OGH 7Ob39/02i

OGH7Ob39/02i13.3.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schalich als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann, Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Pia Saska S*****, geboren am 10. November 1990, in Obsorge ihrer Mutter Ingeborg R*****, über den Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Rekursgericht vom 30. März 2000, GZ 6 R 94/00s-21, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Braunau am Inn vom 12. Jänner 2000, GZ 1 P 40/96f-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Antrag des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Linz, die Mutter gemäß § 22 UVG zur Rückzahlung von für die Zeit vom 1. Juli 1998 bis 30. Juni 1999 zu Unrecht bezogenen Unterhaltsvorschüssen im Betrag von S

28.800 zu verpflichten, abgewiesen wird.

Text

Begründung

Mit Beschluss des Erstgerichtes vom 30. 8. 1999 wurden die der Minderjährigen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG gewährten Unterhaltsvorschüsse von monatlich S 2.400 ab 30. 6. 1998 (rückwirkend) eingestellt, weil die Minderjährige (die wie ihre Mutter und ihr in Österreich wohnhafter außerehelicher Vater die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt) mit ihrer Mutter seit 29. 6. 1998 nicht mehr in Österreich, sondern in Deutschland wohnt; die von § 2 Abs 1 UVG für die Unterhaltsvorschussgewährung normierte Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes im Inland sei damit weggefallen. Über Antrag des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Linz wurde die Mutter mit Beschluss des Erstgerichtes vom 12. 1. 2000 gemäß § 22 UVG zur Rückzahlung der zu Unrecht bezogenen Unterhaltsvorschüsse für die Zeit vom 1. 7. 1998 bis 30. 6. 1999 im Betrage von S 28.800 mit der Begründung verpflichtet, sie habe die ihr gemäß § 21 UVG obliegende Verpflichtung, das Gericht von der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes ins Ausland zu informieren, grob fahrlässig verletzt.

Das von der Mutter angerufene Rekursgericht billigte diese Rechtsansicht des Erstgerichtes und bestätigte daher dessen Entscheidung. Es sprach über Antrag der Mutter gemäß § 14a Abs 1 AußStrG schließlich aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nach § 14 Abs 1 AußStrG zulässig sei. Eine im Sinne dieser Gesetzesstelle erhebliche Rechtsfrage sei, ob die Vorschüsse nach der Übersiedlung nach Deutschland tatsächlich zu Unrecht gewährt worden seien. Zwar hänge nach § 2 Abs 1 UVG der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss (unter anderem) eindeutig von einem gewöhnlichen Aufenthalt des unterhaltsberechtigten Kindes im Inland ab. Ob diese österreichische Gesetzesbestimmung aber mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei, sei noch nicht ausjudiziert.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat bereits in seiner Entscheidung C-85/99 klargelegt, dass eine Leistung nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz eine Familienleistung im Sinne von Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr 118/97 des Rates vom 2. 12. 1996 geänderten und aktualisierten Fassung ist und daher die im Gebiet eines Mitgliedsstaates wohnenden Personen, für die diese Verordnung gilt, gemäß deren Art 3 unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht dieses Mitgliedsstaates vorgesehene Leistung haben. Der EuGH hat dies in seinem Urteil vom 5. 2. 2002, C-255/99 (betreffend das Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofes zu 7 Ob 348/98x, ARD 5070/22/99 = JBl 2000, 49 = EFSlg

90.525) wiederholt und bekräftigt. Weiters hat der EuGH in dieser Entscheidung auch ausgesprochen, dass eine Person, die zumindest einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers im Sinne von Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Buchstabe f Z i der Verordnung Nr 1408/71 in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt. Die Art 73 und 74 dieser Verordnung sind so auszulegen, dass ein mj. Kind auch dann Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG hat, wenn es zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedsstaat wohnt und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung zu erbringenden Mitgliedsstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist.

Damit erweist sich die in § 2 Abs 1 UVG normierte Voraussetzung des gewöhnlichen Inlandsaufenthaltes in Ansehung jener Kinder, die in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft wohnen, als gemeinschaftsrechtswidrig.

Seit 1. 1. 1995 hat das unmittelbar wirkende Gemeinschaftsrecht Vorrang vor entgegenstehenden Gesetzen der Mitgliedsstaaten. Zu diesem - primären - Gemeinschaftsrecht werden auch jene "allgemeinen Rechtsgrundsätze" gezählt, die der EuGH im Wege der Lückenfüllung innerhalb der Verträge erarbeitet hat. Entscheidungen des EuGH kommt für die Gerichte der Mitgliedsstaaten allgemein bindende Wirkung zu (RIS-Justiz RS0109951). Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechtes aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (10 ObS 242/02p, RIS-Justiz RS0109951). Eine Vorabentscheidung des EuGH bindet nicht nur das nationale Vorlagegericht, sondern entfaltet über den Ausgangsrechtsstreit hinaus eine rechtliche Bindungswirkung dahin, dass alle Gerichte der Mitgliedsstaaten die vom EuGH vorgenommene Auslegung zu beachten haben (6 Ob 306/00v, RIS-Justiz RS0111726).

Die betreffende Bestimmung des § 2 Abs 1 UVG ist daher in einem Fall wie dem vorliegenden (nach der Aktenlage ist sowohl die Mutter als auch der Vater der minderjährigen Pia Saskia Arbeitnehmer und ist das Kind gemeinsam mit seiner Mutter von Österreich in einen anderen Mitgliedsstaat, nämlich Deutschland, übersiedelt) nicht anzuwenden. Demnach stellt die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes nach Deutschland keinen Einstellungsgrund nach § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG dar, sodass in diesem Zusammenhang auch eine der Mutter vom Antragsteller vorgeworfene Verletzung der Mitteilungspflicht gemäß § 21 UVG nicht in Betracht kommt (und daher die von den Vorinstanzen im Hinblick auf eine Ersatzpflicht der Mutter gemäß § 22 UVG angestellten Überlegungen dazu, ob die Mutter eine solche Verletzung grob fahrlässig begangen habe, obsolet sind).

In Stattgebung des Revisionsrekurses war daher spruchgemäß zu entscheiden.

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