OGH 10ObS227/03k

OGH10ObS227/03k27.7.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Carl Hennrich (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Loibl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Herbert J*****, vertreten durch Dr. Franz Nistelberger, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, Wienerbergstraße 15-19, 1101 Wien, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Gewährung von Heilmitteln, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. Juni 2003, GZ 8 Rs 85/03 h-18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 9. Jänner 2003, GZ 3 Cgs 105/02f-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 27. 5. 1945 geborene Kläger leidet an erektiler Dysfunktion. Bei ihm liegt seit Längerem ein Diabetes mellitus vor und es bestehen erhebliche Gefäßprobleme. Zur Behandlung des Bluthochdrucks erhält der Kläger Medikamente, die die erektile Funktion beeinträchtigen. Bei der erektilen Dysfunktion handelt es sich aus medizinischer Sicht um einen regelwidrigen Zustand, der eine Behandlung erforderlich macht. Für einen funktionierenden Erektionsmechanismus bedarf es der Aktivierung und Funktion mehrerer Komponenten. Wichtigster Faktor für das Nachlassen der Erektionsfähigkeit ist das Alter. 40-jährige Männer haben zu etwa 40 % Erektionsstörungen, 70-jährige Männer zu etwa 70 %. Weit mehr als die Hälfte der Männer im Alter des Klägers, die sich stoffwechselmäßig und vom Gefäßstatus her in einer ihm vergleichbaren Situation befinden, leiden unter erektiler Dysfunktion.

Organisch bewirkt das Bestehen einer erektilen Dysfunktion weder eine Beeinträchtigung der Gesundheit noch der Arbeitsfähigkeit des Klägers, es ist auch die Fähigkeit des Klägers zur Befriedigung lebenswichtiger persönlicher Bedürfnisse nicht eingeschränkt. Mit Verordnung des Krankenhauses der Stadt W***** vom 16. 1. 2002 wurde dem Kläger das Präparat Ixense 3 mg à 8 Tabletten OP I (im Folgenden: Ixense) verschrieben. Mit Verordnung dieses Spitals vom selben Tag wurde dem Kläger das Präparat DHEA-S 25 mg Kps OP I (im folgenden: DHEA-S) verschrieben.

Beim Präparat Ixense handelt es sich um ein Apomorphinpräparat, das ausschließlich zentral wirkt. Es verbessert die Empfänglichkeit sexueller Reize und wirkt ad hoc. Das bedeutet, dass es unmittelbar oder kurzfristig vor einem geplanten Coitus eingesetzt werden muss. Das Präparat Ixense ist weder in der Lage, eine nachhaltige Verbesserung der erektilen Dysfunktion noch deren Heilung zu bewirken.

Der Stellenwert des Präparates DHEA-S ist umstritten und seine Wirkung noch nicht endgültig abgeklärt. Dieses Präparat dient der Substitution eines DHEA-Mangels. Der Mangel des Hormons DHEA kann eine von vielen Ursachen für eine erektile Dysfunktion sein. DHEA-S wirkt systematisch im Körper und kann allenfalls einen Defekt im Bereich des endokrinen Systems überbrücken; das Präparat vermag die erektile Dysfunktion nicht zu heilen.

Die Präparate Ixense und DHEA-S sind völlig unterschiedliche Präparate, die nicht gemeinsam angewendet werden müssen. Die Wahl, ob das eine oder andere Präparat verwendet wird, ist fakultativ. Die Präparate ergänzen einander nicht.

Mit Bescheid vom 24. 5. 2002 lehnte die beklagte Wiener Gebietskrankenkasse den Antrag des Klägers auf Gewährung der Präparate DHEA-S und Ixense laut Verordnung vom 16. 1. 2002, ausgestellt vom Krankenhaus der Stadt W*****, Urologische Ambulanz, gemäß § 133 Abs 1 und § 136 Abs 1 ASVG im Wesentlichen mit folgender Begründung ab: Der Kläger leide an insulinpflichtigem Diabetes; es seien mehrere Gefäßoperationen durchgeführt worden; 1987 habe er einen St. p. Hinterwandinfarkt erlitten. Eine Linderung dieser Krankheiten könne mit den verordneten Präparaten nicht erreicht werden. Eine erektile Dysfunktion und ein DHEA-S-Mangel stellten keine Krankheit iSd ASVG dar, da durch die vorliegende erektile Dysfunktion weder die Gesundheit noch die Arbeitsfähigkeit noch die Besorgung lebenswichtiger persönlicher Bedürfnisse gefährdet sei, sodass bei Einnahme der Präparate keine Krankenbehandlung im sozialversicherungsrechtlichen Sinn vorliege.

Das Erstgericht wies die auf die Gewährung der Präparate "DHEA-S 25 mg, Kps, OP I" und "Ixense 3 mg, Tabl., OP I" laut Verordnung vom 16. 1. 2002, ausgestellt vom Krankenhaus der Stadt W*****, Urologische Ambulanz, gerichtete Klage ab. Im Rahmen einer Bewertung aller Faktoren, nämlich der Qualität der Behandlung, der Eignung der Maßnahme, des Ausmaßes der Behandlung, der Kosten und des angestrebten Erfolgs sei davon auszugehen, dass die Verabreichung der Präparate Ixense oder DHEA-S keine iSd ASVG zweckentsprechende und notwendige Krankenbehandlung sei, da insbesondere die Heilung des Grundleidens (der erektilen Dysfunktion) nicht möglich und der Therapieerfolg im Sinne einer dauerhaften Wiederherstellung der Erektionsfähigkeit weder vorhersagbar noch gewährleistet sei. Die beim Kläger vorliegende erektile Dysfunktion sei zwar eine Krankheit im medizinischen Sinn, nicht aber eine behandlungsbedürftige Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn des § 120 Abs 1 Z 1

ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, übernahm die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und erachtete die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts als zutreffend. Auch wenn ein zufriedenstellendes Sexualleben einen im Regelfall angestrebten und durchaus wünschenswerten Zustand darstelle, lägen doch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass beim Kläger Gründe vorlägen, aufgrund derer dem regelmäßigen Vollzug des Coitus der Stellenwert eines lebenswichtigen Bedürfnisses beigemessen werden müsste. Bei der vorliegenden erektilen Dysfunktion sei die im Krankenversicherungsrecht erforderliche Behandlungsbedürftigkeit nicht gegeben.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil der Oberste Gerichtshof bislang die Frage der selbständigen Behandlungsbedürftigkeit einer durch eine (behandlungsbedürftige) Grunderkrankung hervorgerufenen erektilen Dysfunktion nicht beurteilt habe.

Dagegen richtet sich die Revision der klagenden Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag an das Berufungsgericht gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

In seiner Rechtsrüge stellt der Kläger in den Vordergrund, dass bestehende Krankheiten im medizinischen Sinn geeignet seien, negative Auswirkungen auf die Psyche des Betroffenen zu entfalten; Krankheiten der menschlichen Psyche wiederum könnten als behandlungsbedüftige Krankheiten im sozialversicherungsrechtlichen Sinn angesehen werden. Ein für beide Partner einer Beziehung zufriedenstellendes Sexualleben stelle weit mehr als einen "im Regelfall angestrebten und durchaus wünschenwerten" Zustand dar. Sowohl der Sexualität als auch dem Sexualleben werde von der österreichischen Rechtsordnung ein verfassungsmäßig geschützter Stellenwert beigemessen; die Ausübung der Sexualität sei Teil des geschützten Rechts auf Privatleben. Auch das Scheidungsrecht nehme auf Umstände des Sexuallebens in der Form Bedacht, dass die Unfähigkeit eines Partners zur sexuellen körperlichen Gemeinschaft mit dem anderen Partner unter Umständen zur Zerrüttung führen könne. Die Ansicht des Berufungsgerichts, unter "lebenswichtigen persönlichen Bedürfnissen" seien ausschließlich lebenserhaltende Bedürfnisse wie Trinken, Schlafen oder Essen zu verstehen, sei unrichtig; vielmehr falle darunter auch ein für beide Teile befriedigender Geschlechtsverkehr. Im Übrigen habe der Oberste Gerichtshof durch Aufnahme der Leitentscheidung des deutschen Bundessozialgerichts vom 30. 9. 1999 in die Judikaturdokumentation zu § 120 Abs 1 Z 1 ASVG (RS0113673) zu erkennen gegeben, dass die deutsche Rechtslage auch für Österreich von Bedeutung sei. In der Bundesrepublik Deutschland sei sowohl vom Bundessozialgericht als auch von mehreren Sozialgerichten judiziert worden, dass Krankenkassen verpflichtet seien, Diabetikern, die an einer erektilen Dysfunktion leiden, Heilmittel zu gewähren, durch die "eine Linderung der Beschwerden der erektilen Dysfunktion erreicht werden könne". Auch nach der österreichischen Rechtslage könne nur entscheidend sein, ob die dem Kläger verordneten Präparate für den Defekt beim Kläger, nämlich mangelnde Erektionsfähigkeit, hilfreich seien, dh eine Linderung der Dysfunktion herbeiführen könnten; die Eignung zur Heilung des Grundleidens sei nicht erforderlich.

Dazu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Vorerst ist festzuhalten, dass aus der Aufnahme einer (in- oder ausländischen Entscheidung) in die Rechtsatz-Datenbank durch das Evidenzbüro des Obersten Gerichtshofes keine Schlüsse auf die weitere Judikaturentwicklung gezogen werden können. Vor allem im Zusammenhang mit der von § 502 Abs 1 ZPO angesprochen Rechtsentwicklung ist es angebracht, dass der Oberste Gerichtshof auch auf die Rechtslage und Judikatur in anderen Staaten zurückgreift. Die Indizierung bestimmter ausländischer Entscheidungen durch das Evidenzbüro ist dafür ein arbeitssparendes Hilfsmittel. Damit wird vom Evidenzbüro des Obersten Gerichtshofes keineswegs zum Ausdruck gebracht, der Oberste Gerichtshof beabsichtige in welcher Weise immer, hinkünftig dieser ausländischen Judikatur zu folgen. Ein solcher Schluss kann nicht einmal dort gezogen werden, wo - wie etwa im Lugano-Kovergenzsystem (Protokoll Nr 2 zum LGVÜ, ABl EG 1988 L 319, 31 ff vom 25. 11. 1988) - eine völkerrechtliche Verpflichtung Österreichs besteht, nichtösterreichische Judikatur zu respektieren.

Nach § 133 Abs 1 ASVG umfasst die Krankenbehandlung ärztliche Hilfe, Heilmittel und Heilbehelfe. Die Heilmittel umfassen wiederum a) die notwendigen Arzneien und b) die sonstigen Mittel, die zur Beseitigung oder Linderung der Krankheit oder zur Sicherung des Heilerfolges dienen (§ 136 Abs 1 ASVG). Die Kosten der Heilmittel werden vom Träger der Krankenversicherung durch Abrechnung mit den Apotheken übernommen; für jedes auf einem Rezept verordnete und auf Rechnung des Versicherungsträgers bezogene Heilmittel ist grundsätzlich eine Rezeptgebühr zu zahlen (§ 136 Abs 2 und 3 ASVG).

Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers des ASVG soll die österreichische soziale Krankenversicherung den Heilbedarf des Versicherten in Form von Sachleistungen decken (§ 133 Abs 2 Satz 3 ASVG). Dabei verschafft der Sozialversicherungsträger dem Versicherten die Heilbehandlung über eigene Einrichtungen zu deren Lasten oder über seine Vertragspartner gegen direkte Verrechnung der Kosten mit dem Vertragspartner. Geldleistungen des Krankenversicherungsträgers ("Kostenersatz") sollen im Bereich der Krankenbehandlung hingegen die Ausnahme bilden. Beim Kostenersatz verschafft sich der Versicherte die Heilbehandlung selbst und liquidiert nachher die satzungsgemäßen Geldleistungen (10 ObS 361/01p; RIS-Justiz RS0115953).

Von dieser Rechtslage ausgehend ist der vom Kläger geltend gemachte Anspruch nicht eindeutig einordenbar. Nach seinem Vorbringen und den Kopien der Verordnungen (Blg ./1 und ./2) hat die beklagte Partei die Gewährung der verordneten Heilmittel abgelehnt. Nach seinem Begehren verlangt der Kläger die Gewährung von Heilmitteln als Sachleistung. Nach herrschender Auffassung besteht aber in der gesetzlichen Krankenversicherung kein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Gewährung von Sachleistungen (10 ObS 9/99t = SSV-NF 13/12; RIS-Justiz RS0111541; vgl Tomandl, Grundriss5 Rz 159; Selb/Schrammel in Tomandl, SV-System 15. ErgLfg 569; Mosler in Strasser, Arzt und gesetzliche Krankenversicherung [1995] 45 ff, 54 ff); möglich ist ein Klagebegehren auf Übernahme von Kosten durch den Krankenversicherungsträger (SSV-NF 9/65).

Die Fassung des Klagebegehrens kann jedoch aus den nachstehenden Erwägungen dahingestellt bleiben.

Nach § 116 Abs 1 Z 2 ASVG trifft die gesetzliche Krankenversicherung

ua Vorsorge für den Versicherungsfall der Krankheit. Aus diesem

Versicherungsfall nennt § 117 Z 2 ASVG als zu erbringende Leistung

der Krankenversicherung ua die Krankenbehandlung, wobei der

Versicherungsfall der Krankheit nach § 120 Abs 1 Z 1 ASVG mit dem

Beginn der Krankheit, also des regelwidrigen Körper- oder

Geisteszustandes als eingetreten gilt, der die Krankenbehandlung

notwendig macht (siehe dazu etwa 10 ObS 2303/96s = SSV-NF 10/95 = SZ

69/209 = DRdA 1997/29, Mazal [Transsexualität]; 10 ObS 250/98g =

SSV-NF 12/104 = SZ 71/132 = ZAS 1999/16, Pernkopf = DRdA 1999/35,

Mosler = SozSi 1999, 200, Kletter [Störung des Sozialverhaltens]).

Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden. Die Krankenbehandlung muss ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 133 Abs 2 ASVG). Aus diesen gesetzlichen Vorgaben resultiert eine Grundproblematik des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung: Der Anspruch des Versicherten auf Krankenbehandlung muss mit der Belastungsfähigkeit der Versichertengemeinschaft in Einklang gebracht werden (Tomandl in der Anmerkung zu 10 ObS 113/94, SSV-NF 8/44, ZAS 1994/18). In den Bewertungsakt, welche Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund ihrer Ziele zu erbringen sind, sind neben den Kosten insbesondere auch die ausreichende Qualität und Quantität sowie finale Aspekte der Behandlung als Ausdruck der Zweckmäßigkeit einzubeziehen (eingehend Mazal, Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung [1992] 320, 361 ua). Diese finalen Aspekte der Krankenbehandlung - Wiederherstellung, Festigung, Besserung der Gesundheit, der Arbeitsfähigkeit und der Selbsthilfefähigkeit - hängen eng mit dem Verständnis vom Begriff der Gesundheit bzw der Krankheit zusammen (Mazal, Krankheitsbegriff 330).

§ 120 Abs 1 Z 1 ASVG definiert Krankheit als regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der die Krankenbehandlung notwendig macht. Mit dieser Formel hat der Gesetzgeber diejenigen "Grundsätze herangezogen, die sich in der Judikatur zu diesem Begriff herausgebildet haben" (RV 599 BlgNR 7. GP 49). In vergleichbarer Weise wird auch in der deutschen Judikatur Krankheit als regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand verstanden, der entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat (siehe etwa Höfler in Kasseler Kommentar § 27 SGB V Rz 9 mwN). Der Begriff umfasst also zwei Facetten, nämlich den der Regelwidrigkeit und den der Behandlungsbedürftigkeit.

In seinen Entscheidungen zur Erstattung der Kosten der "Behandlung"

bei unerfülltem Kinderwunsch vor Inkrafttreten des IVF-Fonds-Gesetzes

(BGBl I 1999/180) hat sich der Oberste Gerichtshof mit den Begriffen

der Krankheit und der Krankenbehandlung im

sozialversicherungsrechtlichen Sinn auseinandergesetzt und zum

Ausdruck gebracht, dass sich der medizinische Krankheitsbegriff nicht

mit dem Begriff der Krankheit im Sozialversicherungsrecht deckt (10

ObS 2371/96s = SSV-NF 11/2 = JBl 1997, 673; 10 ObS 115/98d = SSV-NF

12/82 = SZ 71/104; 10 ObS 193/98z = SSV-NF 12/153 = SZ 71/199; 10 ObS

247/98s = ARD 4997/17/1999).

Regelwidrigkeit und Behandlungsbedürftigkeit sind nicht zwei gänzlich voneinander isolierte Elemente des sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffes, sondern bedingen einander regelmäßig (siehe Schrammel, Veränderungen des Krankenbehandlungsanspruches durch Vertragspartnerrecht? ZAS 1986, 145 [147] unter Berufung auf Faude,

Der Krankheitsbegriff der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1978, 374 [377 ff]). Letztlich hängen beide Elemente davon ab, wie zum Vergleich das Leitbild des gesunden Menschen bestimmt wird, wie es das deutsche Bundessozialgericht als Maßstab heranzieht. Der "gesunde Mensch" ist zur Ausübung normaler körperlicher und psychischer Funktionen in der Lage; regelwidrig und damit typischerweise auch behandlungsbedürftig ist eine erhebliche Abweichung von dieser Norm. Dabei reichen allerdings nicht Abweichungen von einer "morphologischen Idealnorm" aus, solange die Abweichungen noch befriedigende körperliche und psychische Funktionen zulassen (Höfler aaO § 27 SGB V Rz 12). Weitgehend herrscht auch Übereinstimmung darüber, dass alle zum natürlichen Ablauf des menschlichen Lebens gehörenden Zustände oder Prozesse - wie ein altersbedingter Verfall der Kräfte - aus dem Krankheitsbegriff ausscheiden (siehe etwa Kummer in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts Band I [1994] § 20 Rz 32). Aber auch diese Zustände bzw Prozesse bereiten Schwierigkeiten an ihren Grenzen. So fragt Schrammel (ZAS 1986, 147), ob etwa Schwerhörigkeit, Weitsichtigkeit oder Verkalkungserscheinungen im Alter Leistungsansprüche aus der Krankenversicherung auslösen können. Je mehr die Fähigkeiten der Menschen steigen, die Vorgänge im menschlichen Organismus zu erkennen und zu beeinflussen, umso größer werden die Schwierigkeiten, Regel und Regelwidrigkeit zu unterscheiden und Behandlungsbedürftigkeit zu bewerten. So etwa lässt die Entwicklung der Geriatrie die Unterscheidung zwischen natürlichen Entwicklungen und Krankheiten unklarer werden (siehe zu dieser Thematik etwa auch Mlczoch, Altersveränderungen und Alterskrankheiten, SozSi 1982, 369). Damit zeigt sich auch die begrenzte Aussagekraft dieses Vergleichsmaßstabs: Die Beurteilung der Regelwidrigkeit nach dem Vorliegen einer erheblichen Funktionseinschränkung kann nicht gänzlich durchgehalten werden, sondern es müssen auch andere Wertungen einfließen (Mazal, Krankheitsbegriff 64). Letztlich ist jede Beurteilung anhand eines Vergleichsmaßstabs vom Verständnis davon geprägt, welche Störungen des Wohlbefindens (im weitesten Sinn) auf Kosten der Sozialversicherung beseitigt bzw verbessert werden sollen und welche durch den Betroffenen auf seine eigenen Kosten. Damit schließt sich wiederum der Kreis von der behandlungsbedürftigen "Krankheit" iSd § 120 Abs 1 Z 1 ASVG zu den gesetzlichen Vorgaben über den Umfang der Krankenbehandlung in § 133 Abs 2 ASVG. In den letzten Jahren hat sich Mazal in seiner schon mehrfach erwähnten umfassenden Untersuchung "Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung" (1992) eingehend mit dem "sozialen Krankheitsbegriff" auseinandergesetzt. Demnach besteht ein Anspruch auf Krankenbehandlung im Rahmen des medizinisch Gebotenen nur in dem Maß, als ein sozialer Konsens über die Inanspruchnahme der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe (zur Abhängigkeit von den sozialen Wertvorstellungen vor allem 64, 122 ff und 213 ff; vgl auch Schrammel , ZAS 1986, 149 und - für den deutschen Rechtsbereich - Höfler, SGB V § 27 Rz 9: "Möglichkeiten und Ziele der Gesellschaft"). Dieser soziale Konsens müsse aus Wertungen erschlossen werden, die der Rechtsordnung innewohnen. Die Grenzen des Anspruchs des Versicherten auf Krankenbehandlung müssten in jedem Einzelfall durch Abwägung der schon oben erwähnten Aspekte gefunden werden, nämlich ausreichende Qualität und Quantität, Kosten sowie finale Aspekte der Behandlung. Entscheidende Bedeutung bei der Abwägung zwischen den Interessen des Individuums an der "besten" Behandlung und der Gemeinschaft an einer kostenoptimalen Versorgung wird dem Maß der "Betroffenheit" des Patienten zugedacht (Mazal aaO 361 ff). Bei den für die Betroffenheitsintensität maßgeblichen Wertungen ist in erster Linie die absolute Priorität des Lebens zu beachten, dem andere Güter nachgeordnet sind. Geringeren Stellenwert besitzen die körperliche Integrität, die körperliche Bewegungsfreiheit und die geistige Betätigungsfreiheit, die spezielle Ausformungen in der Arbeitsfähigkeit und der Selbsthilfefähigkeit finden. Diesen Gütern sind andere wie zB Schmerzfreiheit nach der allgemeinen Auffassung nachgeordnet.

Auch die sozialrechtliche Judikatur beruft sich - wenn auch zum Teil mit unterschiedlicher Gewichtung - auf die von Mazal

herausgearbeiteten Kriterien (zB 10 ObS 113/94 = SSV-NF 8/44 = ZAS

1994/18, Tomandl [Krampfadernbehandlung]; 10 ObS 311/00h = ZAS

2002/10, K. Posch [Thermalbäder]). Damit können zwar keine Ergebnisse in gleichsam mathematischer Eindeutigkeit erzielt werden; der Vorteil der Abwägung anhand solcher Kriterien liegt aber darin, dass die Wertungen und die ihnen zugrunde liegenden Prämissen offen gelegt werden müssen.

Aus den in § 133 Abs 2 Satz 2 ASVG genannten Zielen, wonach durch die Krankenbehandlung die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden sollen, muss abgeleitet werden, dass weder jedwede Störung des Wohlbefindens zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu beseitigen ist noch dass ein Idealzustand eines gesunden Menschen erreicht werden soll, was insbesondere durch die Einschränkung auf die Fähigkeit, "für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse" (also nicht "für alle Bedürfnisse" oder "für alle wichtigen Bedürfnisse") zu sorgen, nahegelegt wird. Ebenso wird durch die Beschränkung auf das Maß des Notwendigen zum Ausdruck gebracht, dass es nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sein kann, dem Versicherten durch eine Behandlung maximale Bedürfnisbefriedigung zu ermöglichen, wie auch das deutsche Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 30. 9. 1999 zur Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (B 8 KN 9/98 KR R, NJW 2000, 2764) zum Ausdruck gebracht hat. In dieser vor Inkrafttreten der nunmehrigen Fassung des § 34 SGB V ("Ausgeschlossene Arznei-, Heil- und Hilfsmittel") ergangenen Entscheidung wurde - bei allerdings etwas anderer Gesetzeslage als in Österreich, weil sich die Beschränkung der Ziele der Krankenversicherung auf die Befähigung ua für die lebenswichtigen Bedürfnisse zu sorgen, nicht ausdrücklich im SGB V findet - nach Erhebung der Kohabitationshäufigkeit von Männern der Altersgruppe des Klägers die gefäß- (und nicht alters-)bedingte mangelnde Erektionsfähigkeit des Penis als Krankheit iSd Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung angesehen (BSG 30. 9. 1999, B 8 KN 9/98 KR R, NJW 2000, 2764 [Schwellkörper-Autoinjektionstherapie]). Dies wurde damit begründet, dass ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körperzustand vorliege. Es könne dahingestellt bleiben, ob altersbedingte Veränderungen generell "Krankheiten" im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung seien, da die in Frage stehende erektile Dysfunktion nach den Tatsachenfeststellungen nicht als altersbedingte und erst recht nicht als alterstypische Minderung der Physis angesehen werden könne. Wohl sei aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot abzuleiten, dass es nur Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sei, dem Versicherten das "Notwendige" zu verschaffen, nicht jedoch eine maximale Bedürfnisbefriedigung zu ermöglichen. Bei der Schwellkörper-Autoinjektionstherapie gehe es aber weder um Anreizung noch um Steigerung der sexuellen Potenz, sondern darum, die nicht mehr vorhandene Erektionsfähigkeit bei bestehendem Verlangen wiederherzustellen. Der damals in die Arzneimittel-Richtlinien aufgenommene Leistungsausschluss für "Mittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion" sei nicht durch die Ermächtigung des § 92 Abs 2 SGB V gedeckt, weil diese Bestimmung nicht dazu ermächtige, die Behandlung bestimmter Krankheiten oder Krankheitssymptome zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung auszuschließen. Zwischenzeitig wurde § 34 SGB V dahin geändert, dass von der Versorgung (unter anderem) Arzneimittel ausgeschlossen sind, bei deren Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht. Beispielhaft werden dann Arzneimittel aufgezählt, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Anreizung sowie Steigerung der sexuellen Potenz, zur Raucherentwöhnung, zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen. Im hier zu entscheidenden Fall will der Kläger erreichen, dass ihm von der gesetzlichen Krankenversicherung Heilmittel zu gewähren sind. Als Heilmittel sind im Rahmen der Krankenbehandlung (§§ 133 ff ASVG) die notwendigen Arzneien und die sonstigen Mittel zu gewähren, die zur Beseitigung oder Linderung der Krankheit oder zur Sicherung des Heilerfolges dienen (§ 136 Abs 1 ASVG). Auch hier beeinflusst das gesellschaftliche Grundverständnis das krankenversicherungsrechtliche Leistungsrecht (Mazal, Krankheitsbegriff 302; ähnlich in der Anmerkung zu 10 ObS 62/89, ZAS 1990/22 [Acarosan]), sodass auch bei der Heilmittelgewährung die oben dargestellte Abwägung zwischen den Interessen des Individuums und denen der Versichertengemeinschaft vorzunehmen ist.

Auch wenn nicht außer Acht gelassen wird, dass der Begriff der Krankenbehandlung nicht völlig von der betroffenen Person abstrahiert werden kann und subjektive Komponenten aufweist, muss in dem von einer objektiven Sichtweise geprägteren Sozialversicherungsrecht eine Grenze der Leistungspflicht dort eingezogen werden, wo Bedürfnisse aus der höchstpersönlichen Lebenssphäre des einzelnen Versicherten prägend in den Vordergrund treten (Zuck, Gehört Viagra zur vertragsärztlichen Versorgung? NZS 1999, 167 [169]). Aus diesem Bereich stammende Funktionsstörungen - so wie auch die der Erektionsfähigkeit des Mannes - sind vor allem dadurch charakterisiert, dass ihr Auftreten für jeden betroffenen Einzelnen, abhängig etwa von den persönlichen Neigungen und Eigenschaften und seiner Lebenssituation, von stark unterschiedlichem Gewicht ist. Gleiches gilt für die Intensität der Behandlung (quantitativ betrachtet). Selbst wenn für den einzelnen wichtige Bedürfnisse tangiert sein können, handelt es sich nach den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen doch nicht um "lebenswichtige persönliche Bedürfnisse", deren Ermöglichung § 133 Abs 2 ASVG für den Anspruch auf Heilmittelgewährung voraussetzt (eine vergleichbare Vorschrift fehlte in der BRD zu den Arzneimitteln). Soweit ein einzelner für sich persönlich mit den angeführten gesellschaftlichen Wertvorstellungen nicht konform geht, muss er eine Beseitigung oder Besserung des von ihm persönlich nicht tolerierten Zustandes auf seine eigenen Kosten veranlassen. In diesem Sinn ist auch der in den genannten IVF-Entscheidungen enthaltene Satz zu verstehen, dass die gesetzliche Krankenversicherung nicht dazu berufen sei, generell "soziales Wohlbefinden zu finanzieren". Diese Wertung findet im Gesetz ihren Niederschlag beispielsweise in § 133 Abs 3 ASVG, wonach kosmetische Behandlungen (grundsätzlich nur dann) als Krankenbehandlung gelten, wenn sie zur Beseitigung anatomischer oder funktioneller Krankheitszustände dienen. Aus dieser Regelung darf nicht der Umkehrschluss gezogen werden, alle sonstigen, möglicherweise einer Beseitigung oder Besserung des regelwidrigen Zustandes dienlichen Heilmittel unterlägen der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl auch Mazal, Krankheitsbegriff 303). Vielmehr handelt es sich dabei um einen Ausdruck des Grundsatzes, dass die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung auch bei an sich regelwidrigen Zuständen begrenzt ist. Die gleiche Wertung kommt in § 153 Abs 1 ASVG zum Ausdruck, wonach Zahnbehandlung nach Maßgabe der Bestimmungen der Satzung zu gewähren ist, Kieferregulierungen nur dann, wenn sie zur Verhütung von schweren Gesundheitsschädigungen oder zur Beseitigung von berufsstörenden Verunstaltungen notwendig sind.

Mit dieser Entscheidung erübrigt sich eine Beantwortung der Frage, ob der von den Vorinstanzen für die Definition des sozialversicherungsrechtlichen Begriffs der Krankenbehandlung in den Vordergrund gestellte Aspekt der Heilbarkeit des Grundleidens zutreffend ist oder ob eine wesentliche Beeinflussbarkeit des Leidens durch gezielte ärztliche Behandlung im Sinne einer Verbesserung des status quo ausreichend ist.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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