rechtliche Interesse ist in diesem Sinn jedenfalls zu bejahen, obwohl im Zeitpunkt der Feststellung nicht gesagt werden kann, ob aus der Gesundheitsstörung jemals ein Recht bzw Rechtsverhältnis des Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger wird abgeleitet werden können (10 ObS 105/02t mwN). Das Feststellungsbegehren wird durch die Möglichkeit eines Leistungsbegehrens ausgeschlossen, sofern durch den Leistungsanspruch auch der Feststellungsanspruch erschöpft wird, weil dann mit dem Leistungsbegehren das strittige Rechtsverhältnis endgültig bereinigt wird. Unter diesem Gesichtspunkt fehlt auch einem nach § 65 Abs 2 ASGG gestellten Feststellungsbegehren das erforderliche Feststellungsinteresse (10 ObS 105/02t mwN). Allerdings schließt gemäß § 82 Abs 5 ASGG ein auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit gestütztes Leistungsbegehren das Eventualbegehren auf Feststellung ein, dass die geltend gemachte Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, sofern darüber noch nicht abgesprochen worden ist. Über dieses Eventualfeststellungsbegehren ist aber erst nach Entscheidung über das auf Leistung der Versehrtenrente gerichtete Hauptbegehren abzusprechen (10 ObS 105/02t). Die Stattgebung eines Feststellungsbegehrens in diesem Sinn setzt auch voraus, dass zumindest bei Schluss der Verhandlung erster Instanz eine bestimmte Gesundheitsstörung des Versicherten als Folge des Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit besteht. Ein bloß aktuelles Fehlen von Beschwerden beseitigt den Anspruch auf die Feststellung aber nicht (10 ObS 146/07d mwN).

2. Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichts ist ein Anspruch des Klägers aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu verneinen.

Das Berufungsgericht stützte seine Auffassung auf die Entscheidung 10 ObS 45/04x (= SZ 2004/79 = SSV-NF 18/48 = DRdA 2005/23, 325 [Reissner]). Seine Schlussfolgerungen können allerdings aus dieser Entscheidung nicht gezogen werden. Die Zurechnung eines Unfallschadens zur gesetzlichen Unfallversicherung hat nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung in mehreren Stufen zu erfolgen (vgl instruktiv Reissner, Kausalitätsbegriff der Unfallversicherung, DRdA 2005, 328):

Nach Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der Erwerbstätigkeit und dem Unfall sowie des „inneren" (finalen) Zusammenhangs muss die aus dem geschützten Lebensbereich stammende, in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehende Ursache „wesentliche Bedingung" (wesentlich mitwirkende Ursache) für den Eintritt des Körperschadens sein. Als wesentlich wird eine Bedingung insbesondere dann angesehen, wenn ohne ihre Mitwirkung der Erfolg nur zu einem erheblich anderen Zeitpunkt oder nur in einem geringeren Umfang eingetreten wäre (10 ObS 140/06w = SSV-NF 20/63 mwN; RIS-Justiz RS0084345), nicht aber dann, wenn die Schädigung durch ein alltäglich vorkommendes Ereignis zu annähernd gleicher Zeit und in annähernd demselben Ausmaß hätte ausgelöst werden können (10 ObS 108/07s; 10 ObS 140/06w; 10 ObS 17/05f je mwN; RIS-Justiz RS0084318).

Nach den im Revisionsverfahren nicht mehr bekämpfbaren Feststellungen liegt aber eine Ursache dieser Intensität gerade nicht vor, weil der Rotatorenmanschettenriss aufgrund der degenerativen Veränderungen auch bei jedem anderen alltäglich vorkommenden Ereignis zum ungefähr gleichen Zeitpunkt hätte eintreten können. Auf die Frage des Alters, das zweifellos bei jedem Menschen Abnützungserscheinungen bewirkt, kommt es in dieser Konstellation nicht mehr an.

3. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 2 ZPO.

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