OGH 10ObS193/03k

OGH10ObS193/03k16.9.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Friedrich Heim (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Zoran S*****, Arbeiter, *****, vertreten durch Rechtsanwälte Dr. Gustav Teicht, Dr. Gerhard Jöchl Partnerschaft, Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. März 2003, GZ 8 Rs 61/03d-36, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 26. November 2002, GZ 2 Cgs 51/02g-30, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger am 10. 10. 1944 geborene Kläger war innerhalb der letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 2. 2002) vom 16. 1. 1989 bis 31. 5. 2000 als Lagerarbeiter in einem Getränkelager der B***** beschäftigt. Der Kläger hatte eine 6-Tage-Woche. Insgesamt wurde 38,5 Stunden pro Woche gearbeitet, wobei in den Sommermonaten um 1 Stunde länger und in den Wintermonaten um 1 Stunde kürzer gearbeitet wurde. In diesem Getränkelager war ein Zwei-Schicht-Betrieb eingerichtet, und zwar von 6.00 bis 14.00 Uhr und von 14.00 bis 22.00 Uhr. Der Kläger hat vorwiegend in der Nachmittagsschicht gearbeitet. Aus arbeitsrechtlichen Gründen wäre es nicht möglich gewesen, dass jemand nur in der Vormittagsschicht arbeitet.

In der Vormittagsschicht erfolgte die Anlieferung der Getränke auf LKWs oder Eisenbahnwaggons. Die Aufgabe des Klägers bestand darin, mit dem Gabelstapler zum LKW oder zum Eisenbahnwaggon hinzufahren, die kompletten Paletten auf den Gabelstapler aufzuladen und dann auf den dafür vorgesehenen Lagerplatz zu stellen. Während der Vormittagsschicht ist der Kläger etwa zu 60 % seiner Arbeitszeit mit dem Stapler gefahren. Die restliche Tätigkeit am Vormittag bestand darin, für Selbstabholer Getränkekisten händisch herzurichten und die bereits von der ersten Schicht zurückkommenden LKWs, die Getränke ausgeliefert hatten, zu entladen. Diese Arbeiten konnten nicht mehr komplett mit dem Gabelstapler gemacht werden, da zwar die Paletten mit dem Stapler von den LKWs heruntergeholt wurden; da sich aber unterschiedliche Getränkegebinde auf den Paletten befanden, waren diese dann händisch zum jeweiligen Lagerplatz zu bringen.

In der Nachmittagsschicht ist der Kläger nur in untergeordnetem Ausmaß mit dem Stapler gefahren, um fertige Paletten auf die LKWs aufzuladen. Vorher mussten die Paletten immer händisch anhand von Bestelllisten zusammengestellt werden, wobei etwa 20 bis 30 verschiedene Gebindeprodukte auf einer Palette zusammengekommen sind. Die leichtesten Gebinde hatten ein Gewicht von 12 bis 14 kg, die schwersten (volle 50-Liter-Fässer) ein Gewicht von 65 Kilo.

Die offizielle Berufsbezeichnung für die vom Kläger bei der B***** verrichtete Tätigkeit ist "Vorrichter und Staplerfahrer". Diese Mischtätigkeit muss jeder im Lager Beschäftigte machen; andere Verwendungsmöglichkeiten im Lager gibt es nicht. Die alternative Verwendung des Klägers wäre die eines Bierführers gewesen. In diesem Fall müssen aber die Gebinde bei der Auslieferung händisch vom Wagen herunter gehoben werden.

Das bei der B*****, dem Marktführer in Österreich, verwendete Bestellsystem wird auch von anderen Brauereien sowie von A***** angewendet. Die Tätigkeit und die Organisation ist überall gleich.

Es hätte keinerlei Möglichkeit für den Kläger gegeben, seine konkrete Tätigkeit umzuorganisieren, dies weder bei der B***** noch etwa bei O***** oder R*****. Jeder Arbeiter, der in der Vertriebshalle arbeitet, muss einen Staplerschein besitzen.

Der Kläger ist nur mehr für leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen geeignet, wobei Haltungssterotypien im Sitzen oder Stehen die Möglichkeit zur bedarfsweisen Haltungsänderung erfordern. Ausgeschlossen sind Arbeiten in übermäßiger Nässe- und Kälteexposition, Arbeiten mit häufigem oder länger dauerndem ununterbrochenen Vornüberneigen des Kopfes, Arbeiten mit häufigem oder länger dauerndem ununterbrochenen Bücken oder Vornüberneigen des Rumpfes, Arbeiten in dauernd gebückter Haltung und Arbeiten in höhenexponierten Lagen. Es sind alle Arbeiten möglich, die ein dem bisherigen Berufsverlauf entsprechendes geistiges Anforderungsprofil aufweisen. Ein Achtstundentag mit den üblichen Arbeitspausen kann eingehalten werden.

Eine Arbeitskraft mit den Leistungseinschränkungen des Klägers ist nicht mehr in der Lage als Vorrichter und Staplerfahrer zu arbeiten. Für den Kläger ist auch eine Umorganisation der bisher verrichteten Tätigkeit nicht möglich, da die Tätigkeit vom Betrieb organisiert ist. Die Tätigkeit des Klägers ist mit einer Tätigkeit eines reinen Staplerfahrers in Lagern nicht vergleichbar, da bei solchen Tätigkeiten die Paletten so verpackt sind, dass nichts herunterfallen kann. Im konkreten Fall war das Ladegut aber nicht so verzurrt, dass es nicht gelegentlich heruntergefallen könnte, was sich bei verschiedensten Gebinden möglich ist, die sich auf einer Palette befinden. Fällt Ladegut von einer Palette herab, muss es wieder auf die Palette aufgeladen werden, was mit dem Leistungskalkül des Klägers nicht vereinbar ist.

Mit Bescheid vom 4. 4. 2002 hat die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den am 14. 1. 2002 eingebrachten Antrag des Klägers auf Gewährung der Invaliditätspension abgelehnt.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobene Klage statt und verpflichtete die beklagte Partei, dem Kläger ab 1. 2. 2002 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren; eine vorläufigen Zahlung wurde nicht aufgetragen. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG lägen vor.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei in nichtöffentlicher Sitzung Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Klagsabweisung ab. Der Kläger sei außerhalb des Betriebes, in dem er zuletzt gearbeitet habe, verweisbar. Mit der Bestimmung des § 255 Abs 4 ASVG sei nämlich kein "Arbeitsplatzschutz" geschaffen, sondern lediglich der Berufsschutz erweitert worden. Ohne dass es diesbezüglich einer ausdrücklichen Feststellung bedürfe sei notorisch, dass Staplerfahrer in diversen Branchen, die mit jener des Klägers vergleichbar seien (etwa der Lebensmittelbranche) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt laufend gesucht seien. Da der Kläger in einem vergleichbaren arbeitskulturellen Umfeld die von ihm auch bisher als Teiltätigkeit ausgeübte Tätigkeit eines Staplerfahrers ohne Überschreitung seines Leistungskalküls ausüben könne, gelte er nicht als invalid iSd § 255 Abs 4 ASVG.

Die ordentliche Revision sei zulässig, da § 255 Abs 4 ASVG noch nicht lange genug dem Rechtsbestand angehört, dass hinsichtlich aller relevanten Probleme von einer gefestigten Rechtsprechung des Höchstgerichts ausgegangen werden könnte.

Dagegen richtet sich die Revision der klagenden Partei aus den Revisionsgründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrags berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind Feststellungen der Tatsacheninstanzen auch dann nicht überprüfbar, wenn die Feststellungen unter Anwendung des § 269 ZPO getroffen wurden (RIS-Justiz RS0040046; SSV-NF 6/105, 14/7 mwN; zuletzt etwa 10 ObS 346/00f und 10 ObS 414/01g). Es wurde aber bereits ausgesprochen, dass es dem Berufungsgericht nicht zusteht, allein mit dem Hinweis auf Allgemeinkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat (10 ObS 346/00f; 10 ObS 362/99d; 1 Ob 185/98g mwN), oder den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt um weitere Feststellungen zu ergänzen (10 ObS 273/02y). Da die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und der Beweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen zulässig ist (Rechberger in Rechberger, ZPO2 § 269 Rz 4), muss das Berufungsgericht das von ihm beabsichtigte Abweichen von erstinstanzlichen Feststellungen mit den Parteien erörtern (SZ 55/116) und ihnen Gelegenheit geben, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 263/01a = RIS-Justiz RS0040046 [T9] = RIS-Justiz RS0040219 [T6]; 10 ObS 273/02y).

Bei den Anforderungen an Verweisungsberufe, die weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden, kann es sich zwar um offenkundige Tatsachen handeln, vor allem im Hinblick auf gleichartige, dem Gericht bereits bekannte Fälle. Die Anforderungen sind jedoch nicht so unzweifelhaft, dass sie der Entscheidung ohne Erörterung mit den Parteien zugrunde gelegt werden könnten. In diesem Sinn ist es vor einem Abgehen von den entsprechenden erstgerichtlichen Feststellungen oder vor Ergänzung derselben erforderlich, mit den Parteien - gegebenenfalls unter Hinweis auf bereits vorhandene Entscheidungen in vergleichbaren Fällen, die die Offenkundigkeit begründen können - zu erörtern, welche Anforderungen an einen Staplerfahrer (bzw einen mit Staplerarbeiten betrauten Lagerarbeiter) gestellt werden und ob es auf dem österreichischen Arbeitsmarkt eine ausreichende Anzahl von Arbeitsstellen für Staplerfahrer gibt, bei denen keine Anforderungen gestellt werden, die über das dem Kläger verbliebene Leistungskalkül hinausgehen. Als ausreichende Anzahl wurden in der bisherigen Judikatur mindestens hundert gewertet (SSV-NF 7/37).

Die vom Berufungsgericht vertretene Rechtsansicht zur Zumutbarkeit der Änderung der bisherigen Tätigkeit auf Teiltätigkeiten, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgefragt werden, steht in Einklang mit der bisherigen Judikatur des Obersten Gerichtshofs zu § 255 Abs 4 ASVG; der vorliegende Fall bietet keinen Anlass, davon abzugehen.

Ebenso wie die Vorgängerbestimmung (§ 253d ASVG) stellt § 255 Abs 4 ASVG nicht auf die Anforderungen an einem bestimmten Arbeitsplatz ab, sondern auf die "Tätigkeit" mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt (10 ObS 98/03i; 10 ObS 367/02x; SSV-NF 12/121 ua; RIS-Justiz RS0087658). In diesem Sinn wird kein Arbeitsplatzschutz, sondern ein Tätigkeitsschutz (oder ein dem inhaltlich entsprechender "besonderer Berufsschutz") gewährt.

Wie der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 17. 9. 2002, 10 ObS 185/02g (EvBl 2003/20 = infas 2003/S 12 = DRdA 2003, 181; RIS-Justiz RS0100022) ausgeführt hat, muss im Rahmen des § 255 Abs 4 ASVG eine Verweisung bzw Änderung der bisherigen Tätigkeit jedenfalls dann als zumutbar angesehen werden, wenn die Verweisungstätigkeit bereits bisher als eine wesentliche Teiltätigkeit ausgeübt wurde und das Arbeitsumfeld dem bisherigen ähnlich ist (Schrammel, Der Invaliditäts-/Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeits- begriff nach dem SVÄG 2000, ecolex 2000, 886 ff [889]). Kriterien sind dabei neben dem kulturellen Arbeitsumfeld unter anderem auch die Kontakte mit Mitarbeitern sowie die räumliche Situation, etwa ob die Arbeiten im Freien oder am Fließband auszuüben sind (vgl Röhrenbacher, Gedanken und Überlegungen zum neuen Invaliditätsbegriff, SozSi 2001, 846 ff [852]). Der Branche kann keine allein ausschlaggebende Bedeutung zukommen; sie kann aber bei der Konkretisierung des Umfelds eine Rolle spielen. An dieser Auffassung zur Verweisung auf Teiltätigkeiten hat der OGH auch in der Folge in mehreren Entscheidungen festgehalten, und zwar auch dann, wenn es nicht um höher qualifizierte Tätigkeiten ging (zB 10 ObS 348/02b, 10 ObS 352/02s; 10 ObS 421/02p, 10 ObS 101/03f).

Da sich das Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen der notwendigen Erörterung als ergänzungsbedürftig erweist, ist der Revision - im Sinn einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zwecks Verfahrensergänzung - Folge zu geben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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